Wir können auf Narrative nicht verzichten. Sie sind das einzige Mittel, mit dem wir die notorische Überforderung bewältigen können, der wir ausgesetzt sind, weil wir niemals alles das verstehen können, was wir verstehen wollen. Wir schaffen nur die Kurzformen, die vereinfachten Versionen. Sie versetzen uns im günstigsten Fall in die Lage, abgewogene Urteile zu fällen, die auf einem korrekten Verständnis der Fakten und Kausalitäten basiert sind und bei denen wir die Lösung für ein Problem wählen, die unseren persönlichen Einstellungen und Präferenzen entspricht. Dazu brauchen wir die guten Narrative, die uns informieren ohne zu manipulieren, zu verzerren und Interessen zu dienen, die nicht unsere eigenen sind. Deshalb müssen wir in der Lage sein, die guten von den schlechten Narrativen zu unterscheiden, von den sehr schlechten einmal ganz zu schweigen. Und genau an dieser Stelle geraten wir in einen Zirkel. Weil wir die Narrative brauchen, sind wir nicht in der Lage, selbst zu entscheiden, ob ein Narrativ gut ist oder schlecht. Da es unmöglich ist, die Prüfung der Narrative selbst vorzunehmen, bräuchten wir ein Narrativ, das uns sagt, was ein gutes Narrativ ist.
Das Problem ist nur zu lösen, wenn wir eine angemessene Delegation hinbekommen. Wir brauchen Institutionen, die uns mit den guten Narrativen versorgen und denen wir vertrauen können, dass sie uns nach bestem Wissen und Gewissen informieren und nicht manipulieren. Aber wem sollen, wem können wir vertrauen? Eine perfekte Lösung für dieses Problem wird es nicht geben. Wir werden vermutlich damit leben müssen, dass man Manipulation und ein Eigeninteresse der Narrativ Erzähler nicht gänzlich ausschließen kann. Dennoch sollten wir versuchen, die Beschaffung der für die Demokratie so überaus wichtigen Narrative so gut wie eben möglich zu organisieren.
Wer also kommt infrage? Bis vor gar nicht so langer Zeit war die Sache ziemlich klar und übersichtlich. Für die Welterklärung gab es nur eine Zuständigkeit und die lag bei der Religion, genauer gesagt bei der Kirche. Aber die Aufklärung und die inzwischen überall in Europa vollzogene Trennung von Staat und Kirche haben dem ein Ende gesetzt. Heute achten Kirchenvertreter in aller Regel sehr genau darauf, dass sie diese Trennung einhalten. Die Kirche ist zuständig für die Seelsorge und unterhält karitative Einrichtungen. Alles andere übernehmen die drei staatlichen Gewalten. Sind sie es also, an die wir uns wenden sollten? Natürlich spielen sie eine wichtige Rolle, aber wahrscheinlich nicht die Hauptrolle.
Die Judikative kommt eigentlich nicht für die Welterklärung infrage, denn ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden, die von Parlamenten beschlossen wurden. Ihre Arbeit beginnt also erst nach der Welterklärung, die sich in den Gesetzen niederschlägt. Das Aufschreiben von Narrativen ist nicht ihre Aufgabe.
Die Exekutive ist da schon wesentlich bedeutsamer. Sie ist zuständig für den Vollzug der Gesetze und sie ist – das ist entscheiden – dabei der strikten politischen Neutralität verpflichtet. Eine Beurteilung der Gesetze steht den Beamtinnen und den Mitarbeitern der öffentlichen Verwaltung nicht zu. Das ist deshalb bedeutsam, weil die Exekutive nicht nur dafür da ist, beispielsweise das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass die Menschen ihre Steuern zahlen, Straßen gebaut werden und der Müll ordnungsgemäß beseitigt wird. Sie hat auch eine Aufgabe, die für die Auswahl der Narrative, die die politische Diskussion beherrschen und über die am Ende abgestimmt wird, von großer Wichtigkeit ist. Sie sammelt Daten und Fakten, trägt sie zusammen und führt das, was man die amtliche Statistik nennt. Das in dieser Statistik zusammengetragene Wissen ist deshalb so wichtig, weil es eben unter dem Neutralitätsgebot generiert wird. Das gibt den Zahlen, die aus der amtlichen Statistik stammen, ein hohes Gewicht und eine hohe Bedeutung. Sie können als die verlässlichste verfügbare Basis gelten, wenn es darum geht, Behauptungen, die in Narrativen aufgestellt werden, daraufhin zu überprüfen, ob sie mit dem verfügbaren Wissen über die tatsächliche Datenlage vereinbar sind.
Natürlich sind auch Behörden und Ämter nur so gut, wie die Menschen, die in ihnen arbeiten. Und selbstverständlich haben viele dieser Menschen eine ganz eigene Agenda, die nicht immer mit dem Neutralitätsgebot im Einklang steht. So kann es schon einmal vorkommen, dass bei der Bereitstellung von Daten diese Agenda durchschimmert. Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Bis 2018 hat das Umweltbundesamt die Primärenergie Statistik relativ tief gegliedert und grafisch übersichtlich aufbereitet auf seiner Webseite präsentiert. Daraus ging hervor, dass der Anteil der erneuerbaren Energien 2018 bei 13,8 % lag. Der Anteil der Windenergie betrug dabei 2 % und Fotovoltaik lag bei 1,3 %. Wind und Sonne zusammen hatten also nur 3,1 % zum Primärenergieeinsatz beigetragen. Das war eine Information, die mit dem folkloristischen Narrativ, nach dem bald fast alle Energie aus Wind- und Solaranlagen kommt, nicht so recht in Einklang zu bringen ist. Man findet die 2018er Grafik übrigens noch auf der Seite des Bundeswirtschaftsministeriums.61 Das Umweltbundesamt gibt dagegen seit 2019 nur noch die gesamte Primärenergieleistung der Erneuerbaren an, ohne aufzuschlüsseln, wie viel die einzelnen erneuerbaren Energien jeweils beitragen.62 Vielleicht gibt es dafür gute Gründe, aber vielleicht wollte man auch nicht so deutlich darauf hinweisen, wie weit der Weg ist, den Wind- und Solarenergie noch gehen müssten, wenn sie die Hauptlast der Energieversorgung in Deutschland übernehmen sollen.
Trotz solcher Erfahrungen steht fest, dass die amtliche Statistik gewissermaßen die 1a Quelle für alle ist, die den Wahrheitsgehalt von Narrativen überprüfen wollen. Und diese so überaus wichtige Quelle wird von der Exekutiven erstellt – darin besteht vielleicht deren wichtigster Beitrag, wenn es darum geht, Lösungen zu verhindern, die einfach zu einfach sind.
Wie steht es mit der Legislativen? Können wir darauf hoffen, dass die Politik auf der Basis des besten verfügbaren Wissens nach optimalen Lösungen sucht, diese in gut verständlichen Narrativen aufbereitet und denen, die wählen, vorlegt? Wenn die politische Welt nur aus Menschen bestünde, deren einziges Interesse darin besteht, für die Gesellschaft die jeweils beste Lösung zu finden und zu realisieren, dann könnte so etwas tatsächlich passieren. Aber wir sollten von Politikern und Politikerinnen nicht mehr verlangen, als wir selbst zu leisten in der Lage sind. Normale Menschen wie Sie und ich sind nicht permanent selbstlos am Gemeinwohl interessiert. Sie verfolgen eigene Interessen, wollen Erfolge feiern, etwas für sich und ihre Familien erreichen. Also sollten wir das auch Politikern zugestehen.
Es ist legitim, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgen, nach Ämtern und Einfluss streben. Wir zähmen sie dadurch, dass wir sie in einen politischen Wettbewerb schicken, in dem sie sich bewähren müssen, wenn sie ein Amt erreichen wollen. Aber wir haben im Verlaufe dieses Buches mehrfach darauf hingewiesen, dass in diesem Wettbewerb der Endverbraucher der Politik, also die Bürgerinnen und Bürger eines Landes, die entscheidenden Figuren sind. An ihnen orientieren sich die Medien, an ihnen orientiert sich die Politik. Wer im politischen Wettbewerb bestehen will, braucht die passenden Narrative, und das müssen nicht die guten sein, denn die guten Narrative sind oft zu kompliziert, um sie im Wettbewerb mit anderen verwenden zu können. Wenn die politische Konkurrenz mit vermeintlich besseren, weil leichter verständlichen Narrativen Boden gutmacht, dann hat man mit langen Erklärungen und komplizierten Zusammenhängen keine Chance.
Man würde die Politik überfordern, wenn man von ihr verlangt, dass sie sich darauf beschränkt, nur gute Narrative zu verwenden. Man kann und sollte auch nicht versuchen, Politik dazu zwingen zu wollen, denn die Legislative muss in ihrem Handeln frei sein (in den verfassungsrechtlichen Grenzen natürlich). Aber vielleicht können wir eine Art sanften Paternalismus entwerfen, der der Politik einen leichten Schubs versetzt, um sie in die richtige Richtung zu lenken. Wer könnte einen solchen „Nudge“63 ausführen und wie könnte der aussehen? Es kommen nur zwei Institutionen dafür infrage: Die Medien und die Wissenschaft. Zu beiden haben wir schon einiges gesagt und das meiste klang nicht danach, dass es gerade diese Institutionen sind, die uns vom Fluch der leichten Lösung befreien können. Die Sache kann sich aber zum Guten entwickeln, wenn wir die Medien und die Wissenschaft durch einige wenige strukturelle Reformen ertüchtigen und in eine bessere Lage versetzen, als sie heute sind.
Audiodatei: (▶ https://doi.org/10.1007/000-akw)