Menschen suchen nach einem umfassenden Weltverständnis. In der psychologischen Literatur wird „sense-making“, der Wunsch, den Sinn von Dingen und Phänomenen zu verstehen, als ein Trieb bezeichnet, der durchaus gleichzusetzen sei mit dem Trieb, Durst zu löschen, Hunger zu stillen oder dem Sexualtrieb.4 Es gibt gute Gründe dafür, warum dieser Trieb in uns entstanden ist, als die Menschheit ihre evolutionäre Prägung erfuhr. Allerdings fand diese Prägung unter Umständen statt, die mit denen, unter denen Menschen heute leben, nur noch sehr wenig gemeinsam haben. Wir laufen dennoch mit diesem Trieb herum und wünschen uns zu verstehen, was um uns herum geschieht. Dabei sind wir längst mit einer Welt konfrontiert, die uns keine Chance auf ein umfassendes Verständnis lässt.
Zu einem erheblichen Teil ist das die Folge unseres eigenen Erfolges. Der technische und der gesellschaftliche Fortschritt der letzten beiden Jahrhunderte war phänomenal. Dazu kommt, dass die Bevölkerung auf allen Kontinenten sehr stark gewachsen ist. Als Resultat haben wir heute eine Welt, die durch globale Vernetzung, einen ungebremst davonrasenden technischen Fortschritt gekennzeichnet ist und in der Alles von Allem abhängig zu sein scheint. Kein Wunder, dass es immer schwerer wird, die Welt zu verstehen. Aber diese Tatsache ändert nichts daran, dass der „sense-making“ Trieb in uns wirkt und uns antreibt. Die Folge ist ein unauflösbarer Widerspruch zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir können. Damit kann man nicht leben.
Ein Trieb, der nicht befriedigt werden kann, schreit permanent nach Kompensation. Er verlangt nach Befriedigung, auch wenn diese nicht den Zweck erfüllt, für den die Evolution uns mit diesem Trieb ausgestattet hat. In einem Leben als Jäger und Sammler war es überlebenswichtig, den Zusammenhang der Dinge zu erkennen, Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren, weil man sich nur dadurch mit Nahrung versorgen und vor Feinden schützen konnte. Der evolutionäre Sinn des „sense-making“ Triebs bestand darin, uns mit der lebensnotwendigen Neugier auszustatten, die dazu gebraucht wurde, um alles das über unsere Umwelt zu erfahren, was für das Überleben notwendig war. Mit dem Sexualtrieb wurden wir ausgestattet, weil er den Fortbestand der Art sichert. Kann dieser Trieb nicht ausgelebt werden, bleibt die Selbstbefriedigung als Kompensation. Was ist das Analogon dazu im Hinblick auf den sense-making Trieb?
Menschen suchen nach Erklärung. Sie suchen nicht danach, die richtige Erklärung für ein Phänomen zu finden. Eine Erklärung reicht, man muss sie nicht immer und immer wieder kritisch überprüfen. Es ist so, als würde man Karl Poppers kritischen Rationalismus mit einem negativen Vorzeichen multiplizieren.5 Für Popper gibt es keine Wahrheiten, sondern nur vorläufige Erkenntnisse, die noch nicht falsifiziert wurden, und der Wissenschaftler, der eine Erkenntnis erlangt hat, muss diese ständig auf den Prüfstand stellen, um zu testen, ob sie jedem Versuch der Widerlegung immer noch standhält. Der moderne Mensch aber denkt nicht an Falsifizierungsversuche. Ob eine Erklärung stimmt, ist nicht entscheidend, denn es reicht für die Befriedigung unseres Triebes, zu glauben, dass die Erklärung, die wir gefunden haben, die einzig richtige sei. In gewisser Weise ist es eine Frage der Fantasie, die ja auch bei der Selbstbefriedigung oft eine Rolle spielt. Wenn wir uns lebhaft genug vorstellen können, dass eine Erklärung richtig ist, dann erlangt sie den Status von Wahrheit. Deshalb bejubeln Menschen Führer, die ihnen ein Weltverständnis bieten, und wenn sie glauben, die Welt verstanden zu haben, verteidigen sie diesen Glauben mit allen Mitteln.
Menschen, die wissen wollen, wie die Welt funktioniert, sind mit der Komplexität der Welt chronisch überfordert. Sie sind notorisch unterinformiert und meistens unfähig das zu erkennen. Die Frage ist, was dieses permanente Unterverständnis mit uns und unserer Gesellschaft macht. Was geschieht, wenn Menschen unbedingt verstehen wollen, was sie nicht verstehen können? Das Problem ist nicht neu. Wie sind wir früher damit umgegangen und was ist heute anders?
Es ist offensichtlich, dass die Differenz zwischen dem, was wir verstehen wollen, und dem, was wir verstehen können, nicht verschwinden kann. Wenn die Welt zu komplex ist, um von uns verstanden zu werden, dann brauchen wir Methoden zur Komplexitätsreduktion und wir brauchen verlässliche Delegationsprozesse. Ein einfaches Beispiel mag das verdeutlichen. Um ein Auto fahren zu können, muss man nicht verstehen, wie es funktioniert. Es reicht, wenn man eine rudimentäre Vorstellung hat. Man sollte wissen, dass es einen Motor gibt, eine Kupplung und ein Getriebe und es wäre auch wichtig zu wissen, welche Funktion der Treibstoff hat und wo der Tank ist. Aber man muss sein Auto weder warten noch reparieren können, denn diese Aufgaben, für die ein deutlich tieferes Wissen notwendig ist, kann man an die Werkstatt seines Vertrauens delegieren. Dort muss das Verständnis vorliegen, das man selbst nicht hat, und wehe, der Mechaniker weiß auch nicht, wie es geht.
Das Beispiel verdeutlicht, dass die hohe Komplexität der Welt nicht ein grundlegendes, unlösbares Problem schafft. Es geht vielmehr darum, dass sich das Problem lösen lässt, wenn die richtige Form der Komplexitätsreduktion verwendet wird und wenn wir die Aufgabe, die Dinge zu verstehen und uns – soweit wie nötig – zu erklären, an die richtigen Personen delegieren. Für unser Auto ist dieses Problem leicht zu lösen. Wir fragen nicht unseren Gemüsehändler oder unsere Steuerberaterin, wenn der Wagen nicht anspringt, sondern rufen die Fachwerkstatt an. Aber was ist die richtige Fachwerkstatt, wenn es um komplexe Fragen des gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenspiels geht? An wen kann sich der amerikanische Bürger wenden, wenn er wissen will, ob „America first“ eine gute Idee ist, eine gelungene Komplexitätsreduktion oder barer Unsinn? Und wen soll eine deutsche Bürgerin fragen, wenn sie wissen will, ob es wirklich eine gute Strategie gegen den Klimawandel ist, wenn wir auf Windkraft und Solarenergie in Deutschland setzen? Ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) wirklich eine rationale Antwort auf den Klimawandel oder ist es einfach grüner Populismus, der auf einer fatal falschen Komplexitätsreduktion beruht?
Wir brauchen ein Verständnis, das auf Vereinfachung beruht, nicht auf Entstellung oder Verzerrung. Man muss uns die Welt so erklären, dass wir verstehen können und dabei keinen großen Fehler machen. Die notwendigen Erklärungen und Vereinfachungen müssen sich an dem orientieren, was an Wissen tatsächlich vorhanden ist, und die offenen Fragen, die Widersprüche und die Stellen, an denen es ohne eine subjektive Bewertung nicht geht, müssen dabei offen und transparent erkennbar sein. Das ist viel verlangt, aber dieser hohe Anspruch rechtfertigt sich dadurch, dass nur dann, wenn wir diesem Anspruch einigermaßen gerecht werden, das immer noch recht junge Experiment der Demokratie gelingen kann.
Der Kern jeder Form von Politik besteht darin, kollektive Beschlüsse zu fassen. Damit sind Beschlüsse gemeint, die eine Bindungswirkung für alle in einem Gemeinwesen lebenden Menschen haben. Ob es darum geht, welche Steuern wir zahlen, wie schnell wir auf der Autobahn unterwegs sein dürfen, wie wir umverteilen oder wie wir eine Pandemie bekämpfen – die durch staatliche Autoritäten gefassten Beschlüsse binden alle. Das demokratische Prinzip besteht darin, kollektive Beschlüsse nur dann zuzulassen, wenn sie von einer Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen befürwortet werden. Ohne die Zustimmung der Mehrheit kein kollektiver Beschluss. In letzter Konsequenz bedeutet das, dass die Qualität kollektiver Beschlüsse von dem Urteilsvermögen und damit der Informiertheit der Mehrheit abhängt. Politiker und auch Politikerinnen vertreten das, was sie für mehrheitsfähig halten und orientieren sich deshalb zwangsläufig am Informationsstand der Mehrheit.
Eine funktionierende Demokratie setzt informierte Wähler voraus, wobei wir noch klären müssen, was genau das bedeutet. Aber das allein reicht nicht, es muss auch ein demokratischer Wettbewerb organisiert werden, der dafür sorgt, dass alternative Beschlüsse zur Wahl gestellt werden, in denen sich die unterschiedlichen und vielfach gegensätzlichen Interessen gesellschaftlicher Gruppen wiederfinden und die um die Gunst der Mehrheit kämpfen. Im politischen System der repräsentativen Demokratie sind es die Parteien, die diesen Wettbewerb ausfechten. Sie konkurrieren um die Wählerstimmen, indem sie Programme anbieten, so wie Unternehmen Waren und Dienstleistungen. Auf Märkten haben nur die Unternehmen Erfolg, deren Produkte von den Nachfragern auch tatsächlich gewollt werden. In Analogie dazu geht das Demokratiemodell davon aus, dass der Parteienwettbewerb dafür sorgt, dass die Programme angeboten werden, die tatsächlich den Präferenzen und Wertvorstellungen der Männer und Frauen entsprechen, die wahlberechtigt sind. Auf diese Weise, so die Grundidee, gelingt eine Repräsentanz eben dieser Präferenzen und Wertvorstellungen im Parlament. Soweit die Theorie.6
Für die Stabilität demokratischer Gesellschaften ist es ausgesprochen wichtig, dass die politische Praxis dieses theoretische Ideal einigermaßen erfüllt. Dazu ist es notwendig, Entscheidungen zu treffen, die widerspruchsfrei den Interessen der im Parlament repräsentierten Menschen dienlich sind. Demokratien müssen sich jederzeit mit der Gefahr auseinandersetzen, dass sich die Wähler dem Gegenentwurf einer autokratischen Führung zuwenden können. Natürlich hat die Demokratie einen ganz eigenen Wert, der in einem gewissen Umfang nicht von der Qualität der getroffenen kollektiven Beschlüsse abhängt. Sie sichert Freiheit und Selbstbestimmung und schützt vor Willkür, Machtmissbrauch und Korruption. Deshalb sollte es eigentlich keine Alternative zur Demokratie geben, die ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Aber ein Blick in andere Länder und ein Blick auf unsere eigene Geschichte lehrt uns, dass das keineswegs ausgemacht ist. Deshalb tut es Demokratien gut, wenn sie sich als fähig erweisen, wenigstens häufig kollektive Entscheidungen zu treffen, die real existierende Probleme lösen, ohne denen, die den Beschlüssen folgen müssen, unnötige Lasten aufzuerlegen.
Auf den ersten Blick sollte es dabei keine allzu großen Schwierigkeiten geben. Schließlich haben wir mit dem Wettbewerb als Instrument der Problemlösung (und gleichzeitig als Instrument zur Begrenzung von Macht) sehr gute Erfahrungen gemacht. Warum sollte das, was in der Sozialen Marktwirtschaft funktioniert, auf dem Markt für Wählerstimmen nicht funktionieren? Die Antwort auf diese Frage lautet: Weil es ein gewaltiger Unterschied ist, ob ich einen Kühlschrank kaufen will oder herausfinden möchte, welche Partei das beste Angebot macht. Wenn es um den Kühlschrank geht, lohnt es sich Informationen einzuholen. Wenn ich lerne, welche Angebote es gibt, welche Qualität die einzelnen Anbieter offerieren, wenn ich den Energieverbrauch der unterschiedlichen Modelle kenne und verstehe, welchen Vorteil ein Null Grad Fach haben kann, dann kann ich für mich eine bessere Entscheidung treffen und die Auswirkungen dieser Entscheidung machen sich die nächsten zehn Jahre lang jeden Tag in meiner Küche bemerkbar. Ob ich mich über die Angebote der Parteien vor einer Wahl informiere oder nicht, kann vielleicht meine Stimmabgabe verändern, das Wahlergebnis aber ändert sich dadurch kein bisschen und die Politik der nächsten vier Jahre auch nicht. Mein Einfluss auf den nächsten Kühlschrank liegt bei 100 %. Bei einer demokratischen Wahl liegt die Wahrscheinlichkeit, dass meine Stimme in irgendeiner Form entscheidend ist, ziemlich nahe bei Null.
Informationsbeschaffung verursacht Kosten. Man muss Zeit und Aufwand investieren, um sich zu informieren. Beim Kühlschrank lohnt sich das, bei der demokratischen Wahl nicht. Man kann es auch so formulieren: Wähler und Wählerinnen, die sich rational verhalten, sind in aller Regel nur oberflächlich über politisch relevante Zusammenhänge informiert. Ich sehe den geneigten Leser und die geneigte Leserin förmlich den Kopf schütteln, weil diese Diagnose so gar nicht mit dem eigenen Empfinden übereinstimmt. Wie auch, Sie lesen ja dieses Buch, was beweist, dass Sie ein intrinsisches Interesse an den Zusammenhängen und an Politik haben. Da fällt es schwer sich vorzustellen, dass die meisten Menschen das nicht haben. Aber es gibt eine einfache Methode, um sich davon zu überzeugen, dass es dennoch so ist. Um sich zu informieren, muss man auf Massenmedien zurückgreifen, die politische Information anbieten. Zappen Sie einfach zur besten Sendezeit durch ihre Fernsehprogramme und zählen Sie, wie hoch der Anteil von informativen Sendungen ist. Schauen Sie sich die Downloadzahlen der Dokumentationen auf Netflix an oder der Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten oder recherchieren Sie die Auflagenhöhe der Qualitätspresse. Der empirische Befund ist immer der gleiche. Die Nachfrage nach Information ist relativ zur Nachfrage nach Unterhaltung verschwindend gering.
Das hat zwei wichtige Implikationen. Zum einen ist klar, dass damit ein noch einmal gesteigerter Bedarf an Vereinfachung, das heißt Komplexitätsreduktion einhergeht. Je geringer die Informationsnachfrage, umso kürzer und simpler müssen die Botschaften sein, die noch vermittelbar sind. Zum andern ist damit klar, dass Wähler anfällig sind für zu einfache, populistische Lösungen. Für die komplizierten, besseren Lösungen haben sie einfach keine Zeit.
Dieses demokratische Informationsproblem ist seit langem bekannt. Neil Postman hat das schon 1985 in seinem Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“ pointiert zu Papier gebracht und in der politischen Ökonomie geht man schon lange davon aus, dass dieses Informationsproblem durch die Verfügbarkeit von „Ideologien“ gelöst wird. Womit wir beim Thema sind.
Audiodatei: (▶ https://doi.org/10.1007/000-ake)