22. Kapitel
Padborg, Dänemark
Agnes stieg schwerfällig die Stufen hoch. Zwischendurch blieb sie immer wieder stehen, um zu verschnaufen. Ihre Knie zitterten, und sie musste sich am Geländer festhalten.
Im Krankenhaus hatte sie sich angezogen, ihre Medikamente genommen und sich dann vor der Tür in ein bereitstehendes Taxi gesetzt. Der Fahrer hatte ihr über den Rückspiegel immer wieder besorgte Blicke zugeworfen, doch Agnes hatte einfach weggesehen. Sie wusste, dass sie es schaffen würde. So schnell starb man nicht.
Endlich erreichte sie den obersten Treppenabsatz. Schwer atmend blieb sie stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Agnes?« Bent Villardsen kam aus einem der Büros und starrte sie mit seinen Wieselaugen ungläubig an. »Was machst du hier? Solltest du nicht im Krankenhaus liegen?«
»Ich wurde entlassen«, flunkerte Agnes.
»Deshalb solltest du trotzdem nicht hier sein.« Ihr Mitarbeiter ergriff ihren Arm.
Agnes wischte seine Hand beiseite. »Ich habe einen Tumor im Kopf, aber ich bin kein Pflegefall. Zumindest noch nicht.« Sie ging die wenigen Schritte in ihr Büro und sah sich um. »Was ist denn hier passiert?« Ihr Blick wanderte über die leeren Aktenregale.
»Die Polizei war mit einem Durchsuchungsbeschluss da«, sagte Bent, der ihr gefolgt war. »Sie haben alles mitgenommen. Hat Leif dir nichts davon erzählt?« Er fasste sich an die Stirn. »Nein, natürlich hat er das nicht.«
Agnes hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, ging zum Wandtresor und gab die Zahlenkombination in das Tastenfeld ein. Dabei verfluchte sie den schwarzen Fleck vor ihrem linken Auge, der ihr weiterhin die Sicht erschwerte. Zuletzt drückte sie die Raute-Taste, und die Tür glitt mit einem Summen auf. Der Tresor war leer.
Bent blickte ihr über die Schulter. »Ich sagte doch, die haben alles mitgenommen. Ruh dich ein wenig aus, ich bin gleich zurück.« Er eilte aus dem Raum.
Agnes ließ sich auf einen Stuhl sinken, kämpfte gegen die aufkommende Verzweiflung an. Ihr Plan war gescheitert. Sie hatte sich zu spät entschieden.
Ihr Mitarbeiter kam mit einem Glas Wasser in der Hand zurück ins Büro und stellte es vor Agnes auf den Tisch. »Hier, trink das. Du musst wieder zu Kräften kommen.« Sein Blick glitt zur offen stehenden Tresortür. »Hast du etwas Bestimmtes gesucht?«
Sie schwieg.
»Es tut mir sehr leid, das mit Peter.« Bent Villardsen sah sie unsicher an. »Er war ein guter Arbeiter, hat immer mit angepackt.«
Agnes griff nach dem Wasserglas und trank ein paar Schlucke. »Gib dir keine Mühe, Bent. Ich weiß, dass du Peter nicht leiden konntest.«
Ihr Vorarbeiter betrachtete scheinbar interessiert seine Fußspitzen.
Sie schloss die Augen. Vorbei, dachte Agnes. Jetzt war alles vorbei. Sie konnte ebenso gut zurück ins Krankenhaus fahren, sich dort ins Bett legen und darauf warten, dass sie starb.
Bent räusperte sich. »Du hast Leif übrigens gerade verpasst. Er ist weggefahren, um etwas zu erledigen.«
Agnes schlug die Augen auf. »Was hat er vor?«
Ihr Mitarbeiter senkte erneut den Blick.
»Bent!«
Agnes atmete tief durch. Sie hatte sich geduckt. Ihr Leben lang. Doch damit war jetzt Schluss.
»Kannst du mich zu ihm bringen?«
Bent Villardsen nickte.
Padborg, Dänemark
Rasmus sog an der Zigarette, inhalierte den Rauch tief in seine Lunge und hustete. Scheiße. Er sollte das langsam wirklich lassen. Er lehnte an seinem VW -Bus auf dem Parkplatz vor dem Gemeinsamen Zentrum.
Die Wolken hingen regenschwer am Himmel. Nicht mehr lange, und es würde wie aus Kübeln schütten. Ein Streifenwagen fuhr gerade auf das Gelände und parkte direkt neben ihm. Die Uniformierten stiegen aus und grüßten, ehe sie ins Gebäude gingen.
Agnes und Leif Jørgensen waren wie vom Erdboden verschluckt. Und mit ihnen Bent Villardsen. Nachdem Rasmus und seine Kollegin im Wohnhaus der Familie niemanden angetroffen hatten, waren sie zur Spedition gefahren, doch auch dort gab es keine Spur von den Eheleuten. Der Spediteur war gegen Mittag noch von seinen Mitarbeitern im Lager gesehen worden, genau wie sein Vorarbeiter. Dann waren beide offenbar weggefahren, ohne jemandem Bescheid zu geben.
Kein Wunder, dass der Laden vor die Hunde geht, dachte Rasmus, wenn dort jeder tat, was er wollte. Er hatte eine interne Fahndung nach den Jørgensens veranlasst. Jeder Streifenwagen und jeder Grenzbeamte in Südjütland hatte ihre Personendaten erhalten.
Er nahm einen weiteren Zug seiner Zigarette und dachte über John Nissen nach. Schon ein komischer Zufall, dass Leifs ehemaliger Zellengenosse kurz nach Liva ebenfalls von der Bildfläche verschwunden war. Wenn es sich überhaupt um einen Zufall handelte. Möglicherweise stimmte nicht, was Leif Jørgensen den Ermittlern von der Vermisstenstelle erzählt hatte. Dass es keinen Kontakt mehr zwischen den beiden Männern gab. Vielleicht wäre es interessant zu erfahren, aus welchen Gründen John Nissen im Gefängnis gesessen hatte.
Er griff nach seinem Handy und wählte Pernilles Nummer. Genauso gut hätte er ins Büro der Sondereinheit marschieren können, aber er wollte lieber noch eine Weile für sich sein. Um in Ruhe nachzudenken und die Zigarette zu Ende zu rauchen.
Pernille bat ihn, einen Moment zu warten, da die Unterlagen gerade erst elektronisch eingetroffen waren. Wenige Minuten später bekam er seine Antwort.
John Nissen hatte wegen Drogenhandels eingesessen. Er war keiner der üblichen Kleindealer, die ihre Päckchen an Schulen oder Diskotheken für ein paar Kronen an Jugendliche vertickten, sondern ein Zwischenhändler derjenigen, die dieses schmutzige Geschäft im großen Stil betrieben. Mittlere Ebene der Drogenhandelspyramide.
Eine interessante Information, auch wenn sie Rasmus’ Blut sofort in Wallung brachte.
In seiner Zeit in Kopenhagen hatte er als verdeckter Ermittler mit einem Drogenring zu tun gehabt. Er wusste, wie diese Schwerverbrecher tickten. Denjenigen, die in den oberen Ebenen die Fäden zogen, war kaum etwas nachzuweisen. Solche Leute waren Abschaum. Ihnen ging es nur um den Profit, egal was die Substanzen mit dem Leben anderer Menschen anrichteten. Es war ihnen völlig gleichgültig, ob dabei jemand vor die Hunde ging, an den Drogen oder deren Folgen starb. So wie Anton.
Rasmus verbot sich jeden weiteren Gedanken. Er wusste, wozu das führte. Beim letzten Mal hatte es ihm eine Suspendierung und einen Gerichtsprozess eingebracht.
Sein Handy klingelte. Es war Sören.
»Sag mal, wo steckst du eigentlich?«
»Hier unten.«
Im ersten Stock des Gebäudes ging ein Fenster auf, und die hünenhafte Gestalt seines Kollegen erschien.
Sören hob die Hand. »Warum kommst du nicht einfach hoch?«
»Gleich. Warum rufst du mich an?«
»Eine Mitarbeiterin der Spedition hat sich gemeldet. Sie war wohl vorhin in der Pause, als ihr dort wart. Die Frau hat gesehen, wie Agnes Jørgensen mit dem Taxi zur Spedition gekommen und kurz darauf mit Bent Villardsen wieder weggefahren ist. Ich habe das Kennzeichen von seinem Auto an die Fahndung weitergeleitet.«
Rasmus nickte. »Gibst du mir kurz Pernille?«
»Sie telefoniert gerade.«
»Dann sag ihr bitte, sie soll sich mit den ukrainischen Kollegen in Kiew in Verbindung setzen und ihnen die Vermisstendaten von John Nissen durchgeben.«
»Warum?« Sören klang verwundert.
»Mach es einfach.« Er legte auf.
Sein Kollege schloss kopfschüttelnd das Fenster und verschwand im Inneren des Gebäudes.
Rasmus starrte nachdenklich auf das Handy in seiner Hand. Agnes Jørgensen erfuhr vom Tod ihres Sohnes, und anstatt völlig zusammenzubrechen, setzte sie sich in ein Taxi und ließ sich zur Spedition fahren. Was hatte die Frau dort gewollt? Eine Konfrontation mit ihrem Mann? Machte sie Leif für den Tod ihrer Kinder verantwortlich? Wozu war ein Mensch fähig, der nichts mehr zu verlieren hatte?
Die Waffe, schoss es Rasmus in den Sinn. Agnes wusste von der Pistole im Tresor. Nur deshalb war sie in der Spedition gewesen. Um die Waffe zu holen und den Mörder ihrer Kinder umzubringen. Sie kannte den Täter. Oder zumindest ahnte sie, wer es gewesen war. Wen hatte sie unter Verdacht?
Rasmus nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, schnippte sie anschließend auf den Boden und trat sie mit dem Fuß aus. Sein Handy klingelte erneut, und auf dem Display erschien die Nummer von Camilla. Einen Moment war er versucht, das Gespräch wegzudrücken, dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen den Kotflügel des VW -Busses und nahm den Anruf entgegen.
»Hej, Rasmus. Wie geht es dir?« Camillas Stimme klang ruhig und sanft.
Ganz anders als die letzten Male, bei denen sie miteinander gesprochen hatten, dachte Rasmus. Vermutlich lag das an der Schwangerschaft.
»Hej!« Er bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Sören das Fenster im ersten Stock wieder öffnete und wilde Handzeichen gab.
»Ich muss mit dir sprechen, Rasmus. Können wir uns treffen? Am besten sofort.«
Sörens Winken verstärkte sich.
»Einen Moment, Camilla.« Rasmus legte seine Hand auf die Sprechmuschel seines Handys und ging so nah ans Gebäude heran, bis er direkt unter dem Fenster stand.
»Bent Villardsen hat angerufen«, rief Sören aufgeregt. »Er weiß, wo Agnes Jørgensen steckt. Vibeke kommt gleich zu dir runter.« Sein Kopf verschwand wieder.
»Camilla, tut mir leid, ich muss auflegen.« Rasmus überlegte einen Moment. »Wenn es um die Wohnung geht … Ich unterschreibe und schicke dir den Vertrag zu. Gleich morgen. Versprochen.«
»Nein, es ist …«
Rasmus beendete das Gespräch, atmete tief durch. Es war Zeit, endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Er musste die Vergangenheit hinter sich lassen. Nur so konnte er wieder nach vorn blicken. Der erste Schritt war getan. Doch anstatt der erwarteten Erleichterung verspürte er nur wieder dieses Ziehen in der Magengegend.
Ehe er das Gefühl hinterfragen konnte, ging die Eingangstür auf, und Vibeke Boisen erschien. Sie hatte ihren Schultergurt umgelegt und überprüfte den Sitz ihrer Waffe, während sie mit angespanntem Gesicht auf Rasmus zueilte.
In der Ferne ertönte ein Donnergrollen.
Kruså, Dänemark
Das schneeweiße Gebäude lag am Ende einer kreisförmigen Kieseinfahrt inmitten einer großzügig angelegten Grünanlage. Niedrige Buchsbaumhecken, Laub- und Nadelhölzer, üppig blühender Rhododendron und schmale Bänke, die entlang der Gräber zum Verweilen einluden.
Die Kirche war ein gradliniger, moderner Bau, ein stilles Fleckchen, an dem Agnes all die Jahre Kraft und Durchhaltevermögen gefunden hatte, die Prüfungen durchzustehen, die ihr das Leben auferlegt hatte. Ihre Eltern ruhten auf dem angrenzenden Friedhof, hier waren ihre Kinder getauft worden, und es war der Ort, an dem sie Leif vor dreißig Jahren das Jawort gegeben hatte.
Ein leichter Küstenwind kam auf und ließ die herabgefallenen Blütenblätter über den Boden der Parkanlage tanzen. Die Luft hatte merklich abgekühlt, trotzdem rann Agnes unter ihrem Kopftuch der Schweiß in den Nacken.
Sie fand Leif auf einer Bank in der Nähe des Grabes seines Vaters. Er hatte die Ellenbogen auf seine Knie gestützt und hielt den Kopf mit beiden Händen umfasst.
Kies knirschte unter ihren Fußsohlen, doch Leif schien es nicht zu hören. Ein Geräusch, das Agnes nicht gleich einzuordnen wusste, drang an ihr Ohr. Die Schultern ihres Mannes bebten.
Leif weinte, stellte sie erstaunt fest. Nein, mehr noch. Er heulte Rotz und Wasser.
Agnes blieb abrupt stehen. Unsicher. Keine fünf Meter von ihr entfernt weinte der Mensch, dem sie noch vor wenigen Minuten mit kalter Entschlossenheit eine Kugel in den Kopf gejagt hätte. Vorausgesetzt, der Tresor in der Spedition wäre nicht leer gewesen und sie hielte jetzt die Waffe in der Hand. Und sie hätte es geschafft, einen Schuss auszulösen.
Leif schluchzte hemmungslos. Wahre Sturzbäche strömten über seine bärtigen Wangen. Ihr Hass löste sich mit einem Schlag in Luft auf und wandelte sich in ein Gefühl, das sie nur schwer deuten konnte. Was hatte Leif hier zu suchen? Nach all den Jahren, in denen er sich geweigert hatte, seine Frau zur Kirche zu begleiten. Selbst bei Livas Konfirmation hatte er vor dem Portal ausgeharrt, bis die Zeremonie beendet gewesen war. Wenn Agnes sich richtig erinnerte, hatte er das Gotteshaus zuletzt anlässlich der Beerdigung seines Vaters betreten. Und die war vor über zwanzig Jahren gewesen. Also warum ausgerechnet jetzt?
Agnes löste sich aus ihrer Erstarrung, holte tief Luft und ging die wenigen Schritte bis zur Bank. Erstaunlicherweise fühlte sie sich dabei weder sterbenskrank noch besonders schwach wie vor ein paar Stunden, sondern tatkräftig und zu allem entschlossen. Es schien, als hätte ihr Körper sämtliche Reserven für diesen einen Moment aufgespart und gebündelt. Damit sie ihr Vorhaben doch noch in die Tat umsetzen konnte. Sie nahm schweigend neben ihrem Mann Platz.
Erst jetzt hob Leif den Blick. Seine Augen waren rot und verquollen, aus seiner Nase tropfte Schnodder und vermischte sich auf der Oberlippe mit seinen Tränen. Tief in ihrem Inneren regte sich Mitleid mit dem Mann, der sie und ihre Kinder über all die Jahre so schlecht behandelt hatte.
»Agnes?« Leif wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Was tust du denn hier?«
Agnes zögerte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen.
»Ich weiß, was du getan hast«, sagte sie mit fester Stimme.
Etwas in Leifs Augen blitzte auf, und sie rutschte automatisch ein Stück weiter von ihm weg.
»Keine Sorge, Agnes. Ich habe nichts getrunken.« Er streckte seine Hand nach ihr aus, überlegte es sich dann anders und zog sie wieder zurück. »Was meinst du damit – was ich getan habe?«
Agnes holte ein weiteres Mal tief Luft. Um einen Rückzieher zu machen, war es jetzt zu spät.
»Ich spreche von deinen Geschäften. Glaubst du etwa, ich weiß nicht, was da gelaufen ist?« Sie erwartete keine Antwort. Einmal in Fahrt, brach alles aus ihr heraus. »Ich habe jahrelang die Bücher gemacht … Obwohl, anfangs hat es mich schon erstaunt, woher auf einmal die ganzen Frachtbriefe kamen. Und die Kunden, deren Namen ich vorher noch nie gehört hatte. Und dazu all die Zahlungen aus dem Ausland.« Sie sah ihren Mann unverwandt an. »Die Aufträge waren gefälscht. Von wem kam das Geld?«
Leif ließ den Kopf sinken. Dabei bedeckte er das Gesicht mit seinen schaufelgroßen Händen. Als er sich seiner Frau zuwandte, waren seine Tränen versiegt, der Blick seltsam stumpf.
»Ich habe es für uns getan, Agnes. Für die ganze Familie. Sonst wären wir schon vor Jahren pleite gewesen. Unsere Existenz stand auf dem Spiel, verstehst du das?« Er raufte sich die Haare. »Ich hätte euch nichts mehr bieten können, dir und den Kindern. Glaubst du etwa, es hat mir Freude gemacht, meiner Tochter das Studium zu verbieten? Ich konnte es mir schlichtweg nicht leisten, sie nach Kopenhagen zu schicken und auf ihre Arbeitskraft zu verzichten.« Er hielt einen Moment inne. »Außerdem hatte ich mir Geld von Leuten geliehen, die keinen Spaß verstehen. Ich wollte euch schützen, Agnes. Das musst du mir glauben!«
Sie musterte ihn kalt. »Was habt ihr transportiert?«
»Wir?« Leif sah sie erstaunt an.
»Ich sagte dir doch, ich weiß Bescheid.«
Leif wirkte völlig irritiert. Offenbar hatte er nicht die geringste Ahnung, dass seine Frau seine dunkelsten Geheimnisse kannte.
»Drogen.« Seine Stimme klang belegt. »Wir haben sie über die Vogelfluglinie von Hamburg bis nach Kopenhagen transportiert. Manchmal auch von Rotterdam aus, wenn die Ware aus Südamerika kam.«
Agnes nickte. Ähnliches hatte sie sich bereits gedacht. Nur über die Art der Ware war sie sich nicht im Klaren gewesen. Ein Teil von ihr registrierte erleichtert, dass es nicht um Menschenschmuggel ging.
»Der Mann, den ihr in der Lagerhalle ermordet habt«, fuhr sie fort. »Wer war das?«
Leifs Kopf schnellte herum. »Woher …« Er brach ab.
Agnes verschärfte ihren Ton. »Wer war der Mann?«
»Ein Zwischenhändler.« Erkenntnis spiegelte sich in seinem Gesicht. »Du hast das Video aus dem Tresor genommen?«
Sie nickte.
»Warum hast du nie einen Ton gesagt?« Leif schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich dachte die ganze Zeit, Peter wäre es gewesen.« Seine Stimme zitterte. »Was hast du mit dem Video gemacht?«
»Ich habe es Liva gegeben.«
Leifs Augen weiteten sich. »Liva? Warum … Du wusstest, dass sie lebt?« Seine Stimme brach. »Mein Gott … du hast dir die Aufnahme angesehen, oder?«
Wieder nickte Agnes. »Es ist deine Schuld, dass Liva tot ist. Du bist dafür verantwortlich. Für alles, was ihr zugestoßen ist.«
Leif breitete die Hände aus und streckte sie in die Luft. »Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst. Warum ist es meine Schuld?«
»Sie war da, Leif!«, brach es aus Agnes heraus. »Liva hat den Mord mit angesehen, kapierst du?! Sie hatte Todesangst. Deshalb ist sie weggelaufen. Unsere siebzehnjährige Tochter hat Hals über Kopf das Land verlassen. Sie ist geflohen. Vor dir!«
Agnes zitterte am ganzen Körper.
Leif saß wie erstarrt auf seinem Platz. »Aber ich hätte Liva nie im Leben etwas angetan. Sie war mein Kind.« Nun legte er doch seine Hand auf ihren Arm.
Agnes zog ihn zurück, als hätte sie sich verbrannt. »Woher sollte Liva das wissen? Glaubst du, sie hat nicht mitbekommen, was du mir angetan hast? All die Jahre? Unsere Tochter war fünf, als ich das erste Mal im Krankenhaus lag, weil du mich halb totgeprügelt hattest. Damals wollte sie von mir wissen, wer sich um sie kümmert, wenn ich sterbe.« Ihre Stimme zitterte. »Denkst du wirklich, so etwas geht an einem Kind spurlos vorbei?«
»Aber ich war es doch gar nicht, der …« Leif brach mitten im Satz ab. Etwas glomm in seinen Augen auf.
»Weißt du eigentlich, dass ich noch vor ein paar Stunden vorhatte, dich zu töten? Du hast Glück, dass der Polizei die Pistole in deinem Tresor zuerst in die Hände gefallen ist.« Agnes betrachtete einen Rhododendronbusch mit leuchtend roten Blüten. Resignation machte sich in ihr breit. Sie hatte sich an ihrem Mann rächen wollen, doch sie war gescheitert. »Jetzt wirst du es sein, der am Ende übrig bleibt, Leif. Aber vielleicht ist das die viel schlimmere Strafe.«
Ihr Mann schien ihr nicht zuzuhören, er hielt den Kopf gesenkt und knetete unentwegt seine Hände. Er schien mit seinen Gedanken meilenweit entfernt zu sein
»Sieh mich an!«, forderte Agnes ihn auf. Sie war mittlerweile schweißüberströmt, und es kostete sie Mühe, die nächsten Worte über die Lippen zu bringen. »Wusste Peter von deinem Nebenerwerb?« Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Hast du meinen Sohn deshalb umgebracht?«
Endlich hob Leif den Kopf und wandte ihr den Blick zu. In seinen Augen loderte es.