Das sense making derer, die in einer Demokratie letztlich das Sagen haben (das sind die wahlberechtigten Männer und Frauen) hat in aller Regel zum Ergebnis, dass sich Narrative herausbilden, die das individuelle Verständnis für ein politisch relevantes Problem bestimmen. Diese Narrative werden sorgsam geschützt, indem sichergestellt wird, dass störende Informationen, in Form von Fakten, Daten und dem Wissen über kausale Zusammenhänge, dem Narrativ nicht zu nahekommen können. Was macht das mit den anderen Akteuren, die im politischen Raum bedeutsam sind? Drei wichtige Gruppen spielen eine Rolle. Da sind als erstes die Politiker und die Parteien, denen sie angehören, also das, was man die politische Klasse nennen könnte. Als zweites spielen natürlich die Medien eine große Rolle, wobei zu beachten ist, dass sich das Mediensystem gerade ziemlich rasant umbaut. Der Einfluss der klassischen Medien Zeitung, lineares Fernsehen und Rundfunk schwindet und die Internet basierten Medien einschließlich soziale Medien und Streaming Portale blühen auf. Die dritte Gruppe, die erwähnenswert ist, sind die Interessenvertreter, also Lobbygruppen, Verbände und nicht zu vergessen die NGOs, die Non Govermental Organizations oder Nicht-Regierungs-Organisationen. Diese werden wir für den Moment außen vor lassen, denn was die tun werden, ist ziemlich klar. Sie werden versuchen, die Narrative zu befördern, die ihrem jeweiligen Anliegen am dienlichsten sind. Sie stehen dabei im Wettbewerb miteinander und sie buhlen um Aufmerksamkeit. Darin unterscheiden sie sich nicht substanziell von der politischen Klasse und deshalb richten wir vor allem das Augenmerk darauf, was unsere bisherige Analyse für Implikationen dort hat.
Politik und Medien befinden sich in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis, bei dem man auf den ersten Blick nicht genau sagen kann, wer von wem mehr abhängig ist. Die Sache wird klarer, wenn man die Wähler mit einbezieht, denn die sind zugleich auch die Leser und Zuschauer, auf die es die Medien abgesehen haben. Die stärkste Abhängigkeit besteht für Politiker wie Medien in ihrer Beziehung zum Endverbraucher von Politik und Medienprodukt. Ohne Leser keine Zeitung, ohne Wähler kein Politiker. Zu sagen, die Politik hänge von den Medien ab, greift deshalb zu kurz. Sie hängt von den Wählern ab und das elementar. Medien sind nur Mittel zum Zweck. Für die Medien gilt das Gleiche. Auch sie brauchen die Politik nur dann, wenn ihre Kunden sich für das interessieren, was Politiker sagen, denn nur dann wird daraus ein Motiv, fern zu sehen oder die Zeitung aufzuschlagen. Im Ergebnis bedeutet das, dass die eigentlich bestimmende Größe in dem ganzen Geschehen die Gruppe der Wähler ist. Ihr Verhalten, genauer gesagt, ihre Informationsnachfrage bestimmt sowohl, was Medien berichten, als auch das, was Politiker formulieren.
Journalisten und Politiker, die diese Zeilen lesen, werden dabei einen ansteigenden Blutdruck registrieren, denn das eben Gesagte geht vermutlich nicht gut mit ihrem Selbstbild zusammen. Sie werden darauf bestehen, dass ihr Tun von Überzeugungen und moralischen Werten bestimmt ist, dass sie sich in der Pflicht sehen, wichtige gesellschaftliche Funktionen auszuüben und so weiter. Das ist weit mehr als nur Gerede. Die allermeisten Politiker und Journalisten (Männer wie Frauen) sind nach meiner Erfahrung in einem gewissen Maße Überzeugungstäter. Aber warum wird dann nicht auf breiter Front darüber berichtet, dass wir beim Umgang mit dem Meeresmüll dilettantisch vorgehen? Angesichts der Faktenlage wäre das doch nicht schwierig! Und warum sprechen Politiker nicht davon?
Das Beispiel mit dem Plastik ist dabei nur die berühmte Spitze des Eisberges. Wie schon mehrfach angedeutet, bevorzuge ich Beispiele aus dem Bereich Klimapolitik und im weiteren Verlauf des Buches wird zumindest skizzenhaft gezeigt, dass es viele wichtige Bereiche in der Klimapolitik gibt, die wir in den Medien und in der politischen Diskussion nicht wiederfinden. Warum ist das so, wenn doch alle so guten Willens sind? Es ist so, weil es eben die Letztverwerter von Politik und Medienprodukten sind, die bestimmen, was über den Ladentisch geht. Wenn es eine leichte Lösung für das Plastikproblem gibt, die jedem einleuchtet, weil es so ein wunderbares Narrativ dazu gibt, ist klar, dass es keine Nachfrage nach Informationen gibt, die dieses Narrativ stören können. 99,5 % Wiederverwertung?! Glaubt doch keiner. Da glaubt man doch eher dem Fernsehjournalisten, der in Malaysia auf einer Mülldeponie rumstochert und schließlich eine Aldi Tüte hervorzieht. Da sieht man es doch! Das Narrativ hat recht.
Informationen, von denen Journalisten wissen, dass sie nicht nachgefragt werden, werden nicht angeboten. Wenn aber klar ist, dass Informationen nicht von den Medien transportiert werden, weil sie die leichten Lösungen bedrohen, dann haben Politiker auch keinen Anreiz, genau diese Information zu produzieren. Das gilt vor allen Dingen in den Fällen, in denen Probleme Lösungen verlangen, die vergleichsweise kompliziert sind. Sobald eine leichte Lösung für solche Probleme auf dem Markt ist und es dazu passende Narrative gibt, hat die komplizierte Lösung keine Chance mehr. Die Menschen wollen einfache, leicht verständliche Lösungen, die in gut zugängliche Narrative gepackt werden können. Also muss die Politik solche Narrative bauen und anbieten. Sind die angebotenen Lösungen leicht genug, werden sie verstanden und die Medien haben Lust sie zu präsentieren, weil Informationen, die das Narrativ bedient, Nachfrage finden. So entsteht eine verhängnisvolle Kette. Die Menschen wollen eine narrative Lösung, der sie zustimmen können und mit der sie sich wohl fühlen. Weil das so ist, entstehen diese Narrative im politischen Raum (der die Lobbygruppen durchaus einschließt) und die Medien berichten im Sinne dieser Narrative, weil sie mit Nachfrage nach entsprechenden Informationen rechnen können. Der Wähler und die Wählerin regieren, denn sie bestimmen, was sie am Ende der Wirkungskette in der Zeitung lesen oder in den Nachrichten hören.
Bleibt die Frage zu klären, was das alles mit dem Modell des Verständnis-Medians zu tun hat, das wir im ersten Teil des Buches entwickelt haben.
Audiodatei: (▶ https://doi.org/10.1007/000-akq)