55

Billie hatte Karl-Johan zu verstehen gegeben, dass es ihm nach ihrer Heimreise nach London freistand, sich eine neue Freundin zu suchen.

»Aber warum denn?« Karl-Johan sah sie traurig an. »Ich will nicht mit einer anderen zusammen sein.«

»Ich weiß aber nicht, ob ich je wiederkomme«, sagte sie bekümmert. Sie hielt den Atem an. Sie brachte die Worte kaum heraus, und sie hatte keine Ahnung, wie er als Nächstes reagieren würde.

»Können wir nicht einfach sehen, wie es sich entwickelt?«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre. Es tut mir leid! Es hat nichts mit dir zu tun, du bist wunderbar!«

»Und deshalb machst du jetzt Schluss mit mir. Weil ich so wunderbar bin.« Er war sauer. Seine Mundwinkel wiesen nach unten.

»Ja, ich finde wirklich, wir hatten eine fantastische Zeit, aber jetzt will ich nach London zurückkehren und mich wieder …«

» … frei fühlen«, fiel er ihr ins Wort. »Danke, ich hab schon verstanden.«

»Okay …«

»Wenn du wiederkommst, weiß ich nicht, ob ich dich noch im Ensemble haben will.«

»Das kann ich verstehen.«

Himmel, wie anstrengend das war! Sollte sie ihm erzählen, dass es in England großartige Schauspielschulen gab und Mama, die aus unerfindlichen Gründen sofort kapiert hatte, dass dies Billies Zukunft wäre, sogar schon mit Lindas Mann Robert über Schulen in den USA gesprochen hatte? Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass sie nach Uppsala zurückkäme, ganz gleich ob sie an einer anderen Schauspielschule angenommen würde. Sie wollte hier schlichtweg nicht mehr BWL studieren. Allerdings würde sie Annika vermissen. Seit die zu ihren Eltern gereist war, hatten sich die Flure im Wohnheim nur noch verwaist angefühlt. Aber in drei Wochen würde sie ihren Job im Flanagans antreten, und dort könnten sie sich täglich treffen. Wenn Annika im Moment nur in der Nähe wäre … Billie hatte nie zuvor im Leben mit jemandem Schluss gemacht, und es war wesentlich schwieriger, als sie es sich vorgestellt hatte.

»Vielleicht mag ich es ja so sehr, dass ich im Flanagans bleibe«, hatte Annika gesagt, und Billie hatte erwidert, dass sie das liebend gern tun könne. Das Beste, was sich ihre Mutter vorstellen konnte, waren junge, ehrgeizige Frauen, und dass Annika überdies Schwedin war, war ein zusätzliches Plus.

»Du bist genau die Art Frau, die Mama und Emma mögen. Du kannst dort Karriere machen, wenn du das willst.«

»Glaubst du?«

»Ich weiß es«, hatte Billie erwidert.

Sie spürte Karl-Johans herausfordernden Blick auf sich, wusste jedoch nicht richtig, was sie noch sagen sollte. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie manchmal so getan, als wäre sie Frankie, um den Mut zu haben, etwas auszusprechen; auch wenn sie Frankie nicht ausstehen konnte – dass diese nie um Worte verlegen war, fand sie trotz allem bewundernswert. Doch in diesem Augenblick konnte Billie Frankies Stimme in sich nicht erspüren, sodass sie lieber den Mund hielt.

Sie nestelte ein wenig an ihrem Gepäck herum, obwohl eigentlich alles fertig gepackt war. Das Taxi würde in zehn Minuten vorfahren. Sollte sie ihn darum bitten, ihr mit den Taschen zu helfen? Nein, das wäre zu viel verlangt. Billie hatte ihn verletzt, und das war nicht ihre Absicht gewesen. Aber es war nun mal schwer zusammenzubleiben, wenn man sich nicht einmal mehr im selben Land befand. Verstand er das denn nicht?

»Hast du mir nichts mehr zu sagen?«, fragte er wütend.

»Nein«, antwortete sie.

»Okay, dann noch ein schönes Leben«, sagte er und kehrte ihr den Rücken zu. Die Tür fiel laut ins Schloss, und endlich konnte Billie wieder durchatmen.


Ihr Vater winkte schon eifrig, als sie in Heathrow durch die Zollkontrolle kam.

»Endlich bist du wieder da!«, sagte er und nahm den Wagen mit den Taschen. »Dein Zimmer ist schon vorbereitet, und Magda hat ein Chicken Curry gekocht. Als Frankie und du noch klein wart und Edwin noch lebte, wart ihr euch alle einig, dass es nichts Leckereres auf der Welt gibt.«

Sie grinste. »Das finde ich immer noch.«

»Ich weiß!«

Draußen stand sein kleiner Sportwagen mit geöffnetem Verdeck.

»Oh, Papa, bitte … Da passt doch mein Gepäck nicht rein!«

»Mist, daran habe ich gar nicht gedacht. Dann müssen wir zusätzlich ein Taxi nehmen. Aber fährst du trotzdem mit mir? Dann höre ich schon mal, wie es dir ergangen ist. Wie geht es Karl-Johan?«, fragte er, während er nebenbei einem Taxifahrer zuwinkte, der rauchend neben seinem Wagen stand.

»Mit dem ist Schluss.«

»Ach, so schnell? Das ist ja traurig.«

Sie zuckte mit den Schultern.

Der Taxifahrer wollte erst nicht nur das Gepäck für sie transportieren, doch sobald Papa die Fahrt im Voraus bezahlt und ein ordentliches Trinkgeld draufgelegt hatte, verstummte er und nahm Billies Taschen entgegen.

»Da siehst du es«, sagte Papa. »Die Menschen sind doch alle käuflich.«

Er zog die Beifahrertür für sie auf.

»Das ist aber ein zynisches Menschenbild«, erwiderte sie, sobald er hinters Steuer gerutscht war.

»Nichtsdestoweniger wahr«, sagte er, warf einen Blick über die Schulter und fuhr vom Straßenrand. »Schnall dich an. Sonst fliegst du ohne Wagendach meilenweit, wenn etwas passiert. Oder wolltest du vielleicht fahren?«, fragte er. »Daran hab ich gar nicht gedacht.«

»Nein, fahr du.«

»Hast du in Schweden im Rechtsverkehr geübt?«

Sie lachte. »Ein Mal – und bin in die falsche Richtung in einen Kreisel eingefahren. Hat ein bisschen gedauert, da wieder rauszukommen.«

Er lächelte breit. »Wenn du wüsstest, wie froh ich bin, dass du nach Hause gekommen bist!« Er tätschelte ihr Bein. »Wann kommt deine Freundin?«

»In ein paar Wochen. Sie wohnt in einer der Personalwohnungen im Hotel.«

»Aber du ziehst wieder daheim ein?«

»Na klar.«

Billie atmete die wohlbekannten Gerüche Londons ein, als wäre die Stadt ein riesiger Wald. Es roch nach Autoreifen, warmem Asphalt, Abgasen und Benzin. Sie war wieder zu Hause.

Ein halbes Jahr zuvor hatte sie sich von hier weggesehnt, doch seither hatte sich vieles verändert. Das Theater hatte eine ganz neue Bedeutung für sie erlangt, die schwer zu erklären war. Sie hatte versucht, es in Worte zu packen, aber Worte hatten dafür nicht ausgereicht. Wer sie noch immer am besten verstand, war Annika. Nicht weil sie die gleichen Gefühle gehabt hätte, sondern weil sie die Veränderung an Billie erlebt hatte: von Todesangst zur Leidenschaft.

»Du wirst Filmstar«, hatte sie verkündet.

»Wie viele schwarze britische Filmstars kennst du denn?«, hatte Billie erwidert.

Die Frage war berechtigt gewesen, und seither hatte sie viel darüber nachgedacht. Wenn sie wirklich Schauspielerin werden wollte, würde von ihr unendlich mehr verlangt werden als von einer jungen weißen Frau. Aber sie würde kämpfen, genau wie ihre Mutter im Flanagans gekämpft hatte. Nur so würde sie etwas erreichen. Jetzt, da sie selbst etwas gefunden hatte, wofür sie brannte, konnte sie so viel besser verstehen, warum ihre Mutter stets so ehrgeizig gewesen war.

»Lässt du mich im Flanagans raus, damit ich bei Mama Hallo sagen kann?«, fragte sie, als sie sich dem Stadtzentrum näherten.

»Natürlich. Um sieben gibt’s Abendessen.«


Billie umarmte sich schier quer durchs Foyer, und an der Rezeption blieb sie kurz stehen, um mit ihren alten Kollegen ein paar Worte zu wechseln. Auch in diesem Sommer würde sie wieder hier aushelfen. Mama hatte ihr einen Bürojob angeboten, aber Billie wollte mit den Gästen zu tun haben. Das wäre so viel netter als bloß Papierkram.

Mit einem Mal hörte sie eine bekannte Stimme und erstarrte. Frankie? Oh nein! Was machte die denn im Flanagans? Billie starrte sie an, und Frankie glotzte ebenso verdattert zurück.

»Hallo«, sagte Billie schließlich.

»Hallo.« Frankie trat an die Rezeption. Sie sah immer noch genauso cool aus wie immer. Total bescheuerte Klamotten – aber sie konnte es tragen.

»Was machst du denn hier?«, fragte Billie, nachdem sie sie gemustert hatte.

»Womöglich das Gleiche wie du.«

»Willst du auch hoch ins Büro?«

Frankie nickte. »Gehen wir?«

Wollte sie tatsächlich, dass sie gemeinsam hochgingen? Bemerkenswert. Frankie wirkte fast … freundlich? Wie konnte das sein? Billie sah sie von der Seite an. Frankie hatte immer eine Aura gehabt, die Billie einschüchternd gefunden hatte, doch die war wie weggefegt, und es war ein merkwürdiges Gefühl, keine Angst mehr vor ihr zu haben. Entweder war Billie in Schweden erwachsen geworden, oder Frankie war in Frankreich netter geworden, weil sie jetzt in aller Seelenruhe nebeneinanderher über den Marmorboden auf die Treppe zugehen konnten. Keine von ihnen sagte etwas Fieses, stattdessen grüßten sie beide freundlich dieselben Leute, blieben stehen und umarmten Charlie, der das Gepäck abstellte, das er gerade getragen hatte, um sie angemessen willkommen zu heißen. Sie spähten in den Salon, wo die schick gekleideten Gäste saßen, und als sie an der Treppe ankamen, setzten sie gleichzeitig den ersten Schritt auf die unterste Stufe.

Frankie hielt Billie am Arm fest und lächelte sie an. »Weißt du noch?«

Billie fühlte sich um Jahre zurückversetzt. Plötzlich war sie wieder neun Jahre alt, und sie beide lieferten sich ein Wettrennen ins nächste Stockwerk. »Ja klar.« Sie erwiderte das Lächeln.

»Bereit?« Frankie sah Billie herausfordernd an.

Sie nickte, und ihre Beinmuskeln spannten sich fast instinktiv an. »Achtung, fertig, los!«

Wie der Blitz schossen beide die Treppe empor, und Billie kam als Erste oben an. Frankie sah sie mit großen Augen an. »Du hast gewonnen«, keuchte sie.

Billie zog eine Augenbraue hoch. »Früher hab ich dich immer gewinnen lassen

Als Billie die Tür zum Büro aufschob, lachte Frankie hinter ihr immer noch.

Emma juchzte und sprang sofort auf. Sie hatte anscheinend nicht einmal gewusst, dass Frankie in der Stadt war.

Billie sah ihre Mutter verdutzt an, als Frankie und Emma einander umarmten. Wann war das denn passiert? Glaubte Frankie gar nicht mehr, dass Emma die schlechteste Mutter der Welt war? Anscheinend nicht. Vielleicht war sie deshalb auch so freundlich zu Billie gewesen. Als ihre Mutter auf sie zurauschte, riss sie sie aus den Gedanken. Die Umarmung war warm, und ihre Mutter duftete wie immer nach Chanel.

»Willkommen zu Hause, mein Schatz«, sagte sie und ließ sie immer noch nicht wieder los.

Lächelnd wand sie sich aus deren Armen. »Ich wollte nur Hallo sagen. Ich bekomme ein Chicken Curry bei Papa – Magda hat gekocht.«

»Oh«, sagte Frankie. »Das beste Essen überhaupt!«

Billie zögerte kurz, aber dann sagte sie: »Komm doch mit! Papa freut sich, und Magda kocht immer für eine ganze Kompanie. Oder, Mama?«

Ihre Mutter nickte. Sie und Emma sahen glücklich aus. Hoffentlich erwarteten sie nicht zu viel. Wenn Frankie jetzt mitkäme, wäre es nur wegen des Currys, nicht aus … einer Art Freundschaft.

»Da schließe ich mich gern an«, sagte Frankie. »Ist doch okay, Mama?«

»Ja, sicher. Ich stehe nur leicht unter Schock, glaube ich. Wohnst du bei mir?«

»Ja, gern, wenn ich darf? Ich wollte ein paar Tage bleiben. Will einfach nur ein bisschen rumhängen. Papa kommt am Donnerstag, sodass ich mit ihm nach Calais zurückfahren kann. Er hat übrigens Geburtstag – wenn du willst, komm mit, wenn ich ihm den versprochenen Geburtstagskuchen spendiere.«

Billie hätte schwören können, dass sie Frankie noch nie so nett gegenüber ihrer Mutter erlebt hatte. Man hätte vor Rührung weinen können.

»Lass deine Tasche hier, die nehme ich später mit hoch«, sagte Emma, die derart ergriffen war, dass Billie wegsehen musste, um nicht rührselig zu werden.

»Kommst du?«, fragte sie Frankie und wandte sich zur Tür.

Gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter. Es fühlte sich bemerkenswert okay an, und Billie war erstaunt, wie leicht diese Veränderung vonstattengegangen war. Klar kannten sie sich schon ihr Leben lang. Ihre Mütter waren fast wie Schwestern, was dazu führte, dass Frankie und Billie so gut wie alles wussten, was die jeweils andere gerade machte. Trotzdem war es Jahre her, seit sie zuletzt freundlich miteinander umgegangen waren. Wenn Frankie Billie nicht gerade einen Streich gespielt hatte, hatte Billie etwas Überhebliches zu Frankie gesagt. Doch all das schien vergessen zu sein. Wenn Frankie jetzt nicht fies zu Billie war, wollte die es ebenso wenig sein. Sie waren beide eine Zeit lang weg gewesen, vielleicht fiel es ihnen deshalb leichter, nett zueinander zu sein.

»Schick«, sagte Frankie und nickte auf Billies Handtasche hinab.

»Deine aber auch«, erwiderte Billie.

Sie lächelten einander an. Nicht einmal das fühlte sich merkwürdig an.