Zu Beginn sei klargestellt, dass die beiden Grundrechte, die die Medien einerseits und die Wissenschaft andererseits schützen, nicht angetastet werden dürfen. An der Pressefreiheit und der Freiheit von Wissenschaft und Forschung darf nicht gerüttelt werden. Die Reformen, die zum Abschluss dieses Buches vorgeschlagen werden, sind nicht kompliziert und überhaupt wird der Teil, der sich mit der Lösung des Problems der „leichten Lösungen“ befasst, sehr kurz ausfallen. Es handelt sich auch eher um zwei Steine, die ins Wasser geworfen werden, als um ausdifferenzierte Vorschläge. Dennoch sind es Ideen, die es vielleicht wert sind, näher betrachtet und diskutiert zu werden.64
Beginnen wir mit der Wissenschaft. Der Vorschlag, der hier gemacht werden soll, bezieht sich weniger auf die Wissenschaft selbst als vielmehr auf die wissenschaftliche Beratung der Politik. Die Politikberatung ist gegenwärtig in einem bedauernswerten Zustand. Das liegt vor allem daran, dass wissenschaftliche Beratung inzwischen in inflationärer Weise stattfindet und so der wissenschaftliche Rat als solches entwertet wird. Der Grund dafür liegt in der Struktur des „wissenschaftlichen Komplexes“ und in der Art und Weise, wie Medien und Politik damit umgehen. Beide haben wissenschaftliche Beratung längst für sich instrumentalisiert und bedienen sich ihrer so wie sich Unternehmen Prominenter bedienen, die für ihre Produkte werben. Möglich wurde das, weil die Öffentlichkeit nicht unterscheidet zwischen der Wissenschaft, die in der Akademia, der wissenschaftlichen Welt, stattfindet, und der immer größer werdenden Zahl von Instituten und scheinwissenschaftlichen Organisationen, die zwar wissenschaftlich ausgebildete Menschen beschäftigen, aber keinen wissenschaftlichen Auftrag erfüllen, indem sie nach der Wahrheit suchen, sondern einem partikularen Interesse dienen – sei es einer Lobbygruppe, einer NGO, einer politischen Orientierung oder einem Interessenverband oder gleich direkt der Politik.
Neben diesen letztlich kommerziellen Instituten gibt es natürlich auch noch die offizielle, gewissermaßen institutionell verankerte Politikberatung. Beispielsweise die Sachverständigenräte. Zu nennen wäre der Sachverständigenrat für Umweltfragen oder der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Beide weisen das gleiche institutionelle Problem auf. Sie werden von der Politik zusammengestellt, und werden damit Teil des Wechselspiels zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit. Wohin das führt, kann man am ökonomischen Sachverständigenrat gerade sehr gut beobachten. Normalerweise besteht der Rat auf fünf Mitgliedern. Zurzeit (2021) sind es aber nur vier, weil sich die Politik nicht darauf einigen kann, wer den zuletzt ausgeschiedenen Lars Feld ersetzen soll. Bei den verbliebenen vier Sachverständigen handelt es sich um zwei Frauen und zwei Männer und alle zusammen haben es nicht geschafft, sich auf einen oder eine Vorsitzende zu einigen.
Warum Sachverständigenräte von der Politik zusammengestellt werden, wird deutlich, wenn man sich das Schicksal der wissenschaftlichen Beiräte beim Bundesfinanzministerium und beim Bundeswirtschaftsministerium ansieht, die nicht von dem Minister berufen werden, sondern selbst entscheiden, wer Mitglied (auf Lebenszeit) sein darf. Das Schicksal besteht darin, dass die Gutachten, die die Beiräte erstellen, in aller Regel sowohl von der Politik als auch von den Medien komplett ignoriert werden. Die Unabhängigkeit, die die Kolleginnen und Kollegen in den Beiräten genießen, versetzt sie in die Lage, die Arbeit der Ministerien kritisch zu begleiten. Das ist keine gute Voraussetzung für eine gedeihliche Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Amtsinhaber. Dazu kommt, dass die Beiräte sehr genau wissen, dass es vor allem die eigene wissenschaftliche Gemeinschaft ist, die die Gutachten zur Kenntnis nimmt. Das hat zur Folge, dass diese Gutachten zwar hohen methodischen Ansprüchen genügen, für Medien und Öffentlichkeit aber oftmals viel zu wenig verständlich sind. Im Wettkampf mit den einfachen Narrativen haben sie keine Chance.
Aus der Sicht der Medien und aus der Sicht der breiten Öffentlichkeit muss der „wissenschaftliche Komplex“, der Politikberatung im engeren Sinne betreibt, vollkommen intransparent erscheinen. Die Sachverständigenräte, die Beiräte und all die verschiedenen Institute verschwimmen zu einer schwer zu durchschauenden Melange, der Aufmerksamkeit zu widmen sich selten lohnt. Die Politik bedient sich wissenschaftlicher Erkenntnis nicht deshalb, weil sie an der Erkenntnis interessiert ist, also an der Frage, wie denn eine rationale Problemlösung aussehen könnte, sondern, weil sie sich Unterstützung für die eigene Position erhofft. In der Politik geht es um Mehrheit, nicht um Wahrheit, und wenn man Mehrheiten gewinnen kann, ohne dass die Wahrheit dabei eine allzu große Rolle spielt, dann ist das eben so. Hat sich erst eine einfache Lösung in Form eines einfachen aber schlechten (im hier verwendeten Sinne) Narratives herausgebildet, sehen Politikerinnen selten einen Anlass, dagegen zu argumentieren. Wie auch, sie könnten nicht hoffen, damit bei den Medien durchzudringen und Wähler oder Wählerinnen zu erreichen.
Was kann man tun? Es bedarf einer strukturellen Reform der Politikberatung. Es ist ja beileibe nicht so, dass wissenschaftliche Forschung keinen Beitrag zur Gestaltung unserer Lebenswelt leisten könnte und wertlos wäre, wenn es darum geht, die richtigen Narrative zu entwickeln. Ganz im Gegenteil. Wissenschaft, wie sie in der Akademia betrieben wird, ist nicht zu ersetzen. Dort arbeiten Menschen, die das Privileg besitzen, sich unter dem Schutz des Beamtenstatus und der grundgesetzlich garantierten Freiheit von Forschung und Lehre auf die Suche nach Wahrheit machen zu dürfen. Dabei unterwerfen sie sich keinem exogenen Interesse, aber sie folgen den wissenschaftlichen Standards, die sicherstellen, dass das, was als Erkenntnis bei der Wahrheitssuche herauskommt, Bestand haben kann – jedenfalls bis es durch noch bessere Erkenntnis widerlegt wird. Das oberste Prinzip wissenschaftlicher Arbeit besagt, dass jede wissenschaftliche Aussage intersubjektiv überprüfbar sein muss. Das heißt, dass das Ergebnis der Überprüfung unabhängig davon sein muss, wer sie vornimmt. Das geht nur, wenn methodische Standards eingehalten werden, die eine solche Überprüfung ermöglichen. Diese Standards bilden sich innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaften heraus, denen im Wissenschaftsprozess große Bedeutung zukommt. Wissenschaft ist ein in weiten Teilen selbstverwaltetes System. Die Wahrung wissenschaftlicher Standards und die Beurteilung der wissenschaftlichen Bedeutung einer Erkenntnis wird intern geregelt, in sogenannten Peer Review Verfahren, die in aller Regel anonym ablaufen. Wissenschaftliche Arbeiten werden zur Begutachtung an wissenschaftliche Journale geschickt und anderen Wissenschaftlern zur Begutachtung vorgelegt. Die Gutachterinnen schreiben einen Report und auf dessen Grundlage entscheiden die Herausgeber über die Publikation. Das ist kein perfektes Verfahren und es passieren Fehler dabei. Es sind tatsächlich schon Arbeiten, die später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden, von Gutachtern abgelehnt worden. Aber das Verfahren hat sich insgesamt bewährt. Es ist unter den vielen möglich das wahrscheinlich beste.
Das Wissenschaftssystem ist also durchaus in der Lage, gesicherte Qualität zu liefern – jedenfalls in dem Rahmen, der überhaupt möglich ist. Voraussetzung ist dabei aber, das Forschung in einem reinen Sinne stattfindet. Ohne exogenes erkenntnisleitendes Interesse, allein aus dem Bedürfnis heraus, die wahren Zusammenhänge, die tatsächlichen Kausalitäten aufzudecken. Diese Art von Wissenschaft muss die Quelle sein, aus der letztlich die Narrative stammen, die die politische Diskussion beherrschen. Das bedeutet nicht, das immer nur ein Narrativ entsteht, denn auch in der Wissenschaft kann es zu divergierenden Positionen kommen. Nicht immer ist die Datenlage eindeutig und Studien können zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, ohne dass wissenschaftliche Standards verletzt wurden. Aber in diesen Fällen spiegelt sich in den wissenschaftlichen Resultaten eben die Unsicherheit wider, mit der man unausweichlich umgehen muss. Auch die kann im Wissenschaftsprozess transparent werden.
Es gibt nur einen Weg, diese Form von Wissenschaft für die politische Debatte, für die Entwicklung der Narrative nutzbar zu machen. Man muss die Frage, wer zu welcher Frage die Politik berät, in die Hände der wissenschaftlichen Gemeinschaften legen. Jede Disziplin verfügt über eine entsprechende Organisation, die normalerweise Tagungen organisiert, Wissenschaftspreise auslobt und verteilt und die wissenschaftliche Kommunikation fördert. Diesen Organisationen, die genauso selbstverwaltet sind wie der Rest des Wissenschaftsbetriebes, müssen entscheiden, wer beraten soll und sie müssen den Auftrag erhalten, dabei ausschließlich auf wissenschaftliche Exzellenz, Integrität und weltanschauliche Offenheit der beratenden Männer und Frauen zu achten. Den so entstehenden Sachverständigenräten dürfte die wissenschaftliche Reputation sicher sein. Wenn sich dann auch noch die Politik darauf besinnt, diese Reputation zu fördern und darauf verzichtet, sie durch eigene „Gegenmaßnahmen“ zu untergraben, dann könnte eine Institution entstehen, die in der Diskussion hohes Gewicht hat und sich durch ihre Unabhängigkeit und ihren wissenschaftlichen Standard hohe Glaubwürdigkeit erarbeiten kann.
Die Covid 19 Pandemie liefert ein gutes Beispiel dafür, wie eine gelungene wissenschaftliche Beratung funktionieren kann. Die Voraussetzungen dafür waren gut und die Politik hat sie gut genutzt. Die Beratungssituation in Fragen der Pandemiebekämpfung war übersichtlich. Außer den wissenschaftlichen Fachleuten (Epidemiologen und Virologen) gab es keine folkloristischen Einrichtungen verschiedener Gruppierungen, die mit einer hinreichenden wissenschaftlichen Qualifikation aufwarten konnten. Die Bundesregierung hat vom ersten Moment an strikt darauf bestanden, dass auf den Rat der in der Akademia tätigen Wissenschaftler zu hören sei. Dazu kam, dass mit dem RKI ein wissenschaftliches Institut zur Verfügung stand, das wie die universitäre Forschung auf diesem Gebiet hohen wissenschaftlichen Standards verpflichtet ist und über eine Infrastruktur verfügt, die es erlaubt, wissenschaftliche Erkenntnis geeignet zu kommunizieren.
Die an vorderster Front tätigen Wissenschaftler (allen voran Prof. Drosten), haben sich angesichts der großen Gefahr, die von der Pandemie ausging, vorbehaltlos in den Dienst der Sache gestellt und sich darüber hinaus auch noch als gute Wissenschaftskommunikatoren erwiesen. Das alles hat dazu geführt, das die Fehlerquote, die in Deutschland im Umgang mit der Pandemie zu beobachten war, im internationalen Vergleich ziemlich klein war. Fehlerfreiheit war unter den Bedingungen einer völlig neuartigen Bedrohungslage nicht zu erwarten. Natürlich gab es auch Reibereien, Unstimmigkeiten und Konkurrenz unter den Beratern. Auch die besten Wissenschaftler sind nicht frei von menschlichen Schwächen. Aber ein Blick auf die internationalen Vergleichsdaten zum Verlauf der Pandemie in den westlichen Ländern zeigt, dass trotz aller Schwäche das deutsche Krisenmanagement besser war als das in den anderen Ländern. Es soll nicht unterschlagen werden, dass dazu auch das überaus disziplinierte Verhalten der deutschen Bevölkerung beigetragen hat. Aber auch das kann durchaus in einem positiven Zusammenhang mit der funktionierenden Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik stehen. Schlechte Narrative hatten in der Covid 19 Pandemie keine Chance. Nur sehr schlechte haben es über die sozialen Medien in die Schlagzeilen gebracht. Hätten die Medien dem nur die Aufmerksamkeit gegönnt, die sie verdient hätten, wären sie kaum aufgefallen. Leider stand die Medienabdeckung aber in keinem Verhältnis zur quantitativen und qualitativen Bedeutung der „Querdenker“.
Bei Covid 19 hat die Beratung funktioniert, weil die Krise schlagartig kam und außer den echten Experten niemand da war, der scheinwissenschaftliche Beratung hätte machen können. Bei der Klimafrage, und grundsätzlich bei allen Fragen, die ökonomischer Natur sind, ist das anders. Dort müssten die Voraussetzungen dafür, dass Beratung nach dem positiven Beispiel der Pandemieberatung ablaufen kann, erst noch geschaffen werden. Das kann nur die Politik erledigen – und das ist das Problem. Wirklich unabhängige Beratung durch Wissenschaftler, die nur methodischen Standards verpflichtet sind, aber keinem Parteibuch, keiner Weltanschauung, ist unberechenbar. Politiker müssten bereit sein, einen erheblichen Kontrollverlust hinzunehmen. Sie müssten akzeptieren, dass es Gremien gibt, die ihrer Politik attestieren (und zwar versehen mit wissenschaftlichen Weihen), dass sie nicht die richtigen Antworten auf die Probleme gibt. Politiker könnten gewissermaßen durchfallen mit ihren Vorschlägen – und müssten erhebliche Nachteile im Kampf um eine Mehrheit in Kauf nehmen. Schlimmer noch, um das zu verhindern, müssten sie proaktiv den Rat von Wissenschaftlerinnen einholen, und damit gefühlt Macht an die Wissenschaft abtreten. Vermutlich werden Politiker das nicht tun – jedenfalls nicht ganz freiwillig. Aber vielleicht kann man sie schubsen, denn es gibt ja noch eine weitere Institution, die Einfluss nehmen kann, die Medien.
Eine rational handelnde Journalistin wird keine Anstrengungen unternehmen, um sich im Hinblick auf die Themen, über die sie berichtet, Kompetenz anzueignen. Warum auch sollte sie das tun? Ob sie kompetent berichtet, oder einfach nur das abschreibt, was Kollegen und Kolleginnen schon immer zu dem Thema geschrieben haben, macht keinen Unterschied, denn ihre Kunden, die Leser oder Zuschauer, können die Kompetenz ihrer Berichterstattung nicht beurteilen. Auch wenn die Journalistin, vielleicht ohne es zu wissen, ein schlechtes Narrativ weitergibt, kann sie sicher sein, dass sie keinen Rüffel von der Chefredaktion bekommt, denn das machen schließlich alle so.
Auch Journalisten sind letztlich darauf angewiesen, dass sie verlässliche Quellen haben, aus denen sie Informationen erhalten, die auf dem besten verfügbaren Wissen beruhen, das über das jeweilige Problem existiert. Allerdings müssten sie in der Lage sein zu beurteilen, welche Information diese Qualität hat und welche nicht. Dafür brauchen sie selbst eine entsprechende Qualifikation. Die zu erwerben, ist aber keine rationale Strategie – siehe oben.
So kann es denn vorkommen, dass in Redaktionen Menschen sitzen, die Medizin studiert haben und nun in der Wirtschaftsredaktion arbeiten.65 Das fällt nicht weiter auf. Das Problem dabei ist, dass die Medien eigentlich die Aufgabe haben, die Narrative, die Wissenschaftler nicht formulieren können, weil sie zu kompliziert denken, aufzuschreiben, um sie so den Menschen nahe zu bringen. Dafür müssten sie aber in der Lage sein, gute von schlechten Narrativen zu unterscheiden. Und sie müssten verstehen, was Wissenschaftler sagen. Man kann nur übersetzen, wenn man beide Sprachen spricht. Ihre Kontrollfunktion gegenüber der Politik verlangt ebenfalls nach einer hohen Qualifikation. Auch dort müssten sie in der Lage sein zu erkennen, wenn ein Politiker den Wählerinnen ein schlechtes Narrativ unterzujubeln versucht. Sie wären dazu in der Lage, wenn sie mit hohem Verständnis der Wissenschaft folgen und echte wissenschaftliche Erkenntnis von wissenschaftlicher Folklore unterscheiden könnten. Und wenn sie das könnten, dann würden Politiker wissen, dass es nicht so leicht ist, schlechte Narrative unterzubringen und dann würde sich ihre Beziehung zur wissenschaftlichen Beratung ändern. Journalistinnen könnten den entscheidenden Nudge durchführen, der dazu führt, dass sich die Politik anders mit wissenschaftlicher Beratung auseinandersetzt, als sie das heute tut. Aber auch dafür bedarf es einer strukturellen Reform.
Wie kann man erreichen, dass es sich für Journalisten und Herausgeberinnen lohnt, in hohe fachliche Qualifikation zu investieren? Natürlich kann man das nicht vorschreiben. Es wäre ein unzulässiger Eingriff in die Pressefreiheit, wenn man von jedem Wirtschaftsredakteur verlangen würde, dass er ein Ökonomiestudium vorweisen kann. Auf der anderen Seite: Es darf niemand einen Bäckerladen oder ein Friseurgeschäft eröffnen, wenn er oder sie keinen Meisterbrief vorweisen kann. Der Zwang zur Meisterpflicht wurde 2004 gelockert, ist aber 2020 wieder verschärft worden. Der Grund ist, dass die Konsumenten davor geschützt werden sollen, dass handwerkliche Leistungen unsachgemäß ausgeführt werden und das zu Gefährdungen führt. Das Ganze hat etwas mit asymmetrischer Information zu tun. Wenn Sie in ihrem Haus oder ihrer Wohnung eine elektrische Leitung neu verlegen wollen und dafür einen Elektriker engagieren, weil Sie selbst davon keine Ahnung haben, dann wissen Sie nicht, welche fachliche Qualität der Handwerker hat, der Ihnen ein Angebot unterbreitet. Natürlich wird er von sich behaupten, dass er die Sache im Griff hat und dass Sie sich auf die Qualität verlassen können – aber glaubwürdig ist das nicht, denn das sagen natürlich alle, auch die Pfuscher. Die Meisterpflicht löst dieses Problem, denn jetzt gibt es eine unabhängige Institution (die Handwerkskammer), die dem Elektriker glaubwürdig attestiert, dass er sein Handwerk versteht. Sie können ihm also vertrauen und den Auftrag erteilen.
Entscheidend ist die Existenz einer Institution, die der Qualifikation des Handwerkers Glaubwürdigkeit verleiht. Sollte es etwas Ähnliches nicht auch für Journalisten geben? Allein die Existenz eines entsprechenden Gütesiegels würde vermutlich dafür sorgen, dass Anreize entstehen, Redaktionen zu gründen, die nur mit entsprechend qualifizierten Menschen besetzt sind. Presseorgane, die in dieser Weise aufgestellt sind, können ein glaubwürdiges und verlässliches Qualitätssignal senden und Leser oder Zuschauer könnten sicher sein, dass die Menschen, die sie mit Nachrichten und Kommentaren versorgen, von den Dingen, über die sie berichten auch etwas verstehen. Sie könnten sich darauf verlassen, dass die Redakteure und Reporterinnen gute von schlechten Narrativen unterscheiden können, dass sie in der Lage sind, mit Wissenschaftlern zu sprechen und zu erkennen, ob sie von denen echte wissenschaftliche Erkenntnis erhalten, für die es entsprechende Evidenzen gibt, oder ob es sich um interessengeleitete Scheinwissenschaft handelt. Die Existenz solcher Redaktionen hätte wiederum Auswirkungen auf andere Redaktionen, die sich zwangsläufig an den Benchmarks der Qualitätsredaktionen messen lassen müssten.
Voraussetzung für alles das wäre ein wissenschaftliches Ausbildungskonzept für Journalisten, das sich unteranderem an dem Erfordernis orientiert, dass Journalisten gute von schlechten Narrativen unterscheiden, und verlässliche Recherchen auf der Basis amtlicher Statistiken selbst durchführen können. Das geht nur, wenn damit eine Spezialisierung einhergeht und der ausgebildete Wirtschaftsredakteur nicht doch im Feuilleton oder beim Sport landet.
Stellen wir uns vor, dass beide institutionellen Reformen gelängen. Das würde natürlich nicht alle Probleme lösen und schon gar nicht reibungslos funktionieren. Aber es würde in der Tendenz die Dinge besser machen. Dann gäbe es eine wissenschaftliche Politikberatung, die von Wissenschaftlern betrieben wird, die tatsächlich unabhängig sind und nur den wissenschaftlichen Standards verpflichtet wären. Und es gäbe Medien, die genau darüber kompetent berichten. Politiker könnten das nicht ignorieren. Sie müssten sich in diesen Beratungs- und Kommunikationsprozess einbringen und dabei würde so manches schlechte Narrativ über Bord gehen und zumindest der Anteil der guten Narrative würde steigen. Der Fluch der leichten Lösung wäre dann nicht aufgehoben, aber er wäre nicht mehr so bedrohlich, wie er es jetzt ist.
Audiodatei: (▶ https://doi.org/10.1007/000-akx)