Anfang März des Jahres 2021, zwei Monate nachdem der Sieger der amerikanischen Präsidentschaftswahl, Joe Biden, sein Amt angetreten hatte, hielt der Verlierer dieser Wahl, Donald Trump, seine erste Rede nach der von ihm niemals eingestandenen Wahlniederlage. Seine Zuhörer in Orlando waren Teilnehmer der Conservative Political Action Conference. Es war ein Heimspiel für den Ex-Präsidenten. Er nutzte es, um zu wiederholen, dass er die Wahl nicht verloren habe, dass alles ein Komplott der Demokraten sei, dass der neue Präsident die USA in den Kommunismus führen werde und dass die Republikaner, die gewagt hatten ihn zu kritisieren, Rinos (Republican in name only) seien. Jede einzelne dieser Aussagen lässt sich relativ einfach als eine schlichte Lüge entlarven. Es war wie immer. Trump log sich die Welt so zusammen, wie sie für ihn sein sollte und wie er sie sehen will. Man kennt das. Wir, die gut gebildeten und ebenso gut informierten Mitteleuropäer, wissen, dass es sich so verhält. Und wie in den vier Jahren zuvor schauen eben diese Europäer über den Atlantik und fragen sich fassungslos, wie es sein kann, dass diesem Mann Tausende fanatischen Beifall spenden und ihn als ihren Helden feiern. Wir wissen, das ist keine kleine Minderheit verwirrter Menschen. Nein, Trump kann sich nach wie vor auf eine breite Basis stützen, die 30 bis 40 % der amerikanischen Wähler umfasst. Wir wissen das und wir fragen uns „wie können sie nur?“ Wie können sie nur einem Mann folgen, der seine Präsidentschaft als lebende Karikatur verbracht hat? Der keinen Beweis schuldig geblieben ist, dass er mit dem Amt, das er innehatte, heillos überfordert war? Ja, die Europäer waren und sind in großer Mehrheit und über alle Bildungsschichten hinweg fassungslos erstaunt über das Verhalten der Trump-Anhänger.
Unsere Fassungslosigkeit wird vermutlich nur noch von der übertroffen, die die Amerikaner in der Zeit nach 1933 erfasst haben muss, wenn sie die Berichte aus Deutschland in den Nachrichten gelesen haben. Offensichtlich ist Lügen zu glauben und Lügnern fanatisch zuzujubeln keine amerikanische Spezialität. Schaut man ein bisschen genauer hin, dann zeigen beide Beispiele, dass es auch keine Spezialität ungebildeter, hoffnungsloser Menschen ist. Dennoch, verehrter Leser, sind wir uns wahrscheinlich einig darin, dass wir, Sie und ich, weder den Nationalsozialisten noch Donald Trump auf den Leim gegangen wären. Wir hätten erkannt, dass es keine jüdische Weltverschwörung gibt und dass man Wahlen in den USA nicht einfach manipulieren kann. Und deshalb bleiben wir vermutlich dabei, uns darüber zu wundern, wie die Anderen das alles nicht sehen konnten. Warum, fragen wir uns, gebärden sie sich wie eine tumbe Masse, blind für die Fakten, blind für die Wahrheit? Wie können sie nur?
Auch ohne den Zusammenhang zu kennen, in den Bredekamp diesen Satz gestellt hat (mit dem wir uns noch befassen werden), ist klar, dass mit ihm Unerhörtes gesagt wird. Er macht Populismus ausgerechnet dort aus, wo er am allerwenigsten etwas zu suchen hat, wo Vernunft und Informiertheit in der höchsten Konzentration vorzufinden sein sollten, die sich in einer Gesellschaft auftreiben lässt – in der Akademia. Ein Fauxpas? Ein Ausrutscher? Durchaus nicht. Populistische Lehren, die aus halbwahren oder falschen Fakten und viertelklugen Interpretationen entstehen, gibt es auch in Gruppen, deren Mitglieder als gebildet gelten können und die sich selbst für gut informiert halten – jedenfalls als besser informiert als die meisten anderen Menschen. Aber ein bisschen besser informiert zu sein als der Rest reicht nicht, um die komplexen Probleme, um die es häufig geht, tatsächlich verstehen zu können. Wir alle sind im Hinblick auf die allermeisten wichtigen Zusammenhänge in dieser Welt Dilettanten. Je nach Ausbildung und Beruf verstehen wir einzelne Aspekte unserer Umwelt wirklich gut, aber von den meisten wissen wir – wie die meisten anderen auch – sehr wenig. Ein bisschen Information reicht deshalb schon, um uns ein Gefühl der Überlegenheit zu geben, uns glauben zu lassen, wir könnten ein fundiertes Urteil abgeben – und schon entsteht aus Halbwissen und Viertelklugheit eine populistische Sicht.„Der Populismus geht oftmals nicht von halbklugen Scharfmachern aus, sondern von den Universitäten und anderen akademischen Einrichtungen.“
Beispiele dafür gibt es zuhauf und eines davon behandelt Herr Bredekamp in dem oben zitierten Artikel. Bevor wir darauf zu sprechen kommen, sei ein anderes Beispiel erwähnt, das aus einem Gebiet stammt, aus dem in diesem Buch immer wieder Beispiele entliehen werden: Die Klimapolitik. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens handelt es sich um das Thema, das zweifellos als das wichtigste weltumspannende Thema unserer Epoche angesehen werden kann und zweitens ist es eines der wenigen Gebiete, auf denen der Verfasser dieses Buches von sich behaupten kann, es so tief, lange und gründlich studiert zu haben, dass er das Dilettantenstadium bei der Diskussion um Klimapolitik hinter sich lassen konnte.1
Im Jahre 2008 wurde in Berlin über die dritte Änderung des Energieeinsparungsgesetzes (EnEG) beraten. Wie üblich in solchen Gesetzgebungsverfahren wurden Experten in den Bundestag eingeladen, um zu dem Gesetzentwurf Stellung zu nehmen. Mir wurde dabei die Ehre zuteil, mich als einer von insgesamt fünf Experten im zuständigen Ausschuss des Bundestages zu dem Entwurf äußern zu dürfen. Theoretisch ist ein Austausch zwischen Politikern und unabhängigen Experten natürlich eine gute Sache, mit der man die Qualität der Gesetze tendenziell verbessern kann. Tatsächlich sind solche Anhörungen aber reine Pflichtübungen für die Abgeordneten, denn die Bewertung des Gesetzes steht lange vorher fest und kein noch so gutes Expertenargument kann an dessen Text auch nur eine Kommasetzung verändern. Es war das erste Mal, dass ich zu einer Anhörung eingeladen wurde und um ehrlich zu sein, hatte ich damals noch die naive Vorstellung, dass diese Veranstaltungen einen tieferen Sinn haben und tatsächlich der Information der Abgeordneten dienen. Dass die Presseerklärungen zu der Ausschusssitzung meistens schon vor der Anhörung ausliegen, habe ich erst später mitbekommen.
In dem dritten Änderungsentwurf des EnEG ging es im Kern um folgenden Punkt: Der Bundesregierung sollte die Ermächtigung erteilt werden, sogenannte Nachtspeicherheizungen im Wohnungsbestand stilllegen zu dürfen. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass Heizungen mit Strom betrieben wurden, weil diese Art zu heizen nicht sehr energieeffizient ist und deshalb abgeschafft werden sollte. Ziel des Ganzen war natürlich, durch eine höhere Energieeffizienz im Wohnungssektor CO2 einzusparen. Erreicht man dieses Ziel, wenn man die Nachtspeicheröfen abklemmt? Nicht wirklich. Und das liegt daran, dass wir in Europa seit 2005 einen Emissionshandel für CO2 installiert haben. Um zu sehen, dass das EU ETS (EU Emission Trading System) dazu führt, dass das dritte EnEG keine gute Idee war, muss man wissen, wie der Emissionshandel funktioniert. Mein Plan war, genau dies den Abgeordneten zu erklären.
Zunächst muss man wissen, dass ein ETS aus zwei Stufen besteht. Auf der ersten Stufe werden zwei wichtige Entscheidungen getroffen. Die erste betrifft die Frage, welche Emittenten dem ETS unterliegen. In Europa sind das alle Kraftwerke, zahlreiche Industrieunternehmen und der inner-europäische Flugverkehr. Sie alle zusammen bilden den ETS-Sektor, in dem etwa 45 % der europäischen CO2-Emissionen stattfinden. Die zweite Entscheidung, die auf der ersten Stufe getroffen werden muss, legt fest, wie viele Tonnen CO2 in diesem Sektor jedes Jahr noch emittiert werden dürfen. Diese Menge definiert den sogenannten Cap (kommt von „cap and trade“, der englischen Bezeichnung für den Emissionshandel). Das so festgelegte CO2-Budget sinkt jedes Jahr und so werden die Emissionen im ETS Sektor mengenmäßig kontrolliert und zurückgefahren. Über jede einzelne noch erlaubte Tonne wird ein sogenanntes Emissionsrecht ausgestellt und jeder, der im ETS-Sektor tätig ist, braucht ein entsprechendes Zertifikat, wenn er eine Tonne emittieren will.
Wer wieviel von dem so geschaffenen CO2-Budget in Anspruch nehmen darf, entscheidet sich auf der zweiten Stufe des ETS, dem Handel mit den Emissionsrechten. Mit diesem Handel wird erreicht, dass die CO2-Einsparung, die notwendig ist, um das immer knapper werdende Budget einzuhalten, dort stattfindet, wo es die geringsten Kosten verursacht. Der Mechanismus, der dafür sorgt, ist simpel: Es gibt Emittenten, bei denen ist es relativ einfach und deshalb billig, CO2 zu vermeiden, und es gibt andere, bei denen ist das Gleiche teuer. Für die Emissionsquellen mit geringen Vermeidungskosten lohnt es sich, viel CO2 einzusparen, weil sie die dann nicht mehr benötigten Emissionsrechte an die Unternehmen verkaufen können, die hohe Vermeidungskosten haben. Auf diese Weise wird die Vermeidung von CO2 dort durchgeführt, wo sie wenig kostet, und die Emission des noch erlaubten Budgets findet da statt, wo es teuer wäre zu vermeiden und der Nutzen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe sehr hoch ist. Darum geht es. Nur wenn wir die CO2-Vermeidung zu minimalen Kosten realisieren, können wir mit dem, was wir für den Klimaschutz einsetzen, die maximale Emissionsvermeidung erreichen.
Was hat das alles nun mit den deutschen Nachtspeicheröfen zu tun? Stellen wir uns vor, wir würden tatsächlich alle Nachtspeicheröfen abschalten. In Deutschland würde dann (vor allem nachts) weniger Strom benötigt und es wäre möglich, die Leistung von Kohlekraftwerken oder Gaskraftwerken herunterzufahren und dadurch CO2 zu sparen. Würde dadurch die CO2-Emission in Europa sinken? Nein, denn die Emissionsrechte, die in deutschen Kraftwerken dann nicht mehr gebraucht werden, würden auf dem Markt für diese Rechte veräußert und die entsprechenden Emissionen fänden dann beim Käufer statt. Die Emission wird also nur verlagert, nicht aber vermieden. Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Wir haben ja gerade alle Nachtspeicheröfen abgeschaltet. 2008 gab es davon immerhin noch etwa eine Million in Deutschland. Werden die Menschen, die jetzt keine Heizung mehr haben, in Wollsachen investieren oder in eine neue Heizung? Natürlich letzteres und das läuft darauf hinaus, dass dort, wo jetzt keine Stromheizung mehr steht, eine mit Gas oder Öl betriebene Heizung in Betrieb genommen wird. Wäre der Wärmemarkt Teil des EU ETS, würde sich dadurch die CO2-Emission nicht verändern, denn dann müssten für die neuen Heizungen Emissionsrechte erworben werden, die beispielsweise in den Kraftwerken gerade frei geworden sind. Aber der Wärmemarkt ist nicht Bestandteil des ETS und das bedeutet, dass die CO2-Emissionen der neuen Öl- und Gasheizungen zusätzlich entstehen. Es kommt deshalb nicht zu einem Rückgang der CO2-Emissionen, wenn die Nachtspeicheröfen aus dem Verkehr gezogen werden, sondern zu einem Anstieg. Das dritte EnEG würde also das exakte Gegenteil dessen bewirken, was mit ihm laut Gesetzestext bezweckt wurde.
In dem Raum, in dem die Anhörung stattfand, waren die Sitzplätze der Abgeordneten halbkreisförmig und etwas erhöht angeordnet. Die Experten saßen eine Etage tiefer den Volksvertretern gegenüber. Es ergab sich, dass ich als Letzter an die Reihe kam, meinen Kommentar zum Gesetz vorzutragen. Die vier anderen Experten (jeder von einer anderen Partei ernannt), befassten sich in ihren Kommentaren ausschließlich mit technischen Details des Gesetzes, die mit der Wirkung auf die CO2-Emissionen nichts zu tun hatten. Während ich den anderen zuhörte, wurde mir zunehmend mulmiger zumute. Wie kam es, dass niemand auf den Konstruktionsfehler des Gesetzes hinwies? Hatte ich am Ende einen Fehler gemacht? Etwas Wichtiges übersehen? Gab es den Widerspruch, den ich ausgemacht hatte, vielleicht gar nicht? Einen Plan B hatte ich allerdings auch nicht, es blieb nichts Anderes übrig, als genau das vorzutragen, was ich vorbereitet hatte.
Als ich an die Reihe kam und begann über den Emissionshandel zu sprechen, fiel mir auf, dass nun die anderen Experten etwas unruhig wurden und mich überrascht und irritiert musterten. Den Abgeordneten war nicht anzusehen, ob sie das, was ich da vorbrachte, für ausgesprochenen Blödsinn hielten oder mir glaubten. Entsprechend groß war meine Anspannung, als ich fertig war. Sollte ich danebenliegen, gab es zwei mögliche Reaktionen auf meinen Vortrag. Man konnte ihn einfach ignorieren oder mich belehren. Aber nichts dergleichen geschah. Vielmehr war es erstaunlich lange still in dem Raum, bis einer der Abgeordneten sich räusperte und sagte, dass das, was Herr Weimann da vorgetragen habe, eine neue und wichtige Einsicht sei. Nach der Sitzung kam die Ausschussvorsitzende zu mir und erklärte, dass sie sich sofort an Brüssel wenden wolle, um zu erreichen, dass der Cap um die CO2-Menge reduziert wird, die wir durch das EnEG einsparen. Auch das ist keine gute Idee, aber ihre Reaktion zeigte mir noch einmal, was ich kaum für möglich gehalten hatte: Dem Gesetzgeber waren die Folgen und Konsequenzen seines eigenen Handelns nicht klar gewesen – und den Experten auch nicht. Wie können sie nur?!
Es war relativ einfach, den Widerspruch des EnEG zu durchschauen, wenn man sich wie ich jahrelang mit Klimapolitik im Allgemeinen und dem Emissionshandel im Speziellen befasst hat. Wenn man das nicht getan hatte, war es keineswegs einfach. Den Bundestagsabgeordneten und den Experten, die vermutlich einen juristischen Hintergrund hatten, ist deshalb kein Vorwurf zu machen. Aber das Beispiel zeigt, dass selbst in informierten und gebildeten Kreisen Vorstellungen und Ideen herrschen können, die sich bei genauerem Hinsehen als falsch und widersprüchlich herausstellen. Und das Beispiel des Emissionshandels zeigt, dass solche Defizite sehr hartnäckig und langlebig sein können, denn auch heute, dreizehn Jahre nach der damaligen Anhörung, hat sich das Verständnis für dieses zentrale klimapolitische Instrument sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Politik noch nicht viel weiterentwickelt. Wir werden auf diesen Punkt noch mehrfach zu sprechen kommen.
Das Beispiel der Anhörung zum EnEG zeigt aber noch mehr. Obwohl die Reaktion der anwesenden Abgeordneten (es waren nur ein paar) und der Ausschussvorsitzenden eigentlich ermutigend waren, wurde das Gesetz in unveränderter Form verabschiedet. Die Parlamentarier, die zugegen waren, werden den Zwischenfall schnell wieder vergessen haben. Die Vorstellung, dass wissenschaftliche Beratung dazu dient, politische Entscheidungen rationaler, das bedeutet konsistent und widerspruchsfrei, zu gestalten, ist naheliegend, aber naiv. Es gibt Ausnahmen, aber in der Regel geht es nicht darum, populistische Vorstellungen zu überwinden und der bestmöglichen Lösung eines Problems möglichst nahe zu kommen. Vielmehr geht es darum, Bestätigung für die leichten Lösungen zu gewinnen, die die Politik anbietet, weil nur solche im politischen Wettbewerb verwertbar sind. Warum das so ist und welche Folgen das hat, wird eine der Fragen sein, die in diesem Buch beantwortet werden sollen.
Kehren wir an dieser Stelle noch einmal kurz zu dem Artikel zurück, den Herr Bredekamp in der FAZ veröffentlicht hat. Es geht darin um eine Auseinandersetzung, die sich an der Bewertung von Gegenständen entzündet, die im Humboldt Forum in Berlin ausgestellt werden sollen und von denen Vertreter des sogenannten „Postkolonialismus“ behaupten, dass es sich um Raubkunst handle, an der „Blut klebt“ und die zurückgeführt gehört. Die teilweise erbitterte Diskussion darum habe dazu geführt, dass, so Bredekamp, das Humboldt Forum „als Trutzburg von Raubkunst“ erscheinen müsse. Dagegen verwahrt er sich energisch und weist darauf hin, dass das Forum und die Institutionen, die es tragen, sich einem Antikolonialismus verpflichtet fühlen, der schon in den Berliner Museen der Kolonialzeit angelegt war. So habe sich das Berliner Völkerkundemuseum schon 1915 geweigert, die „vergifteten“ Exponate aus dem extra geschaffenen Kolonialmuseum zu übernehmen, als dieses geschlossen werden musste, weil sich das Publikum nicht für die dort zu besichtigende Raubkunst interessierte. Bredekamp weist darauf hin, dass die Arbeit des Völkerkundemuseums von einer „antirassistischen und unhierarchischen Definition des Sammelns“ getragen wurde, bei der es darum ging, Alltagsgegenstände zu erhalten, um so das Leben der indigenen Völker zu dokumentieren und in Erinnerung zu behalten. Bredekamp spricht von einem Kulturbegriff, der sich „nicht von den Palästen, sondern von den Hütten her bestimmt“.
Von all dem findet sich in den Artikeln, die sich im SPIEGEL2 oder in der ZEIT3 über die Kontroverse um das Humboldt Forum finden lassen, kein Wort. Vielleicht zu Recht? An dieser Stelle holt mich mein Dilettantismus ein. Ich verstehe einfach viel zu wenig von diesen Dingen, um mir ein fundiertes Urteil erlauben zu können. Und ich fühle mich vollkommen überfordert, mir alle die Informationen anzueignen, die notwendig wären, um zu einem solchen Urteil kommen zu können. Und dennoch. Es machen sich Zweifel breit. Vielleicht ist die einfache Lösung, die darin besteht, dass alles Raubkunst ist, was während der Kolonialzeit nach Europa geschafft wurde, doch auch nur eine Art akademischer Populismus. Dieser Eindruck entsteht und er ist ganz unabhängig davon, in welchem Ausmaß Herr Bredekamp oder seine Gegenspieler Recht haben mögen.
Akademischen Populismus zu erkennen ist schwierig, weil er meist gut getarnt daherkommt. Eine Enttarnung ist nur mit einigem Aufwand möglich und setzt spezielle Kenntnisse und vertieftes Wissen voraus, über die in der Regel nur Menschen verfügen, die sich sehr intensiv mit der jeweiligen Materie befasst haben. Dennoch liegt der Verdacht nahe, dass er verbreiteter ist, als wir ahnen. Komplexe Probleme, für die einfache Antworten bereitstehen, gibt es jedenfalls genug. Ein Streifzug durch eine beliebige überregionale Tageszeitung zu einem beliebigen Zeitpunkt reicht, um eine veritable Sammlung zusammenzustellen. Die Bewaffnung der Bundeswehr (Sturmgewehr, Drohnen), die Frage, wie wir auf die anstehende demografische Veränderung der nächsten 15 Jahre reagieren sollen (Renten, Gesundheitswesen), der Zustand des Profifußballs, das Energiesystem der Zukunft (erneuerbare Energien, Wasserstoff), die Herausforderungen der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz, die außenpolitische Einbindung Deutschlands (EU und NATO) und die Frage, wie wiedervereint unser Land eigentlich ist und was für eine vollständige Wiedervereinigung noch zu tun wäre, alles das ist nur eine winzige und willkürliche Auswahl von Problemen und Fragestellungen, die geeignet sind, mehr oder weniger populistisch beantwortet zu werden. Und wir selbst, die Bürger dieses Landes, sind fast immer überfordert, wenn es darum geht zu erkennen, wie gut, wie fundiert, wie durchdacht und wie angemessen eine Antwort auf eine dieser Fragen oder ein Lösungsvorschlag für eines dieser Probleme ist.
Man muss an dieser Stelle eine wichtige Unterscheidung hervorheben. Bei der Beurteilung eines Problems oder eines Sachverhaltes spielen zwei Dinge eine Rolle. Erstens die persönlichen Einstellungen, Präferenzen oder Weltanschauungen. Die sind ganz allein Sache jedes einzelnen Menschen und um die soll es hier nicht gehen. Zweitens sollte jedes Urteil, das man fällt, auf Informationen über die tatsächlich vorliegenden kausalen Zusammenhänge beruhen und auf den dafür notwendigen Daten und Fakten. Etwas wissenschaftlicher formuliert: Urteile sollten auf den vorliegenden Evidenzen beruhen. Das bedeutet nicht, dass zwei Menschen, die die gleichen Evidenzen kennen, auch zu dem gleichen Urteil kommen. Die letztendliche Beurteilung der Fakten hängt eben auch von den persönlichen Einstellungen ab. In diesem Buch geht es immer um die Evidenzen und darum, ob Demokratien eine Chance haben, diese extrem wichtige Grundlage für Entscheidungen an den Mann und die Frau zu bringen.
Das Spektrum populistischer Positionen, die sich um die vorliegenden Evidenzen nicht scheren, reicht von akademischen bis zu sehr simplen Angeboten. Letztere sind leicht zu durchschauen. Zumindest insofern, als leicht zu erkennen ist, dass die Positionen, die dort vertreten werden, einer Konfrontation mit der Realität nicht standhalten. Das gilt nicht nur für die Positionen, die Trump im fernen Amerika vertritt, es gilt auch für viele extreme „Querdenker“, mit denen sich Deutschland seit geraumer Zeit herumschlagen muss. Aber auch bei diesem Beispiel zeigt sich, dass die sehr einfachen Lösungen (Corona gibt es nicht, und wenn, dann ist das auch nur eine Grippe) nicht nur bei notorisch schlecht informierten und unterdurchschnittlich gebildeten Menschen verfangen. Gegner einer konsequenten Bekämpfung der Pandemie gab es (und gibt es vermutlich) in allen Bildungsstufen. Offensichtlich geht von sehr einfachen Lösungen eine ganz eigene Faszination aus, die sich nicht zuletzt in dem Fanatismus zeigt, mit dem ihre Anhänger sie vortragen. Es wird später noch zu klären sein, warum Fake News, Echokammern und Verschwörungstheorien so weite Verbreitung in den westlichen Demokratien finden konnten. Fakt ist, dass auch von dieser Seite populistische Lösungen angeboten werden, die auf viele Menschen sehr anziehend wirken.
Nimmt man alle diese Beobachtungen zusammen, so zeigt sich, dass es offensichtlich möglich ist, dass wir einfachen falschen Lösungen folgen, die zustande kommen, weil Problemlösungen nicht zu Ende gedacht werden und man wichtige Evidenzen ignoriert. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein, weil wir populistische Lösungen, die aus dem vermeintlich gut informierten Lager kommen, nicht als solche erkennen. Bedeutet das auch, dass wir als Gesellschaft eine hohe Bereitschaft besitzen, zu einfache Lösungen zu akzeptieren und umzusetzen? Ist unsere Politik vor allem eine Ansammlung populistischer Lösungen? Warum sollte das so sein? War es nicht schon immer so, dass kaum jemand in der Lage war, Alles verstehen zu können? Mussten wir uns nicht schon immer mit den einfachen Lösungen zufriedengeben? Und sind wir damit nicht eigentlich ganz gut gefahren? Mag sein. Aber die Dinge haben sich verändert.
Audiodatei:( https://doi.org/10.1007/000-akd)