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J. WeimannEinfach zu einfachhttps://doi.org/10.1007/978-3-658-40697-4_8

8. Narrative

Joachim Weimann1  
(1)
LS für Wirtschaftspolitik, Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg, Deutschland
 

Fassen wir an dieser Stelle kurz zusammen, was in diesem Buch bisher geschrieben wurde, um den Zusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren. Im Kern geht es um Mehrheitsentscheidungen in Demokratien, das heißt darum, dass jede politische Entscheidung im Grundsatz die Zustimmung einer Mehrheit braucht. Allerdings wird es für die Menschen, die über alternative Lösungen für gesellschaftliche Probleme an der Wahlurne zu entscheiden haben, immer schwieriger, eine solche Entscheidung zu treffen, weil die Welt in rasender Geschwindigkeit komplexer und komplizierter wird. Die Menschen brauchen Hilfen, um informiert entscheiden zu können. Vor allem muss die Komplexität der Probleme geeignet reduziert werden, um sie für eine Mehrheit verstehbar zu machen. Früher hat man sich dazu einfach am weltanschaulichen Standort der Parteien (und dem eigenen) orientiert, aber das Links-Rechts-Schema, das den ideologischen Raum abbildet, eignet sich schon lange nicht mehr als Orientierung, weil es schon längst keine „rechten“ oder „linken“ Lösungen mehr gibt. Die Folge ist, dass Politiker und Parteien nicht mehr versuchen, den Medianwähler für sich zu gewinnen, dessen politischer Standort in der Mitte der Wählerschaft liegt, sondern dass sie versuchen müssen, Vorschläge zu unterbreiten, die das Medianverständnis erreichen. Wir haben ein einfaches Modell dazu entwickelt, das zeigt, dass solche Vorschläge aus beiden Richtungen des Verständnisraums kommen können. Womit dabei zu rechnen ist und welche Konsequenzen der Kampf um das Medianverständnis für die Politik und die Gesellschaft hat, hängt entscheidend davon ab, wie ein solches Verständnis zustande kommt, wie überhaupt Menschen in einer großen Demokratie Verständnis für ihre Umwelt (im weitesten Sinne) erlangen. Bisher haben wir festgestellt, dass der sense making Trieb der Menschen dabei eine große Rolle spielt und dass die Selbstüberschätzung, der Menschen in aller Regel unterliegen, den Nährboden für ein erfolgreiches sense making bildet. Mit ihr gelingt es, sich ein fiktives Verständnis zuzulegen, an das man glauben kann und das der Orientierung dient. Soweit der Stand der Dinge.

Beim Zustandekommen eines fiktiven Verständnisses spielen sogenannte Narrative eine wichtige Rolle. In der verhaltensökonomischen Literatur spricht man auch von der „narrativen Verzerrung“18 und meint damit, dass Menschen an einfache Geschichten glauben, die kausale Zusammenhänge leicht nachvollziehbar erklären, die in sich schlüssig und konsistent sind, die aber nicht wahr sein müssen. Inzwischen hat der Begriff des Narratives sich auch unter Ökonomen einen Namen gemacht und in den letzten Jahren sind einige Beiträge in den wichtigsten internationalen ökonomischen Journalen (unter anderem dem American Economic Review) erschienen, die sich mit der Thematik befassen.19

Narrative sind wie Messer oder Hammer. Mit beidem kann man sehr sinnvolle Dinge tun – ein Kunstwerk schnitzen oder einen Nagel in die Wand schlagen – man kann sie aber auch sehr destruktiv einsetzen. Mit Narrativen ist es ähnlich, nur, dass sie, anders als Messer und Hämmer, gewissermaßen ein Universalwerkzeug sind, mit dem sich ganz viele, sehr unterschiedliche Dinge anstellen lassen. Wenn man sich auf die positiven Seiten von Narrativen konzentriert, dann ist es keine Übertreibung zu behaupten, dass Narrative der Kitt sind, der Gesellschaften zusammenhält. Konzentriert man sich auf die negativen Seiten, dann ist es ebenso wenig eine Übertreibung zu sagen, dass Narrative maßgeblich an den größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte beteiligt waren und ohne sie diese Verbrechen nicht hätten begangen werden können.

Es ist relativ einfach zu beschreiben, was ein Narrativ ist, aber es ist durchaus anspruchsvoll, sich darüber klar zu werden, welche Funktionen Narrative erfüllen und wie sie entstehen. Das gilt erst recht, weil Narrative in praktisch allen Lebensbereichen eine Rolle spielen und dabei für sehr unterschiedliche Zwecke benutzt werden können. Wir verwenden Narrative beispielsweise, um unseren Kindern elementare soziale Verhaltensweise beizubringen und sie auf das Leben vorzubereiten. Narrative werden von Ärzten gebraucht, um ihre Patienten zu einer gesünderen Lebensweise anzuhalten, Trainer verwenden sie, um ihre Spielphilosophie den Spielern zu vermitteln, und Politiker erklären ihre Absichten und Programme in Form von einfachen Geschichten, damit ihre Wähler sie verstehen. Vor allem aber ermöglichen Narrative uns die Sinnsuche. Wir befriedigen den sense making Trieb dadurch, dass wir geeignete Narrative finden, die uns die Welt in einer Weise erklären und begreifbar machen, die diesen Trieb befriedigt. Man könnte es auch so beschreiben: Der Sexualtrieb führt dazu, dass Paarbeziehungen (welcher Art auch immer) entstehen. Der sense making Trieb sorgt dafür, dass sich Narrative herausbilden (welcher Art auch immer). Vor diesem Hintergrund ist es erst recht wichtig, dem Narrativ ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken, wobei wir zunächst zwei Fragen in den Mittelpunkt stellen: Wie wirken Narrative und wie entstehen sie? Erst danach stellt sich die Frage, welche Folgen die Existenz von sinnstiftenden Narrativen hat und was sie für unser Medianverständnis Modell bedeuten.

Inzwischen existiert eine große Zahl von wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Narrativen befassen und die aus verschiedenen Disziplinen stammen. Die Psychologie und die Sozialpsychologie, die Philosophie, die Ökonomik und die Neurowissenschaften sind daran beteiligt, um nur einige zu nennen. Besonders eindrucksvoll haben George Akerlof und Dennis Snower (2016) beschrieben, wie und warum Narrative wirken. Akerlof ist ein amerikanischer Ökonom und Nobelpreisträger, der übrigens mit Jeanette Yellen verheiratet ist, der gegenwärtigen Finanzministerin der USA, die auch schon Chefin der FED war. Snower war lange Zeit Leiter des Weltwirtschaftlichen Instituts in Kiel. Der Titel ihres Beitrags lautet „Bread and Bullets“, was für einen ökonomischen Fachaufsatz ziemlich ungewöhnlich klingt. Er erklärt sich aber daraus, dass die Autoren die Diskussion von Narrativen mithilfe eines sehr bedeutsamen Beispiels führen, nämlich den ökonomischen Konsequenzen der sowjetischen Wirtschaftspolitik, die geprägt war von den Leitsätzen, also den Narrativen, die Lenin aus- und vorgab. Dass Lenin ein Meister der Prägung von Narrativen war, zeigt sich bereits an einer Anekdote, die vor der Oktoberrevolution in London spielt. Auf einem Kongress der kommunistischen Partei Russlands, der im Exil stattfand, kam es zu einem Zerwürfnis zwischen Lenin und Juliy Martov, das sich daran entzündete, wer Mitglied der Partei sein durfte. Während Martov dafür war, auch Sympathisanten aufzunehmen, bestand Lenin darauf, dass Mitglieder bereit sein mussten der Partei ihr Leben zu widmen. Es kam zur Spaltung der Partei und Lenin nannte den Teil, den er anführte, fortan die „Bolschewiki“ (russisch für „Mehrheit“) und den Teil Martovs die „Menschewiki“ (russisch für „Minderheit“.) Das ist deshalb bemerkenswert, weil – zumindest laut Akerlof und Snower (S. 62) – Lenin bei der Abstimmung verloren hatte, also eigentlich die Minderheit vertrat. Allerdings findet sich die Version, nach der Lenins Position die Mehrheit stellte, auch heute noch in Geschichtsbüchern und Blogbeiträgen.20

Das erste Narrativ Lenins bestand also nur aus einem Wort: „Mehrheit“. Aber man versteht sofort wie Narrative wirken. Sie verkürzen, vereinfachen und erzählen doch eine konsistente Geschichte, selbst wenn sie falsch ist: Die Bolschewiki waren die, die sich durchgesetzt hatten, und zwar in einer demokratischen Abstimmung. Sie durften zurecht für sich in Anspruch nehmen, die legitimen Vertreter der russischen Arbeiter und Bauern zu sein. Dass sie tatsächlich für demokratische Prozesse und Entscheidungen nicht das geringste übrig und in Wahrheit die Abstimmung verloren hatten, tat nichts zur Sache. Die Anhänger der Bolschewiki konnten fortan stets die Behauptung, die Mehrheit zu vertreten, im Namen tragen – und dann musste es ja wohl stimmen.

Lenins Griff in die Trickkiste zeigt eine erste, wichtige Funktion, die Narrative erfüllen. Sie verkürzen und vereinfachen – manchmal indem sie Sachverhalte auf ein einziges Wort reduzieren. In dieser Vereinfachung und Verkürzung liegt die Stärke von Narrativen und zugleich der größte Vorteil, den sie für uns bereithalten. Denn wir brauchen Vereinfachung und Verkürzung, um die vielen Dinge, die um uns herum geschehen und die wir verstehen wollen, in ein für uns begreifbares Bild zu integrieren. Aber welche Funktionen erfüllen diese Vereinfachungen genau? Akerlof und Snower listen sieben Funktionen auf, die Narrative prinzipiell wahrnehmen können. Bevor diese genannt werden, sei auf einen Punkt eingegangen, der für die Argumentation in diesem Buch sehr wichtig ist.

Die Literatur zur Funktion von Narrativen geht überwiegend davon aus, dass diejenigen, die Narrative benutzen, eine homogene Gruppe bilden. Jedenfalls wird nicht zwischen unterschiedlichen Funktionen in unterschiedlichen Gruppierungen oder gesellschaftlichen Kontexten unterschieden – zumindest nicht systematisch. Wir haben hier die These entwickelt, dass es um das mittlere oder mediane Verständnis geht, das Politik zu erreichen versucht. Man kann Narrative verstehen als Vorschläge für ein solches Verständnis, als Erklärungsangebote, die man annehmen oder ablehnen kann. Wir haben uns klargemacht, dass solche Angebote von zwei Seiten an den Menschen mit dem Medianverständnis herangetragen werden können. Angebote können erstens so gestaltet sein, dass sie auch diejenigen überzeugen, die weniger Verständnis aufbringen als der Median. Dazu müssen sie natürlich sehr einfach sein, aber vor allem müssen sie so gestaltet werden, dass nur Menschen mit einem besseren Verständnis als der Median erkennen können, dass sie zu einfach sind. Solche Vorschläge kommen vom Median aus gesehen von der linken Seite des Verständnisraumes.

Aber zweitens können auch von rechts Vorschläge kommen. Das sind vielleicht Erklärungen, die einem akademischen Populismus entspringen und so weit vereinfacht wurden, dass auch der Median sie verstehen und akzeptieren kann. Es können auch gut vereinfachte Erklärungen sein, die sich tatsächlich an dem besten verfügbaren Wissen orientieren und eine gute Basis für eine Entscheidung liefern. Welche Narrative sich eher durchsetzen werden, wird noch zu beleuchten sein. Entscheidend ist an dieser Stelle jedenfalls, dass die Narrative, die von links und rechts kommen, sehr unterschiedlicher Natur sein werden, abhängig davon, welchen Ursprung das Narrativ hat und auf welche Gruppe es abzielt: die rechts vom Median oder die links vom Median. Diese Unterscheidung ist für die weitere Argumentation wichtig, deshalb sei sie hier explizit genannt. Aber kommen wir zurück zu der Liste von Akerlof und Snower.

Die erste Funktion von Narrativen auf dieser Liste ist zugleich die wichtigste. Sie besteht darin, dass Narrative ein „Verständnis für die Umwelt“ erzeugen. Dabei ist der Begriff „Umwelt“ sehr weit gefasst, denn er schließt die „innere Umwelt“ also unser Empfinden, Denken und Fühlen durchaus ein. Die Umwelterklärung eines Narratives basiert auf Erfahrungen aus der Vergangenheit, die zu einer bestimmten, einfachen Interpretation verdichtet werden und die dann auf die Erklärung der Gegenwart und der Zukunft angewendet werden.21 Ganz nach dem Motto: „So war es immer, so wird es werden“. Narrative machen es auf diese Weise unmöglich zu erkennen, dass sich Dinge strukturell geändert haben und deshalb bekannte Muster und Kausalitäten in der Zukunft nicht mehr gelten. Das ist übrigens eine hübsche Erklärung für Generationenkonflikte: Die Narrative der Alten können die Welt der Jungen nicht erklären und die Alten verstehen die Narrative der Jungen nicht.

Die zweite Funktion, die Akerlof und Snower durch Narrative erfüllt sehen, ist die Fokussierung unserer Aufmerksamkeit. Diese Funktion steht in einem engen Zusammenhang mit einem anderen Phänomen, dem wir uns etwas später noch genauer widmen werden, der sogenannten Informationsvermeidung (Information Avoidance). Die Konzentration unserer Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge erfolgt zwangsläufig, denn es ist klar, dass wir nicht alle Informationsangebote, die uns gemacht werden, annehmen können. Wir müssen auswählen, ob wir wollen oder nicht, weil unsere Informationsverarbeitungskapazität nur ein Becher ist, die Informationsangebote aber einen See füllen. Die Frage aber bleibt, wo wir unseren Becher in den See tauchen, also welche Informationen wir auswählen. Akerlof und Snower weisen darauf hin, dass Narrative dabei eine wichtige Rolle spielen, weil sie uns Hinweise geben, welche Information unsere Aufmerksamkeit verdient und welche nicht. Das ist ein äußerst wichtiger Punkt, denn wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken, ist das, worüber wir entscheiden können. Wir können nur eine Wahl treffen, wenn wir halbwegs wissen, was zur Wahl steht. Deshalb ist die vielleicht noch wichtigere Wirkung von Narrativen, dass sie entscheiden, worüber wir uns nicht informieren.

Dieser Punkt ist deshalb so bedeutsam, weil Narrative der Stoff sind, aus dem das sense making gemacht wird. Fügen sich Narrative zu einem konsistenten Gesamtbild zusammen, das dafür sorgt, dass für uns „alles einen Sinn ergibt“, dann stellt sich die Frage, wie veränderbar dieses Bild noch ist. Die Veränderbarkeit von sinngebenden Vorstellungen und Ideen ist die elementare Voraussetzung dafür, dass Menschen lernen können, dass sie neue Erfahrungen aufnehmen, neue Evidenzen wahrnehmen und Irrtümer in ihren Geschichten entdecken. Ist alles das stark eingeschränkt, dann verhärten sich die Fronten. Sobald sinngebende Narrative zur Verfügung stehen, ist die gesellschaftliche Diskussion, der kritische Diskurs unmöglich, wenn es keine Bereitschaft gibt, das eigene Verständnis der Welt zu hinterfragen. Diese Bereitschaft ist auf das Engste mit der Bereitschaft verknüpft, Informationen, die nicht der Bestätigung des eigenen Narratives dienen, wahrzunehmen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Indem Narrative gerade diese Aufmerksamkeit steuern, zerstören sie die Fähigkeit des Narrativ Nutzers, sich selbst und seine Geschichte kritisch zu betrachten.

Dieser einfache Gedanke kann ziemlich gut erklären, warum es zu gesellschaftlichen Polarisierungen kommt und warum es so ungeheuer schwer ist, diese wieder aufzubrechen. Ein gutes und für deutsche Leser unproblematisches Beispiel ist die gegenwärtige Situation in den USA. Die Polarisierung der Gesellschaft wurde insbesondere von Donald Trump bewusst vorangetrieben und hat inzwischen einen Zustand erreicht, in dem es kaum mehr möglich ist, die beiden Lager zu einem Gespräch zu bewegen, das zivilisierten und vernünftigen Regeln folgt. Solche würden vorsehen, dass man die jeweils anderen ausreden lässt, ihnen zuhört und ihre Gedanken abwägt, bevor man inhaltlich darauf eingeht. So etwas würde ungemein hilfreich sein – für beide Seiten. Die „Amerika First“ Seite könnte lernen, dass Multinationalismus und liberale Ordnungen keineswegs gegen die Interessen Amerikas verstoßen, und die andere Seite könnte lernen, warum die Arbeiter im „Industrial Belt“ so enttäuscht von der Politik des Establishments sind und wo es in den entsprechenden Regionen tatsächlich im Argen liegt. Aber dazu kommt es nicht. Die Fokussierung von Aufmerksamkeit funktioniert wie ein Suchscheinwerfer. Sobald das Licht des Scheinwerfers etwas erfasst, was wie ein Argument der Gegenseite aussieht, wird weggeblendet. Was bleibt, ist sich stetig vertiefende Feindschaft.

Auch in unserem Land gibt es Polarisierungstendenzen. Sie sind nicht so ausgeprägt wie in den USA, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Wenn wir das verhindern wollen – und das sollten wir auf jeden Fall – dann müssen wir dafür sorgen, dass die Auseinandersetzung darüber, welche kollektiven Entscheidungen die richtigen sind, welche Gesetze unser Handeln wie beeinflussen sollen, nicht von polarisierenden, destruktiven Narrativen beherrscht wird. Vielmehr brauchen wir gute Narrative, die uns verständlich und kurzgefasst, aber vor allem korrekt darüber informieren, was man zu einem bestimmten Problem wissen kann und wie mögliche Lösungen aussehen können. Dafür müssen wir sorgen, aber das wird nur gehen, wenn wir verstehen, warum destruktive Narrative so mächtig werden können.

Warum sind Narrative erfolgreich? Anders gefragt, warum eignen sich Menschen bestimmte Narrative an? David Tuckett und Milena Nikolic haben 2017 in einem Beitrag in Theory & Psychology darauf hingewiesen, dass Narrative eine nicht zu unterschätzende emotionale Funktion erfüllen. Sie gehen dabei von einer Entscheidungssituation aus, in der sich Menschen in einer „radikal unsicheren“ Situation befinden. Darunter verstehen sie, dass die Unsicherheit so weit geht, dass Menschen noch nicht einmal in der Lage sind, die zukünftig möglicherweise eintretenden Umweltzustände benennen zu können, geschweige denn ihnen Eintrittswahrscheinlichkeiten zuzuordnen. Das ist eine Beschreibung, die auch auf viele gesellschaftliche und politische Problemstellungen der heutigen Zeit zutreffen dürfte. Unsicherheit, erst recht radikale Unsicherheit ist nichts, was Menschen schätzen. Im Gegenteil, sie dürften versuchen, einen solchen Zustand möglichst schnell zu beenden. Dafür stehen zwei Wege offen. Man kann sich dem Problem nähern und handeln (zum Beispiel, indem man Informationen sammelt und dadurch Unsicherheit reduziert), oder man kann sich von dem Problem einfach abwenden. Die These von Tuckett und Nikolic lautet, dass Annähern oder Abwenden Alternativen sind, zwischen denen vor allem emotional gewählt wird. Narrative spielen dabei eine bedeutende Rolle, denn sie sind in der Lage, sowohl die Emotion zu bedienen und die richtigen Gefühle zu vermitteln, als auch eine knappe kausale Erklärung zu liefern. Das macht sie so attraktiv, wenn es darum geht, der radikalen Unsicherheit zu entgehen.

Die emotionale Komponente von Narrativen spielt auch bei dem nächsten Punkt auf der Liste von Akerlof und Snower eine wichtige Rolle. Er besagt, dass Narrative Handlungen motivieren können. Dass sie diese Fähigkeit tatsächlich besitzen, kann man sehr gut beobachten. Warum gehen Menschen auf die Straße, um gegen Atomkraft zu demonstrieren oder gegen Endlagerstätten, Corona Verbote oder die Migrationspolitik der Regierung? Vermutlich deshalb, weil sie auf ein Narrativ gestoßen sind, das ein in ihnen schlummerndes Handlungsmotiv aktiviert hat. Im Grundsatz sind viele Menschen zu vielem bereit und motiviert, aber unsere Zeit, unsere Ressourcen und Fähigkeiten sind beschränkt und das erlaubt es uns nicht, allen Motiven nachzugehen. Viele Menschen wollten schon immer einmal ein Buch schreiben, eine Wanderung über mehrere Wochen unternehmen, sich sozial engagieren, mehr Sport treiben oder ferne Länder besuchen. Aber zwischen „wollen“ und „tun“ liegt ein Schritt, den man nur mit der passenden Motivation geht. So wie Narrative in der Lage sind, unsere Wahrnehmung zu steuern, so können sie auch unsere Motive kanalisieren und unsere Willenskraft auf einen bestimmten Punkt lenken, auf eine bestimmte Handlung.

Menschliche Motive sind nicht nur edel und gut, wohlwollend und sinnvoll. Sie können auch durchaus destruktive Elemente enthalten. Es ist sicherlich keine Übertreibung und auch keine Herabwürdigung, wenn man davon ausgeht, dass viele Menschen das Bedürfnis haben sich überlegen fühlen zu können. Das kann man vor allem dann, wenn man überlegenes Wissen besitzt, wenn man mehr versteht als die Anderen. Oder zumindest glaubt, dass man mehr versteht als die Anderen. Menschen, die davon überzeugt sind, besser informiert zu sein als ihre Mitmenschen fühlen sich häufig motiviert, dies auch mitzuteilen, und zwar so, dass es zur Kenntnis genommen wird. Anderen zu sagen, wo es langgeht, und damit in gewisser Weise eine Führungsrolle zu übernehmen, ist verlockend. Nicht zuletzt deshalb, weil eine solche Führungsrolle Aussicht auf das verspricht, wonach eigentlich alle Menschen streben: Anerkennung.

Die Motivation zu handeln kann aber auch daraus entstehen, dass mit dem Handeln häufig die Identifikation mit einer Gruppe verbunden ist. Auch das verschafft Anerkennung und dazu eine gewisse Sicherheit. Es bewahrt uns vor der radikalen Unsicherheit, die Menschen als Bedrohung empfinden. Sich unter Gleichgesinnten zu bewegen, bestätigt die eigene Überzeugung und die Überzeugung, das Richtige zu denken und zu tun, erst recht dann, wenn sich dieses Tun im politischen Raum abspielt. Dann kann das Gefühl dazukommen, dass man der Gesellschaft als Ganzes etwas gibt, dass man Alle von dem eigenen überlegenen Wissen profitieren lässt.

Narrative sind in der Lage, praktisch alle diese Bedürfnisse anzusprechen und zu befriedigen. Narrative vermitteln soziale Rollen und Identitäten, was nicht selten mit der Zuweisung von Macht verbunden ist. Auch das hat sehr viel mit Gefühlen zu tun. Akerlof und Snower fassen die Wirkung, die ein Narrativ auf den einzelnen Menschen hat, sehr passend zusammen (S. 61, Übersetzung durch den Autor):

„Erklärungen durch Narrative sind nicht einfach leidenschaftslose Herleitungen von Ursachen und Wirkungen, sie eignen sich als Erklärungen deshalb so gut, weil sie uns die Möglichkeit geben, uns gut zu fühlen, und vermeiden, dass wir uns schlecht fühlen.“

Es dürfte vor allem diese emotionale Komponente sein, die Narrativen erlaubt eine ungeheuer starke Wirkung zu entfalten: auf das, woran Menschen glauben, auf das, was Menschen zu tun bereit sind, und auf das, was sie für gut und richtig halten. Die Geschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, dass diese Fähigkeit katastrophale Folgen haben kann. Die eindringlichsten Beispiele dafür stammen aus der düstersten Zeit der menschlichen Geschichte: der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland. Das Narrativ der Nazis von der jüdischen Weltverschwörung verlieh den „Ariern“ die Macht, Juden zu verfolgen, zu berauben und in letzter Konsequenz zu töten. Das Narrativ des „Volkes ohne Raum“ diente der Rechtfertigung dafür, über die Nachbarländer herzufallen. Kunstwerke brannten, weil sie „entartet“ waren und behinderte Menschen mussten sterben, weil ihr Leben „unwert“ war. Hunderttausende waren an diesen Abscheulichkeiten beteiligt, breite Schichten der Bevölkerung wussten davon und Millionen sind mit Überzeugung in den Krieg gezogen. Das alles hätte nicht geschehen können, wenn es nicht Narrative gegeben hätte, die imstande waren, alles das zu rechtfertigen. Sie waren so verführerisch, weil sie verborgene dunkle Motive und Bedürfnisse ansprachen und in einer Weise bedienten, die zur Folge hatte, dass man an sie glaubte, oft genug bis in den Tod hinein. Die braunen Narrative verliehen den Menschen Macht und sie rechtfertigten, Andere zu führen, sich Anderen haushoch überlegen zu fühlen. So sehr, dass man sie drangsalieren und verletzen, ja sogar töten durfte. Die eigene Überlegenheit wurde in dem Gefühl ausgelebt, Mitglied einer engen Gemeinschaft zu sein, in der man Anerkennung fand und in der man in der Gesellschaft von Menschen war, denen die Narrative die Fähigkeit verliehen, die Welt zu verstehen und zu beherrschen.

Akerlof und Snower benutzen eine andere, ebenfalls schlimme Geschichte, um zu demonstrieren, wie stark die destruktive Wirkung von Narrativen sein kann.22 Sie erzählt, wie die Regierung der Bolschewiki nach dem Ende des Bürgerkrieges und des ersten Weltkrieges die wirtschaftliche Entwicklung ihres Landes voranzutreiben versuchte. Das klingt erst einmal harmlos, war es aber nicht. Das entscheidende Narrativ stammte von Lenin, den wir ja bereits als Meister der Narrative kennengelernt haben. Für die wirtschaftliche Entwicklung Russlands musste der Übergang von einem agrarisch geprägten Feudalstaat in einen kommunistischen Staat geschafft werden, in dem jeder nach seinen Bedürfnissen versorgt wurde. Dazwischen hätte, der Lehre Marx folgend, eigentlich die kapitalistische Industrialisierung liegen müssen. Die musste man in Russland überspringen, was man durch entsprechend ambitionierte und fordernde Fünfjahrespläne zu erreichen versuchte. Eine neuralgische Stelle in diesen Plänen war die Versorgung der Industriearbeiter mit Lebensmitteln, die der Agrarsektor sicherstellen musste. Dieser wurde einerseits von Kolchosen, also sehr großen Unternehmen mit einem gemeinsamen Maschinenpark, und zum anderen von kleinen, selbstständigen Bauern betrieben. Der Plan sah vor, dass die Maschinenparks mit Traktoren versorgt wurden, um so die landwirtschaftliche Produktion zu modernisieren und die Produktivität zu steigern. Im Prinzip eine gute Idee, die aber nicht funktionierte, weil die strukturellen Fehler einer Planwirtschaft auch in diesem Fall zuschlugen. Die Belieferung mit Traktoren klappte nicht und die mit Ersatzteilen erst recht nicht. So war nicht verwunderlich, dass die landwirtschaftliche Produktion hinter den Planvorgaben zurückblieb. Aber Lenins Narrativ ließ das nicht zu. Der Plan konnte nicht Ursache eines Problems sein, denn er war „richtig“ aufgestellt. Wenn es zu Problemen kam, konnte das nur an Sabotage liegen. Da die Kolchosen nicht funktionierten, hielt man sich an die privaten Bauern und zwang sie „freiwillige“ Abgaben zu leisten. Das aber hatte den Effekt, dass die Erträge so weit sanken, dass sie die Ausgaben für das Saatgut nicht mehr deckten. Entsprechend ging die private Produktion massiv zurück, was für die Regierung ein weiterer Beweis dafür war, dass Sabotage am Werk sein musste. Die Bolschewiki erhöhten den Druck auf die „reichen“ Bauern, die Kulaken. So nannte man wohlhabende Bauern im zaristischen Russland. Nach der Revolution gab es die aber eigentlich nicht mehr. Wer Kulak war, wurde mehr oder weniger willkürlich festgelegt. Oft reichte es, eine Kuh oder ein Pferd zu besitzen. Im Januar 1929 entschied die Partei (inzwischen unter Führung Stalins), 100.000 Kulaken Familien als Konterrevolutionäre zu liquidieren. 150.000 Familien wurden nach Sibirien deportiert und mehr als 700.000 wurden von ihrem Land vertrieben. Das alles entsprach den Regeln des Narratives. Der Plan konnte nicht schuld sein, also mussten es die Kulaken sein. Die Aktion war vollkommen sinnlos und hatte katastrophale Folgen. Die Zerschlagung der letzten noch funktionsfähigen landwirtschaftlichen Betriebe brach der Nahrungsmittelversorgung endgültig das Genick und führte zu der schlimmsten Hungersnot in der Geschichte Russlands. Allein in der Ukraine starben vermutlich 5 Mio. Menschen an den Folgen des bolschewistischen Narratives.

Die beiden Beispiele zeigen, dass Narrative eine furchtbare zerstörerische Wirkung entfalten können. Aber es geht auch anders. Der gesellschaftliche Fortschritt der letzten Jahrhunderte, der dafür gesorgt hat, dass immer mehr Länder zu echten Demokratien wurden, der multinationale Institutionen hervorgebracht hat, die für ein Maß an Sicherheit sorgen, das es nie zuvor auf dieser Erde gab, und die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Millionen Menschen vor dem Hungertod bewahrt hat, alles das wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht geeignete Narrative die Menschen davon überzeugt hätten, dass es sich lohnt, für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zu kämpfen. Das Narrativ ist der Stahl, aus dem man Kanonenkugeln oder Pflugscharen machen kann. Man kann mit ihnen blutige Revolutionen herbeiführen oder die friedliche Revolution von 1990 befeuern und sichern, dass kein Blut fließt. „Wir sind das Volk“ war eines der wirkmächtigsten Narrative nach dem zweiten Weltkrieg.

Fassen wir an dieser Stelle einmal zusammen, warum Narrative so wichtig für uns sind. Es sind vor allem drei Dinge, die Narrative für uns leisten:
  1. 1.

    Narrative navigieren uns durchs Leben.

     
Sie steuern unsere Aufmerksamkeit und sagen uns, wo wir unseren Becher der Erkenntnis in den See des Wissens tauchen sollen. Sie sagen uns, was wichtig ist und was wir getrost ignorieren können. Allein das hat einen gravierenden Einfluss auf uns, denn wir neigen zu dem, was Kahneman (2011, S. 402) die „focusing illusion“ genannt hat: Nichts in deinem Leben ist so bedeutsam, wie du denkst, dass es ist, wenn du gerade daran denkst.
  1. 2.

    Narrative vermitteln uns gute Gefühle und vermeiden schlechte

     
Menschen sind emotionale Wesen. Bei allen kognitiven Fähigkeiten sind wir kaum in der Lage, ständig gegen unsere Emotionen zu entscheiden und zu handeln. Indem uns Narrative mit den richtigen Emotionen versorgen, liefern sie die Grundlage für eine feste Überzeugung, an der festzuhalten sich lohnt.
  1. 3.

    Narrative helfen uns dabei den sense making Trieb zu befriedigen.

     
Darauf läuft alles hinaus. Wir haben bereits festgestellt, dass es der sense making Trieb ist, der Narrative erzeugt, er ist quasi ihr Geburtshelfer. Es sind die überragenden Fähigkeiten, die Narrative entfalten können, die sie zum idealen Instrument des sense making machen. Damit das alles funktioniert, segeln Narrative fast immer unter Geleitschutz. Sie werden sehr erfolgreich von zwei Phänomenen geschützt, denen in der Psychologie aber auch in der Verhaltensökonomik sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde und die deshalb gut erforscht sind: Informationsvermeidung und der Confirmation bias sind die Bodyguards des Narratives. Ohne sie geht es nicht aus dem Haus.