6. Kapitel: John
J
ohns linke Hand zitterte so stark, dass sein Zeigefinger das rote Hörersymbol verfehlte. Es war zum Verzweifeln. Er hatte Poppy ausrufen lassen, doch sie hatte sich nicht am Infopunkt gemeldet. Dann hatte er den ganzen Bahnhof abgesucht, aber keine Spur seiner Tochter gefunden. Schließlich hatte er wahllos jedem, dem er begegnete, ihr Bild gezeigt, das er als Hintergrund seines Smartphones eingespeichert hatte. Doch alle hatten nur mit den Köpfen geschüttelt. Eine ältere Frau hatte ihm gesagt, wie leid es ihr täte, dass sie das Mädchen nicht gesehen hätte, und wie sehr sie hoffte und betete, dass er sie finden würde. Da hatte er sich nicht mehr anders zu helfen gewusst, als bei der Polizei anzurufen. Die Worte der Beamtin klangen ihm noch im Ohr: „Wenn Sie Ihre Tochter erst seit zwei Stunden vermissen, können wir leider nichts für Sie tun. Am besten fahren Sie nach Hause, vielleicht ist sie schon dort. Auf Wiederhören.“
Das Schlimmste daran war, dass die Polizistin recht hatte. Er konnte nichts anderes tun. Es war sinnlos, in einer Stadt mit acht Millionen Einwohnern nach einem fünfzehnjährigen Mädchen zu suchen. Nun blieb ihm nichts übrig, als zu hoffen, dass sie den Weg zu seiner Wohnung alleine gefunden hatte.
Die Fahrt nach Hause war die Hölle. Seine Migräne war zwar inzwischen weitgehend abgeklungen, dafür war sein Schultergürtel hart wie Kruppstahl. Er massierte die schmerzenden Muskelstränge, während sein Gehirn sich ein Katastrophenszenario nach dem anderen ausmalte, von denen ein schwerer Autounfall noch die harmloseste Variante war.
Eine Stunde später bog er im Laufschritt in die Honeybrook Lane ein. Er sah Poppy schon von weitem. Sie saß auf dem Treppenaufgang zu seinem Haus, das Gesicht in den Händen vergraben.
„Poppy!“, rief er und im selben Moment durchflutete ihn eine Welle der Erleichterung.
Sie erhob sich und kam auf ihn zu. Er breitete die Arme aus, doch Poppy flüchtete sich nicht mehr in seine Umarmung wie damals, als sie drei Jahre alt gewesen war und sich das Knie beim Spielen im Sandkasten aufgeschlagen hatte.
Sie blieb einen Meter vor John stehen und sah ihn an. Ihre Augen waren rot vom Weinen und auf ihren Wangen hatten zahllose Tränen glänzende Spuren hinterlassen. Ihre Unterlippe bebte, als sie fragte: „Wo warst du?“
Ihre Stimme zitterte leicht. Ob vor Traurigkeit, vor Wut oder vor Enttäuschung, er konnte es nicht sagen.
„Ich habe auf dich gewartet. In King’s Cross“, fuhr sie fort.
John fehlten die Worte. Er war sprachlos vor Scham und Schmerz, seine Tochter in einem derart aufgelösten Zustand vor sich zu sehen.
„Und dann waren da diese zwei Männer“, sagte sie und über den glitzernden Pfad auf ihrer Wange kullerte eine weitere Träne.
Der Schreck fuhr John so abrupt in die Glieder, dass seine Nackenmuskulatur sich noch stärker verkrampfte. Erst der damit verbundene Schmerz weckte ihn aus seiner Sprachlosigkeit. „Was für Männer?“
Poppys Unterlippe zitterte noch ein bisschen stärker. „Zwei so Typen. Ich glaube, die wollten mich ausrauben oder sowas“, hauchte sie.
John trat mit weitausgestreckten Armen einen Schritt auf sie zu, doch Poppy wich zurück.
„Was haben die Kerle dir angetan?“, fragte er. Seine Stimme bebte, während sich sein Bild von Poppy mit allerhand Vorstellungen überlagerte, was diese Typen mit seiner Tochter angestellt haben mochten.
„Nichts“, sagte Poppy. „Ich hatte Hilfe. Ein Junge ist eingeschritten. Er hat mir auch gezeigt, wie ich hierher komme.“
„Ein Junge?“
Johns Stirn legte sich in Falten. „Wie heißt …“
„Das kann dir doch scheißegal sein!“, brach es mit einem Mal aus Poppy heraus.
John zuckte zusammen. „Aber …“, wollte er einwenden, doch seine Tochter fuhr ihm über den Mund.
„Es wäre deine Aufgabe gewesen, mich abzuholen. Aber dir ist wahrscheinlich wieder einmal etwas furchtbar Wichtiges dazwischengekommen.“
„Poppy, bitte …“
„Nein!“, schrie sie.
Ein Fenster am Nachbarhaus öffnete sich und Mrs. Llewellyn von nebenan linste sehr interessiert zu ihnen herüber.
„Poppy!“, rief jetzt auch John und hob die Hände, ehe er sie wieder sinken ließ, die Schultern gleich mit.
Sie hielt inne und sah ihn an. Er konnte es kaum ertragen, die Verletzung in ihrem Blick zu sehen, die Enttäuschung darüber, dass er es wieder einmal versaut hatte.
„Lass uns drinnen weiterreden, okay?“, schlug er vor.
Sie nickte. Er holte den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Sie traten in den Flur. John atmete tief aus.
„Poppy, es tut mir leid, ich …“
Sie hob die Hand.
„Wo ist mein Zimmer?“, fragte sie.
Er sah sie irritiert an.
„Mein Zimmer“, wiederholte sie. „Oder hast du auch vergessen, dass ich noch nie hier war?“
„Im ersten Stock“, erwiderte er verdattert.
„Okay“, sagte sie und ging auf die Treppe zu, ihren Koffer hinter sich herziehend.
„Soll ich schonmal was zu essen machen?“, fragte John.
„Keinen Hunger“, sagte Poppy, ohne innezuhalten oder sich wenigstens umzudrehen.
„Aber du hast doch sicher seit dem Frühstück nichts mehr gegessen!“
Nun wandte sie sich doch um. „Ich will einfach nur meine Ruhe, okay?“
John schluckte. Es drängte ihn zu einem Widerspruch. Doch stattdessen zwang er sich zu einem Nicken.
„Okay“, sagte er.
Poppy stieg langsam die Treppe hoch. John sah ihr nach, bis ihre Füße aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Er stellte seine Tasche ins Wohnzimmer und ging in die Küche, um rasch Nudeln mit Tomatensoße zusammenzurühren.
Eine halbe Stunde später balancierte er einen dampfenden Teller nach oben und klopfte an die Tür zu Poppys Zimmer. Keine Antwort. Er klopfte noch einmal. Wieder nichts. Er stellte die Nudeln vor die Tür und rief:
„Ich habe dir etwas zu essen gemacht. Es steht vor der Tür, falls du Hunger hast.“
Keine Erwiderung. Er wartete noch ein paar Atemzüge lang, dann ging er die Treppe hinunter in die Küche, wo er sich ein Glas Wein einschenkte.
Mit diesem landete er schließlich auf dem Sofa im Wohnzimmer. Es war neben dem leeren Bücherregal das einzige Möbelstück in dem ansonsten kahlen Raum, abgesehen von einem Dutzend nicht ausgeräumter Umzugskartons. John war erst vor knapp vier Monaten von Leeds nach Clapham gezogen.
Vielleicht würde es Poppy Freude bereiten, die Wohnung etwas wohnhafter zu gestalten. Der Gedanke erinnerte ihn schmerzhaft daran, dass zunächst das harte Stück Arbeit vor ihm lag, sich mit seiner Tochter zu versöhnen. Er nahm einen Schluck aus dem Weinglas und setzte es vorsichtig auf dem Dielenboden ab. Dann griff er nach seiner Umhängetasche und holte den Laptop heraus. Er hatte keinerlei Lust, sich mit Patientenakten zu beschäftigen, aber es musste sein.
Vier Wochen zuvor: Auszug aus der ersten Therapiesitzung mit Christopher Maddock
„Nehmen Sie Platz!“, sagte John und deutete auf den Korbsessel.
Christopher Maddock musterte das Möbelstück und setzte sich dann so behutsam darauf, als ob es gleich unter ihm zusammenbrechen könnte. In Anbetracht seines deutlichen Untergewichtes erschien John diese Vorsicht ziemlich absurd. Er ließ sich in die Polster seines eigenen Sessels sinken und fragte:
„Was kann ich für Sie tun?“
Maddock wandte seine dunkelbraunen, von tiefen, violetten Ringen umrandeten Augen dem Therapeuten zu. Er antwortete nicht gleich, schien seine Worte vielmehr mit Bedacht zu wählen.
„Sie wissen, wer ich bin?“, fragte er schließlich.
„Nun, auf Ihrer Patientenakte steht Christopher Maddock“, erwiderte John. „Das ist doch schon einmal ein Anfang.“
Auf dem Gesicht seines Klienten erschien ein schmales Lächeln. „Sie gefallen mir“, sagte er. „Aber jetzt lassen wir einmal die Beschnupperungsrituale weg. Ich habe nicht viel Zeit. Heute Abend geben sie Die Walküre
in Covent Garden. Da muss ich mich noch ein wenig frischmachen. In diesem Vogelscheuchenlook lassen die mich sicher nicht in ihre ehrwürdigen Hallen.“
„Wie Sie wollen“, sagte John.
„Ich frage sie noch einmal: Wissen Sie, wer ich bin?“
„Ich vermute einmal, dass Sie von mir hören wollen, dass ich weiß, dass Sie ein bekannter Schriftsteller sind.“
„Das waren ziemlich viele dass
in einem furchtbar verschachtelten Satz. Und bekannt
ist ein Ausdruck, der es möglicherweise nicht richtig trifft. Berühmt wäre angemessener. Oder berüchtigt.“
„Hat diese Berühmtheit etwas mit Ihrem Anliegen zu tun?“
Maddock lehnte sich zurück. Er faltete die knochigen Hände und legte sie unter sein Kinn.
„Indirekt“, sagte er. „Nur, wenn meine Berühmtheit Sie stört.“
John nickte. „Ich kann Ihnen versichern, dass ich der strengsten Schweigepflicht unterliege, die das britische Recht vorsieht. Kein Wort, das wir hier sprechen, wird diesen Raum verlassen. Das gilt für jeden meiner Klienten, egal ob er oder sie berühmt ist oder nicht.“
„Gilt diese Schweigepflicht nur, solange ich lebe, oder auch über meinen Tod hinaus?“
„Auch über Ihren Tod hinaus. Ist denn in absehbarer Zukunft damit zu rechnen, dass Sie sterben?“
Maddock lachte. „Nur weil ich aussehe wie der Tod, heißt das noch nicht, dass ich demnächst Mitglied der himmlischen Chöre werde. Ich bin so gesund, wie man es nach 15 Jahren Polytoxikomanie nur sein kann.“
„Wie sieht es mit Suizidgedanken aus?“
Maddock schüttelte den Kopf. „Ich will nichts mehr als leben.“
„Nun, das klingt für mich nach einem guten Ziel für eine Therapie.“
Maddock nickte.
„Was hindert Sie denn daran, zu leben?“, fragte John weiter.
Maddock schloss die Augen. „Vieles“, sagte er. „Sehen Sie, als mein erster Roman erschien, wurde ich von einem Kritiker der Times gefragt, ob man selbst zutiefst seelisch verletzt worden sein musste, um so etwas schreiben zu können. Ich habe die Frage damals verneint. Das war eine Lüge.“
„Sie haben ein Trauma erlitten?“
Maddock hob die Hand. „Darüber darf … kann ich nicht sprechen. Ich bin nicht deswegen zu Ihnen gekommen.“
„Gut, dann kehren wir vielleicht noch einmal zu meiner Ausgangsfrage zurück. Was kann ich für Sie tun?“
Maddock atmete tief durch.
„Die Antwort ist ganz einfach: Befreien Sie mich von meinen Albträumen.“