Emma hatte ein paar wunderbare Tage in Frankreich verbracht. Sobald sie wieder zu Hause war, rief sie ihren Kontakt beim Ticketanbieter an und besorgte Eintrittskarten für das Konzert, das sie zusammen mit Frankie besuchen wollte. Noch während sie wartete, dass ihr Bekannter ans Telefon ging, fiel ihr siedend heiß ein, dass sie vielleicht auch Elinor und Billie einladen sollte. Wäre es schlimm, wenn sie nicht zuerst Frankie fragte? Würde sie diese Wendung missverstehen? Nein, so angespannt war die Beziehung der beiden Töchter doch sicher auch wieder nicht.
»Natürlich kann ich euch aushelfen! Wie viele Eintrittskarten brauchst du? Ich organisiere euch die besten Plätze und Backstage-Ausweise und schicke sie per Kurier rüber. Vielleicht sehen wir uns dort?«
An diesem Morgen fiel es Emma schwer, sich für ein Outfit zu entscheiden. Vielleicht ihr gelb geblümtes Sommerkleid? Das Wetter in Frankreich war so gut gewesen, und sie hatte so viele Sommersprossen gekriegt, dass das bestimmt gut aussah. Auf eine Strumpfhose durfte sie nicht verzichten. Nachdem die weiblichen Bediensteten dazu verpflichtet waren, waren sich Elinor und Emma einig gewesen, dass es komisch gewesen wäre, wenn sie selbst mit bloßen Beinen gesehen würden.
Nackt tapste sie vom Bett, von wo aus sie mit ihrem Bekannten telefoniert hatte, hinüber zum Kleiderschrank. Das Spiegelbild war entlarvend; selbst die minimalste Delle war deutlich zu sehen. Sie zuckte mit den Schultern. So war es eben, wenn man älter wurde. Tatsächlich machte es ihr kaum etwas aus. Zweiundvierzig war ein fantastisches Alter.
»Jetzt hör aber auf!«, sagte Emma lachend, als Elinor ihr die Geschichte aus Uppsala erzählte. »Du hingst über der Schüssel und hast dir die Seele aus dem Leib gekotzt – und dann war es gar nicht der richtige Freund?«
Elinor nickte.
»Ich verstehe ja, dass es peinlich geworden wäre, aber es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest. Ihr hattet doch bloß geknutscht.«
»Ja, ich weiß.«
Emma stand auf und trat an den Aktenschrank. »Hast du schon gehört, dass sie im Ritz mehrere Leute in die USA geschickt haben, die dort Informatikkurse besuchen?«
»Was? Wozu denn?«
»Keine Ahnung. Klingt komisch, oder?«
»Allerdings habe ich auch gehört, dass die ersten Unternehmen Computer statt Schreibmaschinen benutzen.«
»Da weigere ich mich.« Emma zog den Ordner mit den Unterlagen zum alten Frühstückssaal heraus, trug ihn zum Schreibtisch und schlug ihn auf. »Solange ich Chefin im Flanagans bin, gibt’s hier keine Computer«, sagte sie nachdrücklich.
»Ich frage mich, wer eines Tages das Haus von uns übernimmt«, sagte Elinor, die ihrer Freundin auch von Billies Zukunftsplänen erzählt hatte, in denen das Flanagans keine Rolle mehr spielte. »Vielleicht sollten wir ein paar junge Frauen zu Nachfolgerinnen ausbilden, wie Linda es mit uns gemacht hat?«
»Du denkst doch wohl nicht schon daran, in Rente zu gehen?« Emma lächelte sie über den Rand des Ordners hinweg an.
»Wir werden auch älter, schau dich doch an – die Lesebrille auf der Nase und das goldene Brillenkettchen um deinen Hals … Wir sind keine jungen Hüpfer mehr, Emma. Und Computer sind eine Errungenschaft, über die wir nicht mehr lang hinwegsehen können. Aber apropos jung – hast du Lily und Rose schon angerufen und ihnen unseren Beschluss mitgeteilt?«
»Ja.«
»Was haben sie gesagt?«
Sollte Emma die Wahrheit sagen? Dass die Schwestern sich von einer gänzlich anderen Seite gezeigt hatten und dass ihr »Wartet nur ab« durchaus auch als Drohung verstanden werden konnte?
»Nichts haben sie gesagt. Ich habe auch mit der London Interior Design Group gesprochen, und die sind natürlich froh, dass sie den Auftrag bekommen haben. Ich habe ihre Pläne hier: Wir schließen ab der zweiten Oktoberwoche, sobald die LIDG hier loslegt – und das wäre vielleicht auch ein guter Zeitpunkt, um einmal groß Grundreine zu machen, die Matratzen zu checken … Du weißt schon, das Übliche.«
»Ist die Buchungsabteilung schon informiert?«
»Habe ich heute Morgen erledigt. Es sind alles in allem vierzehn Buchungen, die wir auf andere Hotels verteilen müssen, und die Reservierungen für den Afternoon Tea und Abendessen rufen wir an und bieten Ausweichdaten an. Ärgerlich wäre nur, wenn darunter ein Geburtstag wäre, der hier hätte gefeiert werden sollen.«
»Ich rede mit meiner Mutter, die das Housekeeping für die Woche instruiert«, sagte Elinor.
»Was sagt sie eigentlich zu eurer Scheidung?«
»Du weißt, wie sie ist. Sie ist auf meiner Seite, Sebastian steht entsprechend gerade nicht allzu hoch im Kurs.«
»Bei keinem von uns«, sagte Emma.
»Ich hätte ihn nie heiraten dürfen. Wir waren immer schon viel zu verschieden. Ihr beide hättet viel besser zueinandergepasst.« Ihr Blick war schwer zu deuten.
Neinneinneinnein, bitte, sag das nicht, dachte Emma.
»So gut wie du und Alexander?« Emma lächelte, wischte sich jedoch unter der Tischplatte die feuchten Hände an ihrem Kleid ab. Sah ihr Lächeln wirklich ungekünstelt aus?
»Vielleicht.« Elinor zuckte die Achseln. »Wir haben anscheinend beide den falschen Mann gewählt.«
»Nur dass Alexander inzwischen ein richtig angenehmer Umgang ist. Dass er was Eigenes betreibt, passt richtig gut. Er ist genauso stolz auf sein Restaurant wie du und ich auf das Flanagans.«
»Ich habe viel darüber nachgedacht, wie unser Leben verlaufen wäre, wenn Sebastian sein Unternehmen nicht verkauft hätte. Er hat sich seither nur noch ziellos treiben lassen. Es fällt mir schwer nachzuvollziehen, wie man sich damit wohlfühlen kann.«
»Ich weiß genau, was du meinst, andererseits sind wir beide auch ziemlich umtriebig. Meine Mutter hat nie etwas anderes getan, als ihr ganzes Leben lang zu Gott zu beten. Wir haben von dem Geld gelebt, das Großmutter von ihrem Mann geerbt hatte. Viel war es nicht. Die beiden Frauen, die meine Vorbilder hätten sein sollen, haben nie auch nur einen Finger krumm gemacht. Und von mir erwarteten sie, das Kindermädchen für irgendeine Familie zu werden, bessere Pläne für mein Leben hatten sie nie. Solange ich nur gottesfürchtig war und nicht mit einem unehelichen Kind heimkam, war alles bestens.«
»Ich hätte zu gern ihre Gesichter gesehen, als du schwanger dort vor der Tür standst.«
»Tja, aber umso froher waren sie, als Alexander und ich schließlich heirateten. Wir durften nur nie jemandem erzählen, dass ich das Kind schon vor der Hochzeit zur Welt gebracht hatte.«
»Haben wir eigentlich jemals darüber gesprochen, wie es dazu kommen konnte?«
Was war denn heute mit Elinor los? Emma wollte jetzt nicht darüber reden. Es war lange her und Geschichte. Sie winkte ab. »Bestimmt.« Sie sah auf die Armbanduhr und sprang regelrecht auf. »Ich komme zu spät zur Besprechung mit unserem Küchenchef! Bis später!«
Am selben Nachmittag rief Emma ihre Mutter an. »Hallo, Mama, man hat mir ausgerichtet, dass du angerufen hast. Wolltest du etwas Spezielles?« Sie konnte mit ihrer Mutter keinen Small Talk betreiben, das hatten sie noch nie gekonnt.
»Nein, ich habe nur die kleine Frankie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich dachte, ich komme vielleicht vorbei und besuche euch?« Ihre Stimme, die immer so stark und dominant gewesen war, klang irgendwie schwach.
»Ehrlich gesagt passt es gerade nicht gut. Können wir ein andermal darüber sprechen? Frankie ist nicht mal hier, sie ist bei ihrem Vater in Frankreich.«
»Was macht Alexander denn in Frankreich?«
»Er hat dort ein Restaurant eröffnet.« Emma brachte es nicht fertig, ihr von der Scheidung zu erzählen und sich daraufhin anhören zu müssen, was für ein schlechter Mensch sie doch war. Im Unterschied zu Elinors Mutter Ingrid würde Emmas Mutter stets zu Alexander halten.
»Den Sommer über, oder …?«
»Ja, Mama. Den Sommer über.«
»Und wenn ich im Herbst zu Besuch komme?« Ihre Stimme klang brüchig.
»Das würde gehen.«
Erst als Emma aufgelegt hatte, dämmerte ihr, dass sie ihre Mutter ebenso sehr von sich fernhielt, wie Frankie es mit ihr selbst getan hatte. Ihre Mutter wurde auch nicht jünger, und bald wäre es zu spät für Emma, herauszufinden, wer ihr leiblicher Vater war. Wenn Mama es ihr nur endlich erzählte, würden sie vielleicht Frieden schließen, zumindest in Teilen. Aber wer war sie, ihrer Mutter vorzuwerfen, dass sie die Wahrheit über die Vaterschaft verschwieg …
Sie verabscheute es, sich selbst der Heuchelei bezichtigen zu müssen. Mit einem Seufzer nahm sie den Hörer erneut zur Hand und rief ihre Mutter zurück.