7. Kapitel

Kruså, Dänemark

Etwas beunruhigte ihn. Peter lag hellwach in seinem Bett. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Sein Gehirn lief auf Hochtouren, wie in einer Endlosschleife, und ließ ihn nicht zum Schlafen kommen. Seit er letzte Woche in den Flensburger Altbau eingestiegen war, hatte er dieses Scheißgefühl. Dabei war er eigentlich nicht paranoid veranlagt. Er war ein Profi, hatte sich mitsamt seiner Beute unbemerkt und ohne Spuren zu hinterlassen aus der Wohnung geschlichen. Trotzdem. Irgendetwas lag in der Luft. Etwas kaum Greifbares. Düsteres.

Er setzte sich halb auf, um die Uhr seines Radioweckers zu sehen. Die roten Ziffern zeigten kurz nach halb sechs. Seine Schicht begann erst um acht. Vielleicht sollte er doch noch einmal versuchen einzuschlafen. Er sank zurück ins Kissen.

Im Zimmer war es warm und stickig, obwohl alle Fenster auf Kipp standen. Vermutlich lag es an der fehlenden Dämmung. Er wohnte über der Garage einer Autowerkstatt in einem kleinen Apartment, das ihm der Inhaber für eine geringe Miete überließ. Fünfundzwanzig schlecht isolierte Quadratmeter, inklusive Kochnische und einem Bad, in dem man sich kaum umdrehen konnte. Doch etwas Größeres konnte er sich nicht leisten.

Peter hatte keinen Schulabschluss. Während seine Mitschüler für die Prüfungen gepaukt hatten, hatte er im Knast gesessen. Vermutlich hätte er den Abschluss ohnehin nicht geschafft. Aber er konnte zupacken und besaß handwerkliches Geschick. Am liebsten hätte er eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker gemacht. An Autos und Motorrädern rumschrauben, das gefiel ihm. Doch mit seinen Vorstrafen nahm ihn keiner. Eine Zeit lang hatte er an einer Tankstelle gejobbt, dann hatte Geld in der Kasse gefehlt. Natürlich hatte man ihn verdächtigt, und er war geflogen. Dabei hatte er keine einzige Krone genommen. Einmal ein Dieb, immer ein Dieb.

Jetzt arbeitete er für seinen Alten. Der zahlte ihm kaum mehr als einen Hungerlohn, und das meiste davon floss in seine Maschine. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als sich auf anderem Weg etwas dazuzuverdienen.

Er war noch immer hellwach. Und er hatte Durst. Einen Moment überlegte er aufzustehen, um sich etwas zu trinken zu holen, stattdessen tastete er auf dem Hocker, der ihm als Nachtisch diente, nach seinem Handy. Es lag nicht an seinem Platz.

Hoffentlich hatte er es gestern nicht im Boxkeller liegen gelassen. In dem Fall hatte es bestimmt jemand geklaut. Der Schuppen hatte erst vor Kurzem im Keller von Haralds Kneipe aufgemacht. Ein Boxring, ein halbes Dutzend Sandsäcke, die an Haken von der Decke baumelten, Hantelbänke und Punchingbälle, an denen LKW -Fahrer und Speditionsleute Schulter an Schulter mit anderen Sportlern trainierten.

Jetzt stand er doch auf. Er fluchte leise, als er mit der linken Ferse gegen das raue Holz einer der Europaletten stieß, die ihm als Bettgestell dienten. In der Innentasche seiner Lederjacke wurde er fündig. Jetzt fiel ihm ein, dass er das Handy gestern ausgeschaltet hatte, nachdem die Nummer des Alten auf dem Display zu sehen gewesen war. Da hatte er bereits in der Kneipe gesessen und ein Bier gezischt.

Er stellte das Handy an. Sechs Anrufe in Abwesenheit. Augenblicklich kehrte seine Unruhe zurück. Scheiße. Er hatte es ja gewusst. Irgendwas lag in der Luft. Er hörte seine Mailbox ab.

Flensburg, Deutschland

Vibeke erreichte die Polizeiinspektion um kurz vor acht. Ihr blieb eine Stunde, um das schriftliche Protokoll von Tom Ahrendts Zeugenaussage so weit vorzubereiten, dass es nur noch stellenweise ergänzt werden musste, sobald der Fischbudenbesitzer erschien.

Am Gebäudeeingang traf sie mit Kriminalhauptkommissar Klaus Holtkötter zusammen. Ihr Stellvertreter war ein schwergewichtiger Endfünfziger mit Bauchansatz, der seine verbliebenen aschgrauen Haare quer über seine Halbglatze gekämmt hatte.

»Guten Morgen, Herr Holtkötter«, begrüßte Vibeke ihn.

Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und hastete dann die Treppe hoch, ohne ihren Gruß zu erwidern.

Irritiert sah Vibeke der korpulenten Gestalt hinterher. Schon bei ihrer ersten Begegnung war ihr der Beamte sehr zugeknöpft erschienen, doch sie hatte es der wortkargen Art vieler Norddeutscher zugeschrieben und sich nicht weiter Gedanken darüber gemacht. Sein Verhalten gerade war jedoch schlichtweg unhöflich gewesen.

Sie nahm die Treppe bis in den dritten Stock, wo sich die Räume der Mordkommission befanden, steuerte zunächst die Kaffeeküche an, überlegte es sich dann anders und betrat kurz entschlossen das Büro ihrer Mitarbeiter.

Zwei große Schreibtische, die sich im Block gegenüberstanden, mehrere bestückte Aktenregale, ein Sideboard, über dem ein Stadtplan von Flensburg hing, daneben eine Yuccapalme mit hängenden Blättern. Der gleiche ausgetretene Teppich wie in ihrem Büro.

»Guten Morgen, die Herren.«

Kriminalkommissar Michael Wagner, ein langer dünner Schlaks mit blondem Backenbart, hob den Blick von ein paar Unterlagen.

»Moin, Frau Boisen.« Eine leichte Röte überzog sein Gesicht.

Klaus Holtkötter, der am Schreibtisch gegenüber gerade seinen Computer startete, machte sich noch nicht einmal die Mühe, sich zu ihr umzudrehen.

»Alles in Ordnung hier bei Ihnen?«, fragte Vibeke. »Herr Holtkötter?«

Endlich wandte sich der Ermittler um. »Alles wie gehabt. Wagner und ich kümmern uns um die Nachbereitung des Falls Grasberger, so wie besprochen.« Er strich sich über das quer liegende Haar. »Ich mache das schließlich nicht zum ersten Mal. Oder sollen wir Ihnen auch Bericht erstatten, wenn es nichts zu berichten gibt?« Sein herablassender Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was er von seiner neuen Vorgesetzten hielt.

Vibeke ließ sich nicht provozieren. »Ein einfaches Ja hätte ausgereicht.«

Wortlos drehte Kriminalhauptkommissar Holtkötter ihr den Rücken zu und widmete sich wieder seinem Computer.

Vibeke hätte ihren Stellvertreter am liebsten sofort in ihr Büro zitiert, doch in Anwesenheit des jungen Kollegen käme dies einem Affront gleich, und die Situation würde sich unnötig zuspitzen.

Der Mann hatte offensichtlich ein Problem mit ihr. Oder mit weiblichen Führungskräften. Sie würde einen besseren Zeitpunkt finden, um mit Holtkötter ein klärendes Gespräch zu führen.

»Ich bin die nächsten zwei Stunden in meinem Büro«, informierte Vibeke ihre Mitarbeiter. »Anschließend fahre ich nach Padborg. Sie beide können mich jederzeit auf dem Handy erreichen, falls Sie mich brauchen sollten.«

»In Ordnung.« Michael Wagner lächelte unsicher.

Sie erwiderte sein Lächeln und verließ das Büro. Vor der geschlossenen Tür atmete sie tief durch.

Personalführung erforderte Diplomatie, Durchsetzungsvermögen und Fingerspitzengefühl. Bisher war Vibeke davon ausgegangen, dass sie alle drei Eigenschaften ausreichend besaß. Ihr Bauchgefühl sagte ihr jedoch, dass dies in Bezug auf Klaus Holtkötter nicht ausreichen würde. Für ihn benötigte sie eine weitaus wichtigere Fähigkeit: einen langen Atem.

Padborg, Dänemark

»Mein Name ist Eva-Karin Holm. Ich leite die Mordkommission in Esbjerg und bin damit die Verantwortliche für die Region Südjütland.« Die Vizepolizeiinspektorin war eine kleine, drahtige Person mit strengem Gesichtsausdruck und blonder Kurzhaarfrisur. Ihre Hände steckten in den Taschen ihres dunklen Hosenanzugs.

Vibeke, die erst vor wenigen Minuten in Padborg angekommen war, umklammerte ihr Wasserglas. Rasmus’ Chefin erinnerte sie an ihre Grundschullehrerin und löste das befremdliche Gefühl in ihr aus, den Rücken durchstrecken zu müssen.

»Sind wir jetzt vollzählig?« Eva-Karin Holm klang ungeduldig.

»Luís fehlt noch«, sagte Pernille.

Im gleichen Moment ging die Tür auf, und der Portugiese rollte herein. An den Schiebegriffen seines Rollstuhls hing ein mit Klettverschlüssen befestigter Gitarrenkoffer.

Sören Molin sprang auf, um ihm mit dem Instrument zu helfen. »Hey, du bist Musiker?«

»Ich spiele in einer Band«, sagte Luís. »Aber kein Behindertending.«

Sören grinste. »Das würde bei dir auch keiner annehmen. Vielleicht können wir bei Gelegenheit …«

Eva-Karin Holm klatschte in die Hände. »Entschuldigung, dass ich euch an dieser Stelle unterbreche, aber wir haben eine Haufen Arbeit vor uns, und ich habe nur begrenzt Zeit.« Sie ging zum Whiteboard und befestigte ein Foto der siebzehnjährigen Liva Jørgensen daran. »Der Großteil der Akten liegt in Kopenhagen, der Rest im Landesarchiv Viborg. Ihr müsst sie also von dort anfordern, sofern das noch nicht geschehen ist.«

»Die Akten sind auf dem Weg zu uns«, sagte Pernille.

»Gut.« Eva-Karin hielt ein Notizbuch hoch. »Ich habe euch meine alten Aufzeichnungen mitgebracht. Darin findet ihr Notizen zu den durchgeführten Befragungen. Es gab damals einen Verdächtigen. Alexander Troelsen. Er war der Freund von Liva Jørgensen. Wenige Tage vor ihrem Verschwinden ist es zwischen den beiden bei einer Party zum Sankt-Hans-Fest zu einem lautstarken Streit gekommen. Mehrere Zeugen haben davon berichtet.«

»Worum ging es dabei?«, fragte Vibeke, die selbst schon einmal an einem Sankt-Hans-Fest teilgenommen hatte. Am 23. Juni, dem Vorabend des Johannistages, feierten die Dänen überall im Land die Mittsommernacht mit einem großen Feuer, das symbolisch die bösen Kräfte fernhalten sollte, und einem rauschenden Fest.

»Laut Alexander Troelsen hat ihm seine Freundin eine Szene gemacht«, erwiderte die Vizepolizeiinspektorin. »Aus Eifersucht. Angeblich völlig grundlos. Er schrieb ihr Verhalten dem Alkohol zu, den sie offenbar an dem Abend sehr nachhaltig konsumiert hatte. Am nächsten Tag haben er und Liva sich getrennt.«

Rasmus Nyborg räusperte sich. »Sie sich von ihm, oder war es umgekehrt?«

»Es war wohl einvernehmlich.« Eva-Karins Mund zuckte. »Sagt er.«

»Warum wurde der Tatverdacht gegen den Mann fallen gelassen?«

Die Vizepolizeiinspektorin seufzte. »Weil er ein Alibi hatte. Und einen guten Anwalt.«

Rasmus schaute seine Chefin interessiert an. »Aber du hast ihm das nicht abgekauft?«

»Kopenhagen hat mir den Fall aus der Hand genommen, ich konnte nichts weiter tun. Alexander Troelsen war nichts nachzuweisen.«

Vibeke sah in die Runde. »Ich will jetzt nicht querschießen, aber wir sind uns wohl einig, dass die Ermittlungen im Fall Liva Jørgensen damals nicht optimal verlaufen sind. So wie ich das sehe, hat man sich sehr früh auf Aksel Gram eingeschossen, obwohl der erst ein knappes Jahr nach ihrem Verschwinden überhaupt gefasst wurde. Wir sollten aufpassen, dass uns der Fehler kein zweites Mal unterläuft, und uns nicht vorschnell darauf versteifen, dass der Mord an Liva Jørgensen unmittelbar mit ihrem damaligen Verschwinden in Zusammenhang steht. Möglicherweise hat beides rein gar nichts miteinander zu tun.« Sie erhob sich von ihrem Platz, stellte sich neben das Whiteboard und zeigte auf das Foto der Toten. »Wir wissen so gut wie nichts über diese Frau. Wo hat sie die letzten Jahre gelebt? Wie hat sie ihr Geld verdient? Gibt es vielleicht irgendwelche offenen Rechnungen?« Sie setzte sich wieder an ihren Platz.

Eva-Karin Holm legte nachdenklich zwei Finger ans Kinn. »Du hast recht, wir dürfen das keinesfalls aus den Augen verlieren.«

»Gut, dann würde ich vorschlagen, dass ich Livas Spur in Flensburg weiterverfolge.« Vibeke wandte sich an Pernille. »Haben wir schon die Adresse von dieser spanischen Austauschstudentin, die mit ihr zusammen in der WG gewohnt hat? Wie heißt sie noch gleich?«

»Maria. Tom Ahrendt hat uns ihre Kontaktdaten geschickt, aber ich konnte sie bisher nicht erreichen.« Pernille wickelte ihren Pferdeschwanz um den Finger. »Deshalb habe ich gestern mit ihren Eltern telefoniert. Maria ist in den Pyrenäen zum Wandern und hat keinen Handyempfang. Ich habe darum gebeten, dass sie uns sofort anruft, sobald sie sich zu Hause gemeldet hat.«

Rasmus klopfte mit seinem Stift auf die Tischplatte. »Liva Jørgensen wurde nur wenige Kilometer von ihrem früheren Zuhause ermordet. Das kann kein Zufall sein.« Er langte nach einem DIN -A4-Blatt. »Laut Bericht der Rechtsmedizin liegt der Todeszeitraum zwischen zwanzig und null Uhr und lässt sich aufgrund der äußeren Einflüsse nicht näher eingrenzen. Der Schuss in Liva Jørgensens Brustraum hat den Herzmuskel getroffen und zum Tod geführt. Der Kopfschuss wurde als Zweites abgegeben. Interessant ist, dass der Täter Neun-Millimeter-Subsonic-Geschosse benutzt hat. Unterschallpatronen werden speziell für Schalldämpfer eingesetzt und häufig von Polizei und Militär verwendet.«

»Sportschützen und Jäger gebrauchen ebenfalls Subsonics«, warf Vibeke ein. »Wobei Letztere dabei eher die Variante für Langwaffen bevorzugen.«

Rasmus nickte.

»Ich setze mich mit der Waffentechnik in Verbindung«, kam es von Jens Greve, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. »Soweit ich weiß, sind die seit gestern an der Tatwaffenbestimmung. Ich habe an einigen Ballistikschulungen beim LKA teilgenommen und kenne mich aus, vielleicht kann ich den dänischen Kollegen ein wenig unter die Arme greifen.«

Sören rollte mit den Augen.

»Bei dem Opfer wurden bisher keinerlei Anzeichen für einen Drogen- oder Medikamentenmissbrauch gefunden«, fuhr Rasmus mit dem Bericht der Rechtsmedizin fort. »Bis zur endgültigen Gewissheit müssen wir den toxikologischen Bericht abwarten, aber das kann dauern.« Er legte das DIN -A4-Blatt beiseite. »Ich schlage vor, dass Luís den Modus Operandi bei Interpol, Europol und sämtlichen anderen Koordinationseinheiten abfragt. Möglicherweise hat man dort Namen für uns. Ich selbst kümmere mich um Alexander Troelsen.« Er sah seine Chefin an. »Wo finde ich den?«

Eva-Karin Holm reichte ihm einen Zettel. »Er ist Anwalt und lebt in Aarhus.«

Rasmus runzelte die Stirn.

Die Vizepolizeiinspektorin hielt ihr Notizbuch in die Höhe. »Wem darf ich das geben?«

»Mir.« Pernille streckte die Hand aus.

Eva-Karin reichte es ihr und wandte sich dann an Rasmus. »Du hältst mich auf dem Laufenden.« Sie nickte kurz in die Runde und verschwand.

»Die hat Haare auf den Zähnen, oder?«, kam es von Jens Greve, sobald die Tür geschlossen war. »Ich hatte auch mal so eine Chefin, das war zu meiner Zeit in Bad Bramstedt. Damals …«

Rasmus schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Man kann sich die Menschen, mit denen man zusammenarbeitet, nicht immer aussuchen.« Dabei sah er dem deutschen Kollegen für einen Moment direkt in die Augen. Dann hob er die Hand und verabschiedete sich. »Ich bin dann mal in Aarhus. Hej, hej.«

Vibeke sah ihm hinterher, wie er den Raum verließ. Rasmus Nyborg begann ihr langsam zu gefallen.

Aarhus, Dänemark

Die Wirtschaftskanzlei Beck-Nielsen lag mitten in den Aarhuser Docklands, in der zwölften Etage eines modernen Turmbaus mit Glasfronten und nur einen Katzensprung von der Innenstadt entfernt.

Aarhus war eine der ältesten Städte Nordeuropas, von den Wikingern um 900 gegründet, und lag im Osten Jütlands, direkt am Meer. Mit seinen rund dreihunderttausend Einwohnern war es zudem die zweitgrößte Stadt Dänemarks. Eine Studenten- und Hafenregion mit einer Vielzahl an Industrien, die von Brauereien über Textil- und Möbeldesign bis hin zu Hightechfirmen reichte. Idyllisch gelegen, pulsierend und lässig, puristisch und farbenfroh. Ein Ort der Gegensätze. Historisch wertvolle Bauwerke und moderne Architektur prägten das Stadtbild. Die Einwohnerzahl stieg von Jahr zu Jahr.

Von seinem Fensterplatz bot sich Rasmus eine spektakuläre Aussicht über die Bucht und den Hafen von Aarhus. Mittendrin lag das architektonische Vorzeigeobjekt Isbjerget, ein futuristischer Wohnkomplex mit schräg aufsteigenden Dächern, dessen Gestaltung an schwimmende Eisberge erinnerte.

Schöne Aussicht, horrende Mieten. Das hatte Camilla gesagt, als er vorgeschlagen hatte, sich die Wohnungen anzusehen. Er schob den Gedanken beiseite und wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu.

Alexander Troelsen war um die dreißig, groß und dunkelhaarig, hatte ein selbstsicheres Auftreten und ein charmantes Lächeln. Er trug einen dunkelblauen, schmal geschnittenen Anzug, der vermutlich mehr kostete, als Rasmus im Monat verdiente.

Der Anwalt hatte verhalten reagiert, als er unangemeldet bei ihm im Büro aufgetaucht war. Vom Tod seiner ehemaligen Freundin hatte er bereits aus den Medien erfahren.

Nun saß Alexander Troelsen mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem der Sessel in der Besucherecke seines Büros und sah den Polizisten aus seinen dunklen Augen aufmerksam an.

»Woher kanntest du Liva Jørgensen?«, fragte Rasmus.

»Meine Familie hat ein Sommerhaus in Kollund. Seit ich denken kann, verbringen wir dort unsere Ferien. Hin und wieder auch mal ein Wochenende oder wenn eine Familienfeier ansteht. Ich kannte Liva schon ewig, ihre Familie wohnt ja ganz in der Nähe. Als Kinder haben wir zusammen am Strand gespielt.«

»Und wann seid ihr ein Paar geworden?«

»Das war erst viel später. Liva war für mich immer wie eine kleine Schwester. Zusammengekommen sind wir kurz nach meinem zwanzigsten Geburtstag. Ich hatte ihn im Sommerhaus gefeiert und Liva dazu eingeladen.«

Er lächelte versonnen, und es schien, als hinge er seinen Erinnerungen nach.

Zeit, die Idylle zu beenden, dachte Rasmus und beugte sich vor. »Worum ging es damals bei eurem Streit während des Sankt-Hans-Fests, kurz vor Livas Verschwinden?«

Alexander Troelsens Miene verschloss sich. »Sie war eifersüchtig. Was völliger Quatsch war.«

»Kannst du das vielleicht etwas genauer ausführen?«

Der Anwalt strich seine Krawatte glatt. »Ich steckte damals mitten im Studium und hatte mit einer Kommilitonin eine Lerngruppe gegründet. Natürlich haben wir deshalb viel Zeit miteinander verbracht. Liva hat das von Anfang an nicht gepasst. An dem Abend hatte sie bereits einiges getrunken, als sie wieder mit dem Thema anfing. Sie verlangte, dass ich die Lerngruppe auflöse. Ich habe das natürlich abgelehnt, und dann ist der Streit ausgeartet. Liva ist ziemlich ausgerastet, hat laut herumgeschrien. Das ist den anderen Gästen natürlich nicht verborgen geblieben.«

»Kam es dabei zu Handgreiflichkeiten?«

»Selbstverständlich nicht«, sagte Alexander Troelsen erbost. »Ich würde niemals eine Frau schlagen.«

»Und danach habt ihr euch getrennt?«

Er nickte. »Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir nicht zusammenpassen.« An seiner Schläfe pochte eine Ader.

»Wo warst du an dem Vormittag, an dem Liva verschwand?«

»Ich saß in einer Vorlesung. Meine Kommilitonen und mein Professor haben das damals bezeugt.«

»Und letzten Donnerstagabend?«

»Da wurde Liva ermordet, oder?«

Rasmus schwieg.

»Ich habe mich mit einem Mandanten in einem Restaurant getroffen. Hier in Aarhus.«

»Wie lange dauerte das Treffen?«

»Etwa bis zweiundzwanzig Uhr. Meine Assistentin kann dir den Bewirtungsbeleg heraussuchen, wenn du möchtest.«

Rasmus nickte. »Und danach?«

»Bin ich nach Hause gefahren. In meine Wohnung.«

»Kann das jemand bezeugen?«

Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Ich lebe allein.«

Rasmus erhob sich. »Ich brauche den Namen des Restaurants sowie den Namen und die Adresse deines Mandanten.« Er legte seine Karte auf den Tisch.

Troelsen griff danach, langte nach dem Telefon und gab seiner Assistentin die Anweisungen durch.

»Warst du eigentlich überrascht, dass Liva noch am Leben war?«, fragte Rasmus, sobald der Anwalt das Gespräch beendet hatte. »Oder wusstet du davon?«

»Natürlich war ich überrascht. Woher hätte ich ahnen können, dass Liva noch lebte? Sie hat sich nie bei mir gemeldet.« Er senkte den Blick. »Ich habe um sie getrauert. Jahrelang. Nur weil wir uns getrennt hatten, ließ mich die ganze Sache nicht kalt. Liva war Teil meines Lebens.«

»Was glaubst du, warum sie nach all den Jahren zurückgekommen ist?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht wegen Agnes. Jetzt, wo sie so krank ist.«

»Dann muss Liva aber von der Krankheit ihrer Mutter gewusst haben. Von wem?«

»Woher soll ich das wissen?« Alexander Troelsen klang gereizt.

»Was ist mit dem Vater?«

»Leif? Das Verhältnis zwischen ihm und Liva war nie besonders gut.« Er sah auf seine Uhr. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber wenn du noch mehr Fragen hast, wäre es besser, wir vereinbaren einen Termin. Ich erwartete in zehn Minuten einen Mandanten und muss mich noch vorbereiten.«

Rasmus erhob sich. »Von mir aus war es das ohnehin fürs Erste. Wobei, eins wüsste ich gerne noch.«

Der Anwalt hob die Brauen.

»Das Sommerhaus deiner Familie. Wo genau liegt das?«

»Am Fjordvejen, an der Küstenstraße in Kollund. Am Hügel oberhalb vom Strand.«

Rasmus beobachtete ihn, wie er an seiner Krawatte herumfingerte. »In Höhe der Landzunge?«

Alexander Troelsen nickte.

Aarhus, Dänemark

Es war kurz nach sieben, als Rasmus in Frederiksbjerg die Stufen zu seiner Wohnung hinaufstieg. Da er schon mal in der Stadt war, wollte er die Gelegenheit nutzen, um nach dem Rechten zu sehen. Zuvor hatte er mit Troelsens Mandanten sowie dem Restaurantbesitzer gesprochen. Beide hatten die Angaben des Anwalts bestätigt. Trotzdem war dessen Alibi nicht wasserdicht. Die Fahrtzeit von Aarhus nach Kollund betrug knapp zwei Stunden. Es wäre zeitlich eng gewesen, aber durchaus möglich, dass Alexander Troelsen nach seinem Geschäftstermin in den Süden Jütlands gefahren wäre und Liva dort ermordet hätte. Vorausgesetzt, er wusste, dass sie sich zu dem Zeitpunkt am Strand aufhielt. War es möglich, dass die beiden sich dort verabredet hatten? Vielleicht, um an alte Zeiten anzuknüpfen? Die erste Liebe vergaß man bekanntlich nie. Hatte also Liva Kontakt mit Alexander aufgenommen? Aber warum hätte dieser seine Ex-Freundin ermorden sollen? Wo lag das Motiv?

Rasmus erreichte seine Wohnung im Obergeschoss. Neben dem Eingang hing noch immer das Schild, dass hier Rasmus, Camilla und Anton wohnten.

Es fiel ihm unendlich schwer, den Schlüssel im Schloss umzudrehen. Hinter der Wohnungstür türmte sich die Post, die seit Wochen durch den Briefschlitz geschoben wurde. Er musste unbedingt daran denken, einen Nachsendeantrag zu stellen. Aber wohin? Zum Campingplatz? Er sollte mit dem Betreiber dort reden, ob das möglich war.

Rasmus bückte sich, sammelte Umschläge und Prospekte zusammen und trug den Stapel zu der Anrichte im Flur. Der Anrufbeantworter blinkte. Zwei Nachrichten von Camilla. Er löschte sie, ohne sie abzuhören.

Die vertraute Umgebung ließ ihn schlucken. Hellgraue Wände, die er selbst gestrichen hatte, lasierte Eichendielen, auf denen seine Füße Tausende Male hin- und hergelaufen waren. Die Bilder hingen an ihren Plätzen, ein Großteil der Möbel, eine Mischung aus modernen Designklassikern und geerbten Stücken, stand unverändert. Am Garderobenständer baumelte eine Jeansjacke in Kindergröße. Keiner von ihnen hatte es fertiggebracht, sie abzunehmen.

Er wandte den Blick ab, ging schnurstracks in die Küche. Die Pflanze auf der Fensterbank ließ traurig die Blätter hängen. Daneben stand ein Becher mit eingetrocknetem Kaffee.

Rasmus öffnete den Kühlschrank. Sofort schlug ihm der Gestank saurer Milch entgegen. Er zog die geöffnete Packung heraus und goss die Reste in den Ausguss. Das Ablauflaufdatum lag zweieinhalb Monate zurück. So lange war er offensichtlich nicht mehr in der Wohnung gewesen.

An einem der Küchenschränke erinnerte ihn eine verblichene Kinderzeichnung an all das, was er verloren hatte. Ein halbes Jahr hatte ausgereicht, um einen glücklichen Familienvater in einen einsamen Menschen zu verwandeln. Noch dazu mit einem Ermittlerjob in der Provinz.

Er setzte sich an den Küchentisch, zog ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Hemdtasche und steckte sich eine Zigarette an. Seit Camilla ihn verlassen hatte, rauchte er zwei Packungen am Tag. Er wusste, er sollte das lieber lassen. Sein Bulli stank, seine Fingernägel wurden langsam gelb vom vielen Nikotin, und seine Lunge rasselte beim Laufen mit jedem Schritt.

Trotzdem, er brauchte das Zeug. Es beruhigte ihn in den Momenten, in denen er nicht lief, half dabei, seine dunklen Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Damit sie ihn nicht auffraßen.

Er stieß einen Rauchkringel hervor und beobachtete, wie er in Richtung Decke stieg. Sein Blick erfasste einen dunklen Fleck. Er stammte von Anton, als er versucht hatte, einen Pfannkuchen wie die Fernsehköche in der Pfanne zu wenden. Der Pfannkuchen war erst an der Decke und anschließend auf dem Fußboden gelandet.

Rasmus stand auf, hielt die Zigarette in der Spüle unter den Wasserstrahl und stopfte die Kippe anschließend in den Müll.

Zurück im Flur, verweilte er einen Moment unentschlossen an der Tür mit dem Star-Wars -Poster. Dann verließ er die Wohnung.

Kruså, Dänemark

Sie hatte Livas Zimmer unverändert gelassen. Agnes senkte ihr Gesicht in das Nachthemd, das Liva vor ihrem Verschwinden getragen hatte, hoffte auf eine winzige Nuance des Dufts, der ihre Tochter umgeben hatte. Natürlich war nach all den Jahren nichts mehr davon übrig.

Sie legte das Kleidungsstück sorgfältig wieder zusammen, zurück an seinen Platz unter das Kopfkissen. Anschließend zog sie die Überdecke glatt und rückte den Chanel -Bildband auf dem Nachtisch gerade.

Liva hatte davon geträumt, Modedesign in Kopenhagen zu studieren, doch Leif hatte ihr die Flausen, wie er es nannte, aus dem Kopf getrieben. Sie sollte in der Spedition arbeiten, so wie alle in der Familie, und dabei helfen, den Laden am Laufen zu halten.

Die Zeiten für Transportunternehmen waren heute wie damals denkbar schlecht, das Auftragsvolumen für kleine Firmen schrumpfte von Jahr zu Jahr. Die Einnahmen sanken, während die Preise für Kraftstoffe, Löhne und Versicherungen stiegen. Dazu kamen Schäden an den Fahrzeugen und seit ein paar Jahren das Problem mit den Flüchtlingen, die versuchten, als blinde Passagiere auf Lastwagen oder in Containern in andere Länder zu gelangen.

Jede Arbeitskraft aus der Familie wurde zum Anpacken gebraucht. Liva hatte bereits als Teenager nach der Schule im Büro ausgeholfen. Frachtpapiere gestempelt, Formulare ausgefüllt und Rechnungen verschickt. Ohne Bezahlung.

Agnes wünschte, sie hätte sich damals vor ihre Tochter gestellt, sie dabei unterstützt, ihren Traum zu leben, und Leif widersprochen. Nur ein einziges Mal. Doch sie hatte es nicht getan. Jetzt war Liva tot. All der Schmerz der vergangenen Jahre kam auf einen Schlag zurück, legte sich wie eine Panzerfaust um ihre Brust und drohte, sie zu ersticken.

Hätte sie doch den Mut, ihr Leben selbst zu beenden, bevor der Krebs es tat. Ein Glioblastom im hinteren Frontallappen. Nicht operabel. Die Ärzte konnten ihren Tod mit einer Kombination aus Chemo- und Strahlentherapie nur noch hinauszögern, die Schmerzen mit Medikamenten erträglich machen.

Doch vielleicht war es letztlich gut, dass ihr die nötige Courage fehlte, allem ein Ende zu setzen, schließlich brauchte sie die verbleibende Zeit. Es galt, das nachzuholen, was sie bei Liva versäumt hatte: einen anderen Menschen zu schützen. Solange sie konnte.