13. Kapitel: Poppy
N ach Chelsea zu gelangen war ein Kinderspiel. Poppy folgte der Wegbeschreibung, die Rosie ihr geschickt hatte, und pünktlich um 16 Uhr stand sie vor einem zweistöckigen Gebäude, dessen Backsteinfassade aussah wie einem Roman über die Tudor Zeit entsprungen.
Sie überprüfte noch einmal die Adresse. Sie stimmte. Auf dem Weg, der von der Straße durch den Vorgarten führte, lagen bunte Blütenblätter und über der massiven Haustür war ein Spruchband angebracht worden, auf dem Happy Birthday Rosie stand. Sie holte das Geschenk für ihre Freundin aus ihrer Tasche. Was die anderen wohl mitbringen würden? Wenn alle ihre Gäste in Häusern wie diesem hier wohnten, dann hatten sie sicher viel mehr Taschengeld zur Verfügung, und dementsprechend aufwändiger würden auch die Geschenke ausfallen. Poppy fühlte sich leicht schwindelig. Plötzlich verspürte sie den Drang, sich umzudrehen und rasch wieder nach Hause zu gehen. Was um alles in der Welt hatte sie geritten, Rosies Einladung anzunehmen? Sie gehörte nicht hierher.
„Poppy?“
Rosies Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah auf. Ihre Freundin stand in der von zwei ionischen Säulen eingerahmten Tür.
„Du bist schon richtig hier. Komm rein!“
Poppy warf noch einmal einen Blick auf das Päckchen in ihrer Hand. Der Impuls zu fliehen war immer noch stark. Aber die Gelegenheit war vorüber. Sie konnte nicht mehr zurück. Sie atmete tief durch und ging durch den Vorgarten auf den Eingang des Hauses zu. Rosie strahlte sie an. Sie sah hübsch aus in dem blauen Rüschenkleid. Um den Hals trug sie eine Perlenkette und ihre Haare waren aufwändig hochgesteckt. In ihren eigenen Klamotten, die sie mit Mum in einer Filiale einer Billigkette in Leeds eingekauft hatte, fühlte Poppy sich wie ein hässliches Entlein, was den Wunsch, sich in Luft aufzulösen oder auf eine andere Art und Weise zu verschwinden, noch einmal verstärkte.
Doch Rosie umarmte sie herzlich und als sie ihr ins Ohr flüsterte, wie schön es sei, dass sie zu der Party gekommen war, fühlte Poppy sich zwar noch nicht wohl, aber wenigstens willkommen. Sie gab Rosie das Geschenk und ihre Freundin führte sie ins Innere des Hauses. Eine hochgewachsene Frau in einem schicken, malvenfarbenen Kostüm kam auf sie zu und streckte Poppy lächelnd die Hand entgegen. Sie sah Rosie so ähnlich, dass sie gar nicht erklären musste, dass sie ihre Mutter war.
„Du bist die Erste“, sagte Rosie. „Prima, dann kann ich dir noch mein Zimmer zeigen.“
Sie führte sie eine Treppe hinauf in das Obergeschoss des Hauses und in einen Gang, von dem zahlreiche Türen abgingen. Poppy versuchte, sich daran zu erinnern, wie viele Geschwister Rosie hatte. Waren es zwei? Oder drei?
Ihre Freundin öffnete die vorletzte Tür und Poppy trat in einen fliederfarbenen Traum. Der Raum war mit einer wunderschönen Blumentapete verziert und die Möbel sahen aus, als ob sie Requisiten einer Literaturverfilmung gewesen wären.
„Wow“, sagte Poppy. „Das ist ja toll.“
Rosie ließ ihr ein wenig Zeit, das traumhafte Zimmer angemessen zu bestaunen, dann gingen sie die Treppe wieder hinunter und gelangten in einen kleinen Saal, bei dem es sich offenbar um ein Wohnzimmer handelte. Allerdings fand Poppy die Bezeichnung „Salon“ der Größe und Pracht des Gemachs angemessener. Besonders beeindruckend fand sie die riesigen Glastüren, durch die man in den Garten gelangte.
Rosie führte sie hinaus. Auf dem Rasen standen Cocktailtische, deren Platten sich unter allerhand Süßigkeiten und Knabberzeug bogen. Auf einem separaten Tisch sah Poppy eine große Torte, auf die mit Zuckerguss die Zahl 16 gesprüht worden war. Ein kleiner, weißer Hund wirbelte auf sie zu.
„Das ist Max“, sagte Rosie.
Poppy bückte sich und streichelte dem Terrier über das struppige Fell. Sie kicherte, als das Hundchen versuchte, ihr die Finger abzulecken. Es klingelte und Rosie ging zurück ins Haus. Poppy sah sich um. Das alles war ein Traum. Und doch war da wieder dieses bohrende Gefühl, nicht hierherzugehören.
Es verstärkte sich, als die ersten Gäste eintrafen. Im Gegensatz zu Poppy trug keines der Mädchen Hosen. Im Gegenteil, sie schienen alle bemüht zu sein, sich an Pracht und Aufwand gegenseitig auszustechen. Allein die Ohrringe, die eine gewisse Lavinia trug, waren mehr wert als alles, was Poppy in ihrem Kleiderschrank hatte. Sie hielt sich am Rand, nippte hin und wieder an ihrem Glas mit Kirschcola und beobachtete die anderen Gäste. Plötzlich trat ein Mann aus dem Salon heraus. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und hatte einen gewaltigen Walrossschnurrbart im Gesicht. Nachdem er den Blick über die inzwischen gut und gerne ein Dutzend Gäste umfassende Runde im Garten hatte gleiten lassen, ging er direkt auf Poppy zu. Sie führte das Glas zum Mund und trank einen großen Schluck. Was wollte der Mann von ihr?
„Guten Abend“, sagte er und streckte ihr die Pranke hin. „Ich bin Rosies Vater. Und du bist …“
„Poppy. Oh, Entschuldigung, das ist nur mein Spitzname. Elizabeth Burgess.“
Die Spitzen des Schnurrbartes hoben sich in der Andeutung eines Lächelns. „Ah, dann bist du Rosies Klassenkameradin. Wie gefällt es dir in St. Marys?“
„Ganz gut“, sagte Poppy.
„Prima“, erwiderte Rosies Vater und ließ sie einfach stehen. Poppy spürte, wie ihr Mund staubtrocken wurde. Das mit dem Smalltalk war ja gründlich schiefgegangen. Doch dann sah sie, dass Rosies Vater zu einer Gruppe von kichernden Mädchen ging, sich vorstellte, eine Bemerkung fallen ließ, die Antworten der Teenager abwartete, erneut „Prima“ sagte und dann wieder ging. Das beruhigte sie.
„Na, was stehst du denn so abseits?“, fragte Rosie. Sie war neben Poppy getreten und hielt einen Kuchenteller in der Hand. „Magst du ein Stück?“
„Mir ist ein bisschen schlecht“, sagte Poppy.
„Komm mal mit“, sagte Rosie und hakte sich mit dem freien Arm bei Poppy unter. „Ich stell dich meinen ältesten Freundinnen vor.“
Poppys Übelkeit verstärkte sich, als Rosie auf die beiden Mädchen zulavierte, die am prächtigsten von allen gekleidet waren. Sie hatten sie beinahe erreicht, als erneut die Türglocke erklang.
„Immer diese Nachzügler“, brummte Rosie, ließ Poppy los und eilte in den Salon zurück.
Poppy stand nun inmitten der Mädchen, die wild miteinander klatschten und tratschten. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie schaute sich um. Keiner schien Notiz von ihr zu nehmen. Sie fühlte sich wie ein Geist, den niemand sehen kann, so wie Bruce Willis in dem gruseligen Film mit diesem Jungen, den sie angeschaut hatte, als Mum einmal nicht zuhause gewesen war. Danach hatte sie eine Woche lang kaum schlafen können, aus Angst, dass unter ihrem Bett auch tote Menschen lebten.
Wie sehr wünschte sie sich jemanden, der sie rettete. Der mit ihr sprach, sich ihrer annahm. Der ihr nicht das Gefühl gab, ein Fremdkörper zu sein. Sie zog sich aus dem Kreis der schnatternden Mädchen zurück, ohne dass diese es bemerkt hätten. Um irgendetwas zu tun zu haben, ging sie zu der Geburtstagstorte und tat sich ein Stück auf. Im hinteren Teil des weitläufigen Gartens sah sie eine Bank neben einem enormen Buchsbaum stehen. Dorthin zog sie sich zurück. Sie hatte keinen Appetit, zwang sich aber doch, ein Stück des Kuchens in den Mund zu schieben. Es schmeckte himmlisch. Der Biskuit war saftig und die Cappuccino-Sahne war ein Traum.
Sie stach mit der Gabel noch einen zweiten, dieses Mal etwas größeren Bissen ab und schob ihn gerade zum Mund, als sie hinter sich Stimmen hörte.
Ein Mann sagte: „Bislang läuft alles nach Plan. Meine Leute haben kein Leck entdecken können und morgen werden wir ein frisches Lamm zur Schlachtbank führen.“
„Sehr gut“, sagte eine andere, etwas höhere aber deutlich kältere Stimme. „Grimaud hat sauber gearbeitet. Der Coroner geht von einem Selbstmord aus.“
„Guter Mann, dieser Grimaud.“ Die Stimme des anderen Mannes klang anerkennend.
„Für mich arbeiten nur gute Männer. Dein Mousqueton hat übrigens auch einen ordentlichen Job gemacht, Respekt. Wichtig ist nun, dass du den zweiten Teil des Plans konsequent umsetzt.“
„Da wird es keine Probleme geben. Er ist wasserdicht. Bislang hat alles reibungslos funktioniert.“
„Bist du dir sicher, dass die Leute dir deine Story abnehmen werden?“
Sie hörte ein heiseres Lachen. „Das ist mein Geschäft. Seit vielen Jahren. Vertrau mir. Ich bin geübt darin, überzeugende Narrative unter’s Volk zu bringen.“
„Wenn ich jetzt unfreundlich wäre, könnte ich auch Fake News dazu sagen, oder?“
Erneut ertönte das heisere Lachen. „Nenn es, wie du willst. Ich sehe es als ein Werkzeug an, mit dem ich meisterhaft umzugehen verstehe. Und ab Sonntag stelle ich dir dieses Werkzeug in vollem Umfang zur Verfügung.“
„Sehr gut. Ich werde mich erkenntlich zeigen. Einer für alle …“
„Und alle für einen“, ergänzte der andere.
„Nette Party hier.“
„Ja, das musste noch sein. Heute Abend bin ich die Plagen los. Sie fliegen mit ihrer Mutter nach Spanien. Dann habe ich noch mehr Bewegungsfreiheit.“
„Ich werde meinen Sprössling am Wochenende nach Cornwall verfrachten. Dort kann er bleiben, bis wir umziehen.“
Ein drittes Mal hörte sie das heisere Lachen. „Na, dann hoffe ich mal, dass es ihm in deinem neuen Wohnsitz gefallen wird.“
Die Stimmen entfernten sich, Poppy saß ganz still da. Sie hatte keine Ahnung, was diese Unterhaltung zu bedeuten hatte, die sie da eben mitangehört hatte. Aber sie war sich sicher, dass einer der beiden Männer Rosies Vater gewesen sein musste. Wie verächtlich er von seinen Kindern gesprochen hatte. Bei dem Gedanken lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinab. Dad mochte ja nicht der zuverlässigste Mensch sein, aber sie war sich sicher, dass er anderen gegenüber nie so über sie hergezogen hätte.
Etwas zwickte sie in den großen Zeh am linken Fuß.
„Au!“, rief sie und hielt sich die Hand vor den Mund. Hoffentlich hatten die beiden Männer sie nicht gehört. Sie sah nach unten und entdeckte Max, der ihre Zehen zu seinen neuen Spielzeugen erkoren hatte. Sie hob ihn auf ihren Schoß und streichelte ihn. Währenddessen zählte sie bis Hundert, um sicherzugehen, dass die beiden Männer auch wirklich weg waren. Dann ließ sie Max herunterspringen und schlenderte zum Kuchenbüffet, um sich noch ein Stück der leckeren Torte zu holen, während der Hund um ihre Füße herumtollte. Ein großer Junge stand bereits dort. Er kehrte ihr den Rücken zu, doch irgendwie kam er ihr bekannt vor.
Als er sich umdrehte, weiteten Poppys Augen sich und auch in seinem Gesicht war die Überraschung deutlich zu erkennen. Es war Andrew.