5. Kapitel: Poppy
P oppy biss die Zähne zusammen. Mit aller Kraft versuchte sie, sich aus dem Griff des Rauchers zu lösen, doch es war vergebens. Ihr Rucksack hielt sie so fest wie ein Klettergurt. Sie konnte schon die Körperwärme des Lulatschs spüren, seinen biergesättigten Atem riechen.
„Was ist hier los?“, fragte eine seltsam kratzige Männerstimme.
Der Griff, der sie gehalten hatte, löste sich mit einem Mal und Poppy stürzte zu Boden. Sie sah auf und nahm eine Gestalt wahr, die sich den beiden Männern gegenüber aufgebaut hatte. Es war der schlaksige Junge mit dem Fotoapparat, dem sie vorhin den Stinkefinger gezeigt hatte.
„Was willste denn, du Lauch!“, sagte der lange Lulatsch und spuckte einen ekelhaften, grünen Batzen auf den Asphalt. Er ging auf den Jungen zu und hob drohend die Fäuste. Dieser wich einen Schritt zurück und Poppys Herz sank eine Etage tiefer. So mutig es auch war, zwei älteren Kerlen entgegenzutreten, war ihr Retter chancenlos gegen die beiden Grobiane.
Wie um ihren Gedanken zu bestätigen, traf in diesem Moment die Faust des Lulatschs den Oberarm des Jungen. Dieser schrie auf und trat noch einen Schritt zurück.
„Pass auf, jetzt poliert mein Kumpel dem Lauch gleich die Fresse“, sagte der Raucher.
Poppy spürte, wie eine Welle der Wut durch ihren Körper jagte. Das war einfach zu viel. Erst ließ ihr Vater sie sitzen und dann fiel sie auch noch diesen beiden Ekelpaketen in die Hände. Sie rappelte sich auf, hob das rechte Bein und stieß ihre Ferse dem noch immer hinter ihr stehenden Raucher mit aller Macht gegen das Schienbein. Der Getroffene stieß einen Schrei aus und rieb sich die schmerzende Stelle.
Der Lulatsch hatte in eben diesem Moment zu einem zweiten Schlag angesetzt, doch der Schmerzenslaut seines Kumpans lenkte ihn ab. Er wandte den Kopf und starrte Poppy an. Sein Gesicht war wutverzerrt. Poppy griff nach ihrem Rucksack, um sich notfalls damit zu verteidigen, doch irgendwie musste sich im Eifer des Gefechts der Reißverschluss geöffnet haben, sodass sich der Inhalt auf den Boden ergoss. Eine Wasserflasche kullerte über den Asphalt, das Päckchen mit den Tampons landete zielsicher in einer Pfütze, ihr Handy verlor den Akku und die Tüte aus dem Fanshop platzte auf.
Poppy bückte sich, bekam aber nur den Zauberstab zu fassen. Der Lulatsch hob seine Faust und wollte einen Schritt in Poppys Richtung machen, als ihn etwas Schwarzes an der Schläfe traf. Er sackte in sich zusammen wie eine Luftmatratze, deren Ventil abgerissen war.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Poppy den pickligen Jungen an, der hinter dem Kerl stand. Er hielt den Halsriemen seiner Kamera fest. Das Gehäuse schien intakt zu sein, aber das Teleobjektiv war verbogen und die vorderste Glasscheibe wies einen Sprung auf. Er hielt sich eine Hand vor den Mund und schaute den auf dem Boden liegenden Mann an. Dann hob er langsam den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Plötzlich weiteten sich seine Augen.
„Pass auf“, rief er und deutete auf einen Punkt hinter Poppys Schulter.
Sie drehte sich rasch um und sah, dass der Raucher mit erhobener Faust auf sie zustürmte. Instinktiv warf sie sich ihm entgegen und streckte dabei die Hand mit dem Zauberstab aus. Sie traf den Kerl in der Leistengegend und der Schrei, den er dieses Mal ausstieß, war kaum noch als menschlich wahrzunehmen. Er klappte zusammen wie ein Schweizer Taschenmesser und rollte laut jammernd auf dem Boden herum, die Hände auf seine Körpermitte gepresst.
„Los, wir müssen weg“, sagte der Junge.
Poppy stopfte die auf dem Asphalt verteilten Habseligkeiten in ihren Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Der Junge nahm ihren Koffer und gemeinsam rannten sie in das Bahnhofsgebäude hinein und an dem Fanshop und Gleis 9 3/4 vorbei. Erst in der großen Halle hielt er an. Poppy sah sich um. Die beiden Kerle waren nirgendwo zu sehen.
Schweratmend standen sie sich gegenüber und schauten sich an. Die Mundwinkel des Jungen zuckten. Poppy spürte, wie die Anspannung verflog und einer verrückten Heiterkeit wich. Sie grinste. Er tat es ihr gleich. Dann konnte sie nicht mehr anders und prustete los. Lachend standen sie sich gegenüber. Passanten starrten sie an, doch das war ihr egal. Die Erleichterung brach sich ihre Bahn und es war herrlich.
„Danke“, sagte sie, als sie sich schließlich etwas beruhigt hatten. „Wie heißt du eigentlich?“
„Andrew. Und du?“
„Eigentlich Elizabeth. Aber meine Freunde nennen mich Poppy.“
Sie deutete auf seine Kamera und sagte: „Das tut mir leid.“
Er zuckte mit den Achseln. „Besser die Kamera als du.“
Poppy spürte, wie ihr Gesicht angenehm warm wurde.
„Danke“, sagte sie noch einmal. Dann kam ihr ein Gedanke und sie fragte: „Kannst du mir sagen, wie ich am schnellsten nach Clapham komme?“