KAPITEL ZEHN

C asper übernahm die Führung, behielt die Sonnenbrille auf und klemmte sie fest hinter die Ohren. Auf dem Weg in einen anderen Flur kamen sie an einem Plakat vorbei. Ward brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass die behelmte Gestalt mit der Waffe, die unter der Aufschrift ‚Heroes Stand Up‘ posierte, Casper war.

„Heroes stand …“

„Bitte nicht“, sagte Casper. „Es ist schlimm genug, dass sie mich zum Gesicht dieser idiotischen Kampagne gemacht haben. Ich habe einzigen Fae aus der Ferne erschossen, und sie machen das daraus.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Propaganda ist wichtig“, bemerkte Ward. „Verdammt, ohne sie würdet ihr keine neuen Rekruten bekommen.“

„Es gibt bessere Wege als Lügen, um seine Reihen zu vergrößern, Ward. Viel bessere Wege. Bildung, Krankenversicherung und viele andere verdammte Vorzüge? Ich wäre glücklicher mit allem, was Mord nicht verherrlicht.“

„Aber du bist doch ein Scharfschütze. Einer der besten.“

„Und damit werde ich bis ans Ende meiner Tage leben müssen“, sagte Casper.

„Wie kannst du nur so denken?“

„Ich habe genug Kriege gesehen.“ Casper schnaubte. „Ich hoffe nur, dass wir die nächste Generation davor bewahren können.“

Sie gingen eine Zeit lang schweigend nebeneinander her. Es waren nicht nur die Gewöhnlichen, die so verdreht waren. Ward erinnerte sich an den Anblick des Fae, der seinem eigenen Kind den Kopf abgeschlagen hatte. Es war ein Bild, dem er nie entkommen würde. Welche Bestie lauerte am anderen Ende dieses Zwanges?

Casper blickte wieder zu Ward. „Die Welt kann ein furchtbarer Ort sein, aber das ist kein Grund, aufzuhören, für sie zu kämpfen.“

Das rhythmische Klopfen von Stiefeln auf Stein hallte den Flur hinunter, und ihr Gespräch verstummte, bis die Soldaten vorbeigegangen waren. Casper beobachtete die Gruppe wie gebannt.

„Ist einer von ihnen ein Spion?“, wollte Ward wissen.

„Zwei von ihnen haben diese Linien … wie schlimm ist das, Ward?“

Ward schenkte ihr ein erzwungenes Lächeln. „Ganz sicher nicht gut.“

Casper verzog das Gesicht und lief schneller. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie sich in einen Raum drängten, der von Wand zu Wand mit Monitoren gefüllt war. Es befanden sich nur wenige Leute darin, und Ward bewunderte, wie schnell Casper den Raum begutachtete, bevor sie ihre Brille abnahm.

Sie verriegelte die Tür hinter sich und lenkte damit die Aufmerksamkeit aller Soldaten in diesem Raum auf sich. Einer, ein Mann mit den Abzeichen eines Hauptfeldwebels, sah sehr verärgert aus.

„Casper, was zum Teufel tust du da? Du bist für den Fluss zuständig. Du musst diese Kompanie, diese gesamte Streitmacht repräsentieren, auch wenn ich weiß, dass es dir nicht gefällt.“

„Park, das ist Ward. Einer von Zolas Freunden.“

Parks Proteste verstummten mit dieser Aussage. „Bringst du eine Nachricht von Zola?“

Ward schüttelte den Kopf. „Ich habe mit ihr gesprochen, aber deshalb bin ich nicht hier.“

Park runzelte die Stirn. „Und warum bist du hier?“

Ward deutete auf die Brille in Caspers Hand. „Ich habe ein Werkzeug für euch, um Spione zu erkennen. Leider ist es meine ehemalige Schülerin, die diese Fae-Magie ausreichend verstärkt hat, um euch zu täuschen.“

Park holte tief Luft. „Und wie soll uns diese Sonnenbrille helfen?“ Er blickte sich im Raum um.

„Es ist sicher“, sagte Casper. „Niemand hier ist betroffen. Die Brille leuchtet auf, wenn jemand unter einem Zwang steht. Es ist eine blaue Linie, die sich mit den Ley-Linien hier verbindet.“

„Und du kannst sie sehen?“, fragte Park. „Bist du sicher, dass das nicht daran liegt, dass du zum alten Blut gehörst oder wie auch immer Aideen es genannt hat?“

Casper sah zu Ward.

„Nein, das ist es nicht“, erklärte er. „Jeder Gewöhnliche kann die Linien mit dieser Brille sehen.“

Casper rieb ihre Finger aneinander. „So wie der Geisterkreis, den du für Zola gemacht hast?“

„Nicht ganz, aber das ist ein guter Vergleich.“

„Was machen wir, wenn wir sie finden?“, wollte Park wissen.

„Nun“, begann Ward, „ich hatte gehofft, ihr wüsstet vielleicht, wo Edgar zu finden ist.“

„Er ist wahrscheinlich in seinem Arbeitszimmer.“ Park warf einen Blick auf sein Telefon. „Er scheint in den letzten Tagen seine ganze Zeit dort zu verbringen.“

„Weißt du noch, als Edgar sagte, er wolle Morrigan besuchen, um dem Obsidian Inn zu helfen?“, fragte Casper. „Und du hast ihn angeschrien, weil er seinen Posten verlassen hat?“

„Ja, nun, das hat zumindest einen Sinneswandel bei ihm bewirkt. Es wäre verrückt gewesen, uns hier allein zu lassen, wo wir doch wahrscheinlich noch mehr Spione haben.“

„Er hatte keinen Sinneswandel“, bemerkte Ward. „Ich habe den Hochstapler getötet, aber es gibt noch mehr.“

„Du hast Edgar getötet?“, fragte Park und zog eine Augenbraue hoch. „Das halte ich für unwahrscheinlich.“

„Das solltest du auch. Wenn er es gewesen wäre, wäre er nicht gestorben.“

Park musterte Ward kurz, bevor er sein Handy herauszog und es auf Lautsprecher stellte. „Wir werden sehen, ob es stimmt, was du sagst.“

Doch bevor Park zu Ende gesprochen hatte, meldete sich Edgar. „Ich bin auf dem Rückweg. Ich hoffe, ihr habt in der Zwischenzeit nicht den Stützpunkt niedergebrannt?“

„Scheiße“, murmelte Park. „Beeile dich. Ward hat gerade einen Klon von dir getötet.“

„Einen was?“, fragte Edgar mit erhobener Stimme.

„Einen Betrüger“, meldete sich Ward zu Wort. „Es war ein starker Glamour, aber wir hatten Glück.“

„Ich bin unterwegs. Bringt euch irgendwo in Sicherheit. Was erhofft ihr euch, das ich in dieser Sache für euch tun kann?“

„Ich habe eine Brille angefertigt, die alle Linien mit einem Zwangszauber anzeigt und zudem den Weg zu ihrem Anker weist.“

„Eine Sonnenbrille“, fügte Casper hinzu.

Edgar schwieg. „Hättest du nicht eine Lesebrille oder etwas weniger Auffälliges machen können?“

Casper lachte. „Du bist doch sonst kein Freund von unauffälligen Accessoires. Wer trägt denn heutzutage noch Melonen?“

Edgar ging nicht auf den Kommentar ein.

Ward grinste Casper an. „Wenn du die Spione erkennst, kannst du sie ausräuchern. Und wenn ich mich nicht irre, kannst du mit deinen Fähigkeiten als Mage Solis jeden Zwang von ihren unwilligen Opfern wegbrennen. Wenn ich das täte, fürchte ich, dass die Macht meiner Zauber sie töten würde.“

„Bereite deine Zauber trotzdem vor“, schlug Edgar vor. „Falls etwas schief geht, wirst du sie vielleicht brauchen.“

Ward erwähnte nicht, dass er bereits einige gravierte Metallscheiben in seiner Tasche hatte. Sie wären auf jeden Fall stark genug, doch er hatte keinen Zweifel daran, dass sie jeden Gewöhnlichen töten würden, der damit in Berührung kommen würde.

„Sollen wir in die Kaserne gehen?“, fragte Casper. „Schauen, ob wir einen der Spione ausfindig machen können?“

„Noch nicht“, sagte Park. „Wir sollten hier warten. Ich will nicht, dass noch mehr unserer Männer sterben, wenn es einen anderen Weg gibt. Wartet ab, bis Edgar eintrifft.“

„Wie ich ihn kenne, sollte es nicht lange dauern“, bemerkte Ward. „Er so einige Talente.“

„Das kann man wohl sagen“, murmelte Park und wandte sich wieder den Bildschirmen an der anderen Wand zu. Während sie warteten, flüsterten ein paar Leute im Raum miteinander, und die Dunkelheit wurde nur durch das gespenstische Leuchten der Monitore erhellt.

* *     *     *

Es fühlte sich an, als wären mehrere Stunden vergangen, doch es hätte genauso gut auch nur der Bruchteil einer einzigen Stunde sein können. Ward hatte nicht auf die Uhr geschaut. Er hatte sich in dem rhythmischen Klacken der Tastaturen verloren, die Befehle weitergaben.

Erst als drei schwere Klopfgeräusche an der Stahltür ertönten, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Als er wieder bei sich war, zog Casper die Tür bereits mit erhobener Waffe auf.

Sie wartete, bis Park nickte, rückte die Sonnenbrille auf ihrer Nase zurecht und öffnete die Tür.

Dahinter kam Edgar zum Vorschein, der in der einen Hand einen Regenschirm hielt und sich mit der anderen die makellose schwarze Melone vom Kopf hob. Er stand geduldig da, während Casper ihn musterte.

„Er sieht seltsam aus“, verkündete Casper.

„Er ist ein Gott“, erklärte Ward und stand stöhnend auf.

„Ein Unsterblicher“, sagte Edgar. „Da ist ein Unterschied.“

Casper nahm die Brille ab. „Entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein.“

„Ich weiß, denk dir nichts dabei.“ Edgar schenkte ihr ein kleines Lächeln und streckte die Hand aus. Casper legte die Pilotenbrille sanft in seine Handfläche. „Diese Art von ironischem Humor würde ich von Damian erwarten, Ward.“

Ward grinste Edgar an. „Damian hat das alles von Adannaya gelernt. Vielleicht habe ich ein paar Jahre zu viel in ihrer Gesellschaft verbracht.“

Edgar verzog das Gesicht und schob sich die Brille, ein Bügel nach dem anderen über die Ohren. „Park, ist dir bewusst, dass deine Soldaten ums Leben kommen könnten? Bei dem Versuch, den Zauber auszubrennen, wie Ward sagt?“

„Sie sind bereits verloren“, sagte Casper. „Würde es sie zurückbringen, wenn derjenige starb, der dahintersteckt?“

Edgar seufzte. „Ich fürchte nicht.“

„Dann haben wir nichts zu verlieren“, sagte Park. „Und sie haben alles zu gewinnen.“

„Wie du meinst.“ Edgar setzte die Melone wieder auf und fuhr mit den Fingerspitzen über die Vorderseite seines dreiteiligen Anzugs. „Lasst die Jagd beginnen.“

Casper führte die vierköpfige Gruppe in die Halle, während Park die Kommandozentrale hinter ihnen abschloss. Es war kein ungewöhnlicher Anblick, Park und Edgar zusammen zu sehen, aber es war höchst verdächtig, dass Edgar dabei eine Sonnenbrille trug.

Die zweite Person, an der sie vorbeikamen, ließ das nicht unkommentiert. „Nette Sonnenbrille.“

„Augenoperation“, erklärte Edgar knapp, ohne zu zögern. „Ein unglücklicher Unfall mit dem Sonnenlicht.“

„Das tut mir leid!“, sagte der Gefreite. „Ich habe es nicht böse gemeint.“

Kaum waren sie um die Ecke gebogen, schlug Ward Edgar auf den Arm. „Wer hat jetzt ironischen Humor?“

„Lass mich in Ruhe.“

Casper grinste Ward an, als sie den Flur entlanggingen.

„Wo sollen wir anfangen?“, fragte Edgar.

„In der Wachstube“, sagte Park wie aus der Pistole geschossen. „Die meisten der Männer dort werden nicht bewaffnet sein.“

„Aber einige schon?“, wollte Ward wissen.

„Lediglich die Wachen, die um die Stube herum postiert sind“, antwortete Casper. „Für den Fall, dass wir wieder infiltriert werden.“

Ward nickte und folgte der Gruppe einen weiteren langen Gang hinunter bis zur Wachstube.

Edgar spannte sich an. „Verdammt.“