23. Kapitel

Kollund, Dänemark

Im Sommerhaus war es völlig still. Alexander warf seine Segeljacke achtlos über einen mit weißem Leinenstoff bezogenen Sessel, schenkte sich am Barwagen einen Whisky ein und öffnete die Schiebetür zur Terrasse. Mit dem Glas in der Hand trat er ins Freie.

Die Wolken hingen bleischwer über der Bucht, der Wind hatte zugenommen, peitschte das Wasser der Förde zu meterhohen Wellen auf und fegte die salzige Meeresluft an Land. In der Ferne sah er eine einsame Gestalt am Strand entlangwandern.

Er nahm einen Schluck, kippte den Rest Whisky in einem Zug hinunter und ging zurück ins Haus. Der Wind blähte die seitlich hängenden Vorhänge des Wohnzimmerfensters zu weißen Segeln auf. Er schloss die Schiebetür.

Alexanders Magen knurrte. Er sah in der Küche im Kühlschrank nach, ob seine Stiefmutter eine Mahlzeit zum Abendessen vorbereitet hatte. Mettes Rolle innerhalb des Troelsen-Clans war klar definiert. Die Versorgung des leiblichen Wohls der Familie gehörte ebenso zu ihren Aufgaben, wie die strahlende Politikergattin zu repräsentieren.

Der Kühlschrank war leer, sofern man von einem Stück Käse und einer angebrochenen Flasche Weißwein absah.

Aus dem oberen Stockwerk erklang eine aufgebrachte Stimme durch die Zimmerdecke. Offenbar war Alexander doch nicht allein. Er ging die Treppe hinauf. Jemand telefonierte im Arbeitszimmer seines Vaters, doch der Tonlage nach war es definitiv nicht Jesper. Ohne anzuklopfen, riss Alexander die Tür auf.

Morten Lindahl saß mit dem Handy am Ohr im Schreibtischsessel. Einige Strähnen hatten sich aus seiner Gelfrisur gelöst, das Gesicht war puterrot, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Als er seinen Schwager bemerkte, beendete er augenblicklich das Gespräch.

»Ärger?« Alexander lehnte sich gegen die Fensterbank.

Morten ließ seine Hand mit dem Handy auf die Tischplatte sinken und schüttelte den Kopf. Seine Augen schossen Pfeile in die Richtung seines Schwagers ab.

»Wo steckt der Rest der Familie?«

»Keine Ahnung, wo Jesper und Mette sind, aber Sara ist eine Runde laufen und der Kleine bei meiner Mutter.«

»Gut, denn wir beide reden jetzt mal Klartext.« Alexander verschränkte die Arme vor der Brust. »Also … was ist dein Problem mit mir?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Morten fingerte an den Knöpfen seines Hemdsärmels herum.

Alexander deutete auf das Handy seines Schwagers. »Ist der Film, den du der Polizei geschickt hast, noch da drauf?« Seine Stimme schraubte sich eine Oktave höher. »Warum hast du das getan, Morten?«

Der Strauß gab keine Antwort, krempelte stattdessen in aller Seelenruhe den Ärmel seines Hemdes hoch.

»Gut, das kannst du dann ja der Polizei erklären. Sie werden ohnehin bald herausbekommen, dass du dahintersteckst. Die Mail lässt sich anhand ihrer IP -Adresse sicherlich zurückverfolgen, das sind Profis.«

Morten hielt mitten in der Bewegung inne.

»Allerdings ergibt sich eine interessante Frage«, schob Alexander hinterher. »Wolltest du mir nur einfach eins auswischen, so wie es deiner hinterhältigen Art entspricht, oder …«

»Schon gut!« Morten hob beschwichtigend die Arme. »Ich gebe zu, dass ich der Polizei den Handyfilm zugeschickt habe.«

»Ach.« Alexander war irritiert über den plötzlichen Sinneswandel seines Schwagers. »Und warum?«

Morten ließ die Arme wieder sinken. »Jesper spielte mit dem Gedanken, dich in die Firma zu holen. Ich habe gehört, wie er mit Sara darüber sprach.«

»Und das wolltest du verhindern, indem du mich bei der Polizei anschwärzt?« Alexander schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist erbärmlich. Die Firma ist groß genug für uns beide.«

Durch das geöffnete Fenster drang das Hupen eines Autos. Alexander schob die Vorhänge beiseite.

Am Fjordvejen schoss ein Wagen an einem Transporter vorbei und bog dann in einem halsbrecherischen Tempo in die schmale Straße, die zu den Häusern am Hügel hinaufführte. Was war das für ein Idiot?

Er wandte sich seinem Schwager zu, dessen Gesicht wieder einen normalen Farbton angenommen hatte und seine gewohnt dämliche Straußenmiene zur Schau stellte. Mit wem hatte Morten vorhin am Telefon gesprochen? Und was steckte hinter seinem plötzlichen Sinneswandel?

»Ich kauf dir deine Antwort nicht ab.« Alexander löste sich von seinem Fensterplatz, beugte sich über den Schreibtisch und sah seinem Schwager in die Augen. »Außerdem hast du mich vorhin nicht ausreden lassen. Wolltest du mich nur bei meinem Vater anschwärzen, oder ging es vielmehr darum, den Verdacht von dir selbst abzulenken?«

Eine Fliege umschwirrte Mortens Kopf, er fegte sie mit einer Handbewegung beiseite.

»Jetzt rede endlich!«, forderte Alexander seinen Schwager auf, doch ehe er eine Antwort bekam, ertönten vor dem Haus das Geräusch von quietschenden Bremsen und das Zuschlagen einer Autotür.

Kurz darauf polterte jemand gegen die Eingangstür des Sommerhauses.

Kruså, Dänemark

Die Ermittler fanden Agnes Jørgensen auf dem Kirchenfriedhof allein auf einer Bank sitzend. Ihr Kopftuch war verrutscht und entblößte kahle Stellen oberhalb des Stirnansatzes. Sie wirkte blass und erschöpft, ihr Blick leer. Weit und breit keine Spur von Bent Villardsen.

»Wir suchen Sie schon seit Stunden, Frau Jørgensen.« Vibeke berührte die Frau leicht an der Schulter. »Warum haben Sie das Krankenhaus verlassen, ohne jemandem Bescheid zu geben?«

Agnes Jørgensen antwortete nicht.

Vibeke tauschte einen Blick mit Rasmus, doch der Däne zuckte nur mit den Achseln.

»Leif hat eine Grabstelle für die Kinder ausgesucht.« Agnes’ Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie zeigte auf eine Grünfläche, die wenige Meter von der Bank entfernt unterhalb einer alten Eiche lag. »Er wollte, dass ich mich nicht darum kümmern muss. Versteht ihr?« Ihr Blick huschte zu Vibeke, dann zu Rasmus und wieder zurück. »Mein Mann war es nicht. Leif hat Peter nicht umgebracht.«

Rasmus trat einen Schritt näher. »Du glaubst ihm?«

»Leif ist ein Choleriker. Ein Krimineller und ein Schläger, aber er ist kein Lügner.« Sie spielte gedankenverloren mit ihrem Ehering. »Peter war ihm in so vielerlei Hinsicht ähnlich, dass man meinen könnte, sie wären tatsächlich Vater und Sohn gewesen.«

Vibeke setzte sich neben der Frau auf die Bank und ging ins vertraute Du über. »Du wusstest, dass deine Tochter noch lebt, oder?«

Agnes nickte. »Liva hat mich vor etwa einem Dreivierteljahr angerufen, nach einem zufälligen Treffen mit Anne-Marie, bei dem sie von meiner Krankheit erfuhr. Anfangs dachte ich an einen bösen Streich … Es war ein Schock.« Sie faltete die Hände und legte sie in den Schoß. »Ich habe Liva gebeten, nach Hause zu kommen, aber sie weinte, sagte immer wieder, sie könne nicht. Es gebe so vieles, das ich nicht wisse … Ich habe meine Tochter angefleht, regelrecht angebettelt, irgendwann hat Liva aufgelegt. Ein paar Tage später rief sie wieder an, entschuldigte sich, weigerte sich aber, nach Kruså zu kommen. So ging es noch zwei, drei weitere Male. Irgendwann konnte ich sie überreden, mich im Krankenhaus in Apenrade zu besuchen. Zu der Zeit stand eine längere Behandlung an.« Sie hielt inne, den Blick auf die Grabstelle gerichtet.

»Und?«, hakte Vibeke mit sanfter Stimme nach. »Ist Liva gekommen?«

Agnes nickte. »Ich habe sie zuerst gar nicht erkannt … Aber sie war es, meine kleine Liva. Ich konnte es nicht fassen, dass ich sie tatsächlich wiederhatte.«

Rasmus räusperte sich. »Hat deine Tochter dir erzählt, was damals passiert war? Warum sie verschwunden ist?«

Es dauerte eine ganze Weile, ehe Agnes antwortete. »Liva hatte an jenem Nachmittag im Büro der Spedition gearbeitet, dabei ist ihr ein Frachtbrief, der am nächsten Tag für den Versand benötigt wurde, zwischen die Schulunterlagen geraten. Er fiel ihr am Abend in die Hände, als sie ihre Tasche packte, und sie wollte die Dokumente zurückbringen, ehe Leif ihre Schluderei bemerkte. Bei so etwas konnte er fuchsteufelswild werden.« Sie holte tief Luft. »Mein Mann hatte früher illegale Geschäfte am Laufen.« Stockend berichtete sie den Ermittlern von einem groß angelegten Drogenhandel, der jahrelang über die Spedition abgewickelt wurde.

Vibeke bemerkte, wie sich der Gesichtsausdruck ihres Kollegen verhärtete. »Was ist an dem Abend passiert, als Liva die Unterlagen zurückbrachte?«

»Irgendein Zwischenhändler hat Leif erpresst und gedroht, alles auffliegen zu lassen, wenn er nicht zahlt.« Agnes Jørgensen stockte. »Da haben sie ihn umgebracht.«

»Sie?«

»Leif und sein … Kompagnon.«

»Wer?«, fragte Rasmus scharf.

Agnes presste die Lippen zusammen.

Rasmus wirkt zunehmend aggressiv. Seine Kiefermuskeln malmten, während er die Frau des Spediteurs mit einem finsteren Blick bedachte.

Vibeke wusste, dass Drogen für Rasmus ein rotes Tuch waren. Sie mischte sich ins Gespräch. »Liva war Zeugin des Mordes?«

Agnes nickte. »Sie hat alles mit angesehen. Ihr wisst ja, dass man vom Büro aus in die Lagerhalle schauen kann … Dort ist es passiert.« Sie fingerte an ihrem Kopftuch herum. »Es war ihr Glück, dass sie bereits das Licht gelöscht hatte, um zu gehen, sonst hätte man sie sofort bemerkt.«

»Warum hat deine Tochter nicht die Polizei gerufen?«

Agnes sah die Kriminalbeamtin erstaunt an. »Liva war in Panik. Vor ihren Augen wurde kaltblütig ein Mann erschossen. Auch wenn es nicht Leif war, der abgedrückt hat, half er dabei, die Leiche zu entsorgen. Liva befürchtete, als Mitwisserin könnte man sie ebenfalls beseitigen, deshalb ist sie weg. Sie hatte Todesangst.«

»Sie hätte dir davon erzählen können.«

Agnes verbarg für einen Moment ihr Gesicht in den Händen. »Wir hatten Streit, Liva und ich … Sie hatte keinen Grund, sich mir anzuvertrauen. Dafür habe ich meine Tochter zu oft im Stich gelassen.«

Vibeke schluckte ihr aufkommendes Mitgefühl hinunter. »Was ist passiert, nachdem Liva nach Dänemark zurückgekommen ist?«

Agnes zupfte erneut an ihrem Kopftuch, schob es ein Stück weiter in die Stirn. Die kahlen Stellen verschwanden.

»Ich wollte meine Tochter schützen, mein Verhalten aus der Vergangenheit wiedergutmachen … Aber ich habe es völlig falsch angepackt.«

Vibeke registrierte besorgt, dass Agnes Jørgensen von Minute zu Minute blasser wurde. Sie überlegte, ob es ratsam war, einen Krankenwagen zu rufen, doch da sprach die Frau weiter.

»Ich habe meinen Mann ausspioniert, nachdem Liva zurückkam. Es gab ein Video, das er im Safe aufbewahrte. Eine Überwachungskamera, die in der Lagerhalle installiert war, hatte den Mord aufgenommen. Leif behielt den Film für den Fall, dass die ganze Geschichte auffliegen würde und man ihm die Sache allein anhängen wollte.« Sie hielt einen Moment inne. »Doch das wusste ich anfangs nicht. Es hat ewig gedauert, bis ich an die Zahlenkombination für den Tresor kam. Erst musste ich Leif, sooft es ging, über die Schulter blicken, während er den Code eingab. Dabei konnte ich mir immer nur einen kleinen Teil der Zahlen einprägen. Als ich den Safe schließlich öffnen konnte, fand ich darin das Video. Ich habe es Liva gegeben. Sie sollte sich damit schützen.«

»Das ist dann wohl schiefgegangen«, murmelte Rasmus finster.

Vibeke schenkte ihm keine Beachtung. »Warum hast du nicht die Polizei eingeschaltet?«

»Leif wäre ins Gefängnis gekommen, und wir hätten die Spedition schließen müssen. Das Risiko, dass Peter rückfällig wird, wenn er seinen Job verliert …« Agnes rang nach Worten. »Er sagte immer, er würde sich eher umbringen, als sich wieder einsperren zu lassen.«

Vibeke konnte nur den Kopf schütteln. Auch wenn die Beweggründe aus Sicht der Frau plausibel klangen, hatte ihr Verhalten dazu geführt, dass ihr Sohn nun ebenfalls tot war. Warum war Agnes nicht klar gewesen, dass sie einen großen Fehler beging, indem sie die Geschichte unter den Teppich kehrte?

Weil es einfacher war, dachte Vibeke. Weil sich Agnes Jørgensen ihr Leben lang geduckt und kleingemacht hatte, anstatt sich zu wehren. Im nächsten Moment schämte sie sich ihrer Gedanken. Die Menschen waren verschieden. Welches Recht hatte sie, diese Frau zu verurteilen?

Der Wind fegte Vibeke eine Haarsträhne ins Gesicht, und sie strich sie beiseite. »Wann hast du Liva das Video ausgehändigt?«

»Etwa zwei Wochen vor ihrem Tod.«

Die Antwort blieb wie eine dunkle Wolke über ihren Köpfen hängen.

»Am Tag von Livas Ermordung … warst du da im Krankenhaus? Und hat dich deine Tochter dort besucht?«

Agnes nickte. »Ich hatte einen MRT -Termin am Nachmittag. Liva wollte mir Beistand leisten. Wenn ich gewusst hätte …« Sie sprach nicht weiter.

»Warum ist sie anschließend nach Kollund gefahren?«

»Vermutlich wegen Alexander. Sie waren früher oft gemeinsam am Strand. Vielleicht hoffte Liva, ihn dort zu treffen.« Agnes richtete ihren Blick für einen Moment auf die Grünfläche unter der alten Eiche. »Sie hat Alexander nie vergessen.«

»Der Mann, der erschossen wurde«, hakte Vibeke nach. »Wie hieß der?«

»Ich weiß es nicht. Aber Leif kannte ihn wohl aus seiner Zeit im Gefängnis.«

Vibeke tauschte einen Blick mit ihrem Kollegen. Rasmus deutete ein leichtes Nicken an. Offenbar dachten sie beide das Gleiche. Der Tote in der Spedition war der vermisste John Nissen. Damit fügte sich ein weiteres Puzzleteil ein.

»Mein Mann wollte nicht, dass jemand stirbt«, beteuerte Agnes. »Er hatte …«

»Wo steckt Leif?«, unterbrach Rasmus sie harsch.

Agnes Jørgensens Lippen wurden schmal wie ein Stift. Schweiß trat unter ihrem Kopftuch hervor und strömte ihr übers Gesicht. »Mir geht es nicht gut.«

Vibeke griff nach ihrem Handy. »Ich rufe einen Krankenwagen.« Sie stand auf und wandte sich ab, um zu telefonieren. Als der Mitarbeiter der Notrufzentrale ihren Anruf entgegennahm, erklärte sie ihm die Sachlage und gab ihm die Adresse des Friedhofs durch. Als sie sich wieder umdrehte, sprach ihr Kollege mit Agnes.

»Du sagst mir jetzt, wo dein Mann hingefahren ist«, forderte Rasmus sie auf. »Oder willst du, dass noch mehr Menschen zu Schaden kommen?«

Die Frau des Spediteurs lächelte müde. »Leif bringt es zu Ende.« Sie richtete ihren Blick in die Ferne. »Von mir erfahrt ihr nichts.«

Rasmus fuhr sich mit der Hand unwirsch über die Stirn, entfernte sich ein paar Schritte.

Vibeke ging zu ihm. »Der Krankenwagen ist gleich da.«

»Ich könnte ausrasten!« Rasmus kickte einen Stein ins Gebüsch. »Der Kerl hat seine Frau jahrelang misshandelt, trägt eine maßgebliche Mitschuld am Tod ihrer Kinder, und was macht sie? Sie schützt ihn!«

»Agnes benutzt ihn«, korrigierte ihn Vibeke aufgewühlt. »Sie will Rache für den Tod ihrer Kinder. Leif Jørgensen ist auf dem Weg, um den Mörder zu stellen. Wir müssen das unbedingt verhindern.«

Rasmus fuhr sich rastlos durch die Haare. »Was glaubst du, wo er hingefahren ist?«

Vibeke ging in Gedanken fieberhaft die Namen durch. Alexander Troelsen. Jesper Troelsen. War einer von ihnen der Drahtzieher? Zumindest Letzterer hatte für die Morde ein Alibi. Oder gab es eine unbekannte Größe? Morten Lindahl zum Beispiel, von dem sie wussten, dass er den Umgang mit Waffen beherrschte und laut Luís jüngsten Nachforschungen derjenige war, der ihnen unter dem Deckmantel der Anonymität den belastenden Handyfilm über seinen Schwager zugeschickt hatte. Bent Villardsen war ebenfalls ein zwielichtiger Zeitgenosse, noch dazu Leifs Handlanger. Ihn hatten sie bei ihren Ermittlungen bisher außer Acht gelassen. Möglicherweise ein Fehler. Und was war mit den Deutschen? Tom Ahrendt hatte ebenfalls kein stichhaltiges Alibi, ein mögliches Motiv und noch dazu die Gelegenheit. Oder war der potenzielle Täter in der skandinavischen Gruppe in Hamburg zu finden? Auch dort hatte die Polizei noch längst nicht ausermittelt.

»Ich weiß es nicht«, sagte Vibeke schließlich. Verzweiflung machte sich in ihr breit.

Ihr Kollege legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, lag in seiner Miene etwas Entschlossenes. »Aber ich«, sagte Rasmus grimmig. »Zumindest habe ich eine Ahnung. Fordere du im GZ Verstärkung an! Sie sollen zum Sommerhaus der Troelsens kommen!«

Ehe Vibeke etwas erwidern konnte, machte der Ermittler auf dem Absatz kehrt und preschte davon.

Wenige Sekunden später flog Kies in der kreisförmigen Einfahrt auf, als der VW -Bus mit röhrendem Motor das Friedhofsgelände verließ.

Vibeke hatte ein ungutes Gefühl. Rasmus Nyborg war ein Pulverfass, sobald es um Drogen ging. Hoffentlich hatte er sich im Griff. Sie zückte ihr Handy und rief Sören an. Als sie das Gespräch beendete, waren in der Ferne bereits die Sirenen des Krankenwagens zu hören.

Sie ging zu Agnes Jørgensen zurück.

Die Frau des Spediteurs beobachtete von ihrem Sitzplatz auf der Bank jede ihrer Bewegungen. Beim Näherkommen bemerkte Vibeke das rebellische Funkeln in ihren Augen. Ein neuer, äußerst beunruhigender Gedanke schoss der Kriminalbeamtin in den Sinn. Hatte Agnes Jørgensen die Polizei womöglich in die Irre gelenkt, und Leif verschwand in diesem Moment über alle Berge? Wie weit ging die Hörigkeit dieser Frau zu ihrem Mann?

Kollund, Dänemark

Das Poltern an der Haustür wurde lauter. Aggressiver.

Alexander wartete darauf, dass der Strauß öffnete, doch nichts geschah. Wo steckte sein Schwager? Morten hatte das Arbeitszimmer schon vor etlichen Minuten verlassen.

Alexander strich ein letztes Mal mit den Fingern über das edle Holz des Schreibtisches, der bereits seinem Großvater gehört hatte, und erhob sich. Er war in sentimentaler Stimmung. Zu hören, dass sein Vater ihn in die Firma holen wollte, hatte ihn berührt. Es war ein Friedensangebot, nach der Sache mit Mette, und möglicherweise ein Zeichen dafür, dass Jesper seinem Sohn verziehen hatte und ihm die Wertschätzung entgegenbrachte, die sich Alexander immer gewünscht hatte. Wenn es denn stimmte. Bisher hatte er die Neuigkeit nur aus dem Mund seines dämlichen Schwagers gehört. Hoffentlich erlaubte sich der Strauß keinen schlechten Scherz, indem er Vater und Sohn weiterhin gegeneinander ausspielte. Zuzutrauen wäre es ihm.

Alexander verließ das Arbeitszimmer, und statt ins Erdgeschoss ging er in sein Schlafzimmer auf der anderen Flurseite. Vom Fenster aus hatte man einen guten Blick auf den Hauseingang. Er spähte durch die Vorhänge und erkannte die kräftige Statur von Leif Jørgensen.

Was hatte der hier zu suchen? Er konnte sich nicht daran erinnern, wann Livas Vater zuletzt beim Sommerhaus gewesen war. Das musste etliche Jahre her sein. Dabei hatte es früher viele Sommerabende gegeben, an denen die Troelsens und die Jørgensens ihre Zeit zusammen verbracht hatten. Damals hatte Liva noch gelebt. Und Agnes war nicht krank gewesen.

Trotz seiner Neugierde verspürte Alexander nicht die geringste Lust, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Spediteur war hochrot im Gesicht, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er sehr aufgebracht war. Leif bollerte ein letztes Mal gegen die Haustür und verschwand dann aus seinem Sichtfeld.

Alexander verließ das Arbeitszimmer und ging ins Erdgeschoss. Als er im Wohnzimmer einen Blick aus dem Fenster warf, sah er Leifs kräftige Statur um die Hausecke biegen. Der Spediteur legte seine Hand wie einen Schirm an die Stirn und blickte den Hügel hinunter. Wind zerzauste seine wenigen verbliebenen Haare.

Alexander öffnete die Terrassentür, trat ins Freie und sah ebenfalls zum Meer. Eine einsame Gestalt war oberhalb der Strandzunge zu sehen. Offenbar hatte Leif sie ebenfalls entdeckt, denn er stapfte jetzt mit energischen Schritten zur Küstenstraße hinab. Erstmals bemerkte Alexander die Ausbuchtung am hinteren Hosenbund des Spediteurs. Leif Jørgensen trug eine Waffe bei sich.

Kollund, Dänemark

Der Motor stotterte, kurz darauf ertönte ein lang gezogener Ton, der an das Röhren eines Elches erinnerte, gefolgt von einem Zischen, dann ging die Maschine vollständig aus. Am Armaturenbrett leuchteten mehrere Signalleuchten auf.

Rasmus fluchte, lenkte den VW -Bus mit dem letzten Rollen auf den Seitenstreifen und kam dort zum Stehen. Mit einer Zigarette im Mundwinkel versuchte er, den Bulli neu zu starten.

Gang. Kupplung. Zündschlüssel. Gaspedal. Ein kurzes Röhren, ehe der Motor erneut absoff. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und bemerkte den Qualm, der aus dem Heck des Fahrzeugs trat.

»Scheiße!« Rasmus schlug mit beiden Händen aufs Lenkrad.

Ausgerechnet jetzt! Warum war er Idiot bloß mit dem Bulli zum Friedhof gefahren, anstatt Vibeke Boisens Dienstwagen zu nehmen, so wie sie es vorgeschlagen hatte? Aber nein, er musste unbedingt sein eigenes Ding durchziehen. Jetzt hatte er den Salat.

Er drückte die Zigarette in den Aschenbecher und stieg aus dem Bus.

Die Wolkendecke war noch eine Spur dunkler geworden, und während das Tageslicht allmählich schwand, blies der Wind immer kräftiger. Rasmus ging im Geiste seine Optionen durch. Das Sommerhaus der Troelsens lag in der nächsten Bucht. Bis dahin waren es noch zwei, höchstens drei Kilometer. Er könnte laufen. Oder abwarten, bis ihn die angeforderte Verstärkung aufpickte. Der Spott seiner Kollegen wäre ihm sicher, wenn sie ihn wie einen gestrandeten Wal am Straßenrand fänden. Der prügelnde Bulle mit dem toten Kind und der Schrottkarre. Er versetzte dem Bus einen Tritt.

Eine böse Vorahnung ließ seine Anspannung ins Unermessliche steigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in nur wenigen Kilometern Entfernung gerade ein menschliches Drama abspielte, stieg von Minute zu Minute.

Rasmus traf eine Entscheidung. Er überprüfte den Sitz seiner Dienstwaffe im Holster, dann stemmte er sich gegen den Wind und lief los. Bereits nach wenigen Hundert Metern schmerzte seine Lunge. Er biss die Zähne zusammen, nahm sich zum gefühlt tausendsten Mal vor, künftig auf sämtliche Glimmstängel zu verzichten, konzentrierte sich auf seine Atmung und lief weiter.

Ein tosendes Grollen, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag drang von der deutschen Küstenseite über die Förde ans Ufer Jütlands. Gleichzeitig öffnete der Himmel seine Schleusen, und erste Regentropfen fanden den Weg auf seine Stirn. Rasmus zog das Tempo an.

Kruså, Dänemark

Zwei Notfallsanitäter breiteten eine Decke über Agnes aus. Sie schloss die Augen. Die Stimme der deutschen Polizistin, die noch immer versuchte, ihr einen Namen zu entlocken, rückte in weite Ferne.

Mit der Ruhe baute sich das Adrenalin in Agnes’ Blutkreislauf ab, und sie spürte, wie die Erschöpfung in jedem einzelnen Muskel ihres Körpers zurückkehrte. Genau wie das Hämmern in ihrem Kopf.

Nur am Rande bekam sie mit, wie man die Trage mit ihr in den bereitstehenden Krankwagen schob und ihr einen Zugang legte. Sie fühlte sich wie in einer Luftblase, schwebend, ohne Vergangenheit oder Gegenwart, betäubt vom Schmerz.

Die gespritzten Medikamente erreichten durch die Vene ihren Blutkreislauf, das Hämmern in ihrem Kopf ließ etwas nach, und ihre Gedanken wanderten zu Leif. Ihr Mann hatte ihr sein dunkelstes Geheimnis preisgegeben, dessen Last ihn über die Jahre schier zu erdrücken schien. In der Nacht, in der Liva verschwand, hatte er, wie schon oft erzählt, eine Lieferung auf den Weg in die Ukraine gebracht. Verschwiegen hatte er dabei die menschliche Fracht, die sich in Müllbeutel verpackt in einem Versteck unter dem Laderaum befand und die er in der Nähe von Kiew entsorgt hatte.

Es war die Schuld, die er mit dem Griff zur Flasche auszulöschen versuchte. Doch Schuld und Blut ließen sich nicht einfach hinunterspülen, sie hatten Flecken hinterlassen. In Kopf und Seele.

Leif hatte neben ihr auf der Friedhofsbank erstmals das ganze Ausmaß seines damaligen Drogenhandels begriffen und erkannt, wer verantwortlich für den Tod ihrer Kinder war. Er erzählte Agnes von der zweiten Waffe, die im Handschuhfach seines Autos lag, eine Anschaffung für seine Touren nach Osteuropa. Gemeinsam beschlossen sie, den Mörder zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Stimme der Polizistin drang ein letztes Mal an ihr Ohr, dann wurden die Heckklappen geschlossen. Als der Krankenwagen sich in Gang setzte, betete Agnes inbrünstig darum, dass Leif niemals die ganze Wahrheit erfuhr.

Kollund, Dänemark

Der Wind peitschte Alexander die Regentropfen wie kleine Nadelstiche ins Gesicht, während er den Hügel im Laufschritt hinablief. Vor ihm überquerte Leif Jørgensen bereits den Fjordvejen.

Er beschleunigte seine Schritte. Als er die Küstenstraße erreichte, nahm die Gestalt am Strand, die er bereits von der Terrasse aus gesehen hatte, etwas Vertrautes an.

Alexander biss sich vor Überraschung auf die Unterlippe, als er seinen Vater erkannte, und wäre dabei fast über seine Füße gestolpert. Er schmeckte Blut und saugte an der kleinen Wunde, während in seinem Kopf die Gedanken durcheinanderwirbelten. Was hatten Leif und Jesper miteinander zu tun? Nach all den Jahren? Und warum trug der Spediteur eine Waffe bei sich?

Die beiden Männer bemerkten Alexander nicht, wie er über den Strandparkplatz näher kam. Ihre lauten Stimmen verrieten den Streit, der unmittelbar entbrannt war.

Kurz entschlossen verbarg Alexander sich hinter der Informationstafel, die Strandbesucher über Wasserqualität und Verhaltensregeln aufklärte. Er war keine zwanzig Meter vom Standort der Männer entfernt und spähte um die Ecke.

Regen und fortschreitende Dunkelheit erschwerten ihm die Sicht. Er konnte nur noch vage Umrisse erkennen. Der Wind trug Leifs Stimme an sein Ohr.

»Du hast meine Tochter getötet!«

Alexander schnappte nach Luft, wartete darauf, dass sein Vater den ungeheuerlichen Vorwurf von sich wies.

»Liva war ein Risiko«, erklärte Jesper Troelsen kalt. »Deine Tochter hatte nichts Besseres zu tun, als mir zu drohen, nachdem ich ihr zufällig im Krankenhaus über den Weg lief. Sie sagte, sie hätte ein Video von dem Mord an John.« Seine Stimme wurde scharf wie eine Rasierklinge. »Du hast mich hintergangen, Leif. Wir hatten einen Deal. Ich habe dir von Anfang an gesagt, du sollst dich nicht mit mir anlegen. Es ist deine Schuld, dass ich Liva aus dem Verkehr ziehen musste … genau wie ihren missratenen Bruder.«

Alexander schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Völlig fassungslos starrte er auf Jespers schemenhafte Gestalt. Sein Vater war für ihn stets der Inbegriff eines integren Menschen gewesen. Ein Vorbild. Jetzt wirkte er wie ein völlig Fremder.

»Du warst das mit Peter?« Leifs Stimme bebte vor Wut. »Warum?«

»Peter war ein Kollateralschaden.« Jespers Stimme hatte die Nüchternheit eines Steuerprüfers. »Bedauerlich, aber notwendig. Dein Stiefsohn ist vor einiger Zeit ins falsche Haus eingestiegen. Und zwar in meins. Ich bot ihm einen Deal an. Irgendwann würde ich ihn um einen Gefallen bitten, und die Angelegenheit wäre damit erledigt.« Er hielt einen Moment inne, ehe er weitersprach. »Peter hatte nicht die geringste Ahnung, aus wessen Wohnung er das Video für mich besorgte. Als er dahinterkam, kriegte er kalte Füße, verlangte Geld, um sich abzusetzen. Aber wir wissen, wie es bei Liva war. Am Ende stehen sie wieder auf der Matte und stellen Forderungen. Mir blieb keine andere Wahl, als Peter ebenfalls beseitigen zu lassen.«

Alexander lief es angesichts der Skrupellosigkeit seines Vaters eiskalt den Rücken hinunter. In Gedanken leistete er seiner Ex-Freundin Abbitte. Damals beim Sankt-Hans-Fest, nach seinem Fehltritt mit Mette und dem anschließenden Streit mit Liva und ihrem Lehrer, hatte sie die Vermutung geäußert, Jesper wäre gemeinsam mit Leif in dunkle Geschäfte verstrickt. Doch anstatt seiner Freundin zu glauben, war ihm die Hand ausgerutscht. Das Ende ihrer Beziehung.

»Du Dreckskerl!« Leif verpasste seinem Kontrahenten eine mit der Faust.

Der Politiker taumelte, fing sich jedoch wieder und hielt sich sein Gesicht.

Der Wind drehte, und Alexander konnte nur noch vereinzelt Wortfetzen verstehen.

Er wühlte in den Taschen seiner Segeljacke nach dem Handy, um die Polizei anzurufen. Ihm fiel ein, dass es auf dem Wohnzimmertisch des Sommerhauses lag.

Als er wieder aufblickte, sah er eine schmale Gestalt vom anderen Ende des Strandes auf die streitenden Männer zulaufen. Hellblondes Haar blitzte auf. Sara. Sie kam offensichtlich von ihrer täglichen Joggingrunde zurück.

Alexander stöhnte auf. Seine Schwester hatte nicht die geringste Ahnung, welche dramatische Situation sich gerade abspielte. Sie lief direkt in ihr Unglück. Er wollte Sara eine Warnung zurufen, doch es war bereits zu spät.

Leif hatte die junge Frau ebenfalls bemerkt, während Jesper damit beschäftigt war, sich das Blut an seinem Mundwinkel mit dem Jackenärmel abzuwischen, und reagierte blitzschnell. Als Sara in Greifweite war, hielt er sie mit einer Hand am Ärmel fest, während er mit der anderen die Waffe aus seinem Hosenbund zog. Seine Schwester schrie auf, als er ihr die Pistole gegen die Schläfe presste.

»Lass Sara los!«, forderte Jesper ihn auf. »Sie hat nichts mit der ganzen Sache zu tun.«

»Dein Kind für mein Kind.« Leifs Stimme bebte vor Wut. »Für meine Kinder.«

Alexander rührte sich keinen Millimeter von der Stelle. Was sollte er tun? Hilfe holen? Weit und breit war kein Auto in Sicht, und bis er bei einem der Nachbarn war, konnte alles Mögliche passieren. Er blickte über die Schulter in Richtung Sommerhaus. Wo steckte eigentlich Morten, sein Nichtsnutz von einem Schwager, wenn man ihn einmal im Leben brauchte? Vermutlich hockte er mal wieder bei den Nachbarn.

Leif kann nicht drei Menschen auf einmal erschießen, kam es Alexander plötzlich in den Sinn.

Er trat aus seinem Versteck. Sein Puls raste. »Lass die Waffe fallen, Leif! Die Polizei ist auf dem Weg. Du hast keine Chance!«

»Keinen Schritt näher!«, forderte Leif ihn auf. »Sonst knall ich deine Schwester ab! Und anschließend dich!«

Alexander blieb stehen.

Saras Augen waren geweitet, ihr ganzer Körper starr vor Angst. Kein Laut drang über ihre Lippen.

Jesper trat einen Schritt auf Leif und seine Geisel zu.

»Du hast gehört, was mein Sohn gesagt hat. Die Polizei ist unterwegs. Denk nach, Leif! Noch haben wir beide die Möglichkeit, aus der Sache heil herauszukommen.« Jesper hatte in den Politikermodus geschaltet, sprach sachlich und betont freundlich, als umgarnte er einen potenziellen Wähler.

Als Nächstes wirft er sein Netz aus, dachte Alexander. Noch nie war ihm sein Vater so zuwider gewesen wie in diesem Moment. Er verspürte den heftigen Drang, sich auf ihn zu stürzen und ihm die Kehle zuzudrücken. Nur Leifs Waffe hielt ihn zurück.

»Was wird aus Agnes, wenn sie dich einsperren?«, kam es von Jesper. »Sie wird sterben, ohne dass jemand bei ihr ist. Willst du das wirklich? Dass deine Frau allein zurückbleibt?«

Leif schnaubte verächtlich. »Lass dein Geschwafel, Jesper, dafür kennen wir uns zu lange.« Er schlang den rechten Arm um Saras Hals, während er die Waffe in seiner anderen Hand weiterhin an ihre Schläfe drückte, und zerrte sie Richtung Strandparkplatz. »Wenn sich nur einer von euch beiden von der Stelle rührt, schieße ich!«

Alexander glaubte ihm jedes Wort. Völlig regungslos blieb er stehen, sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass seiner Schwester nichts geschah.

»Verlier jetzt nicht die Nerven, Leif!« Jesper war die Panik nun deutlich anzuhören.

Der Spediteur blieb stehen. »Dein Kind für mein Kind.« Mit einem metallischen Klicken entsicherte er die Waffe.