17. Kapitel: Unity
U
nity wollte nicht aussteigen. Die weißrote Schrift an der Wand des Bahnhofs zeigte ihr zwar an, dass sie ihr Ziel erreicht hatte, aber allein die Blicke, die die Leute ihr zuwarfen, verrieten ihr, dass sie in Hampstead nicht erwünscht war. Eine ziemlich posh aussehende Frau, die in King’s Cross zugestiegen war, hatte verächtlich ihren Afro gemustert und sich dann dafür entschieden, sich nicht auf den freien Platz neben Unity zu setzen, sondern stehen zu bleiben.
Und wenn sie das Getuschel der beiden alten Männer in ihren Tweedjacken schräg gegenüber richtig deutete, lästerten die über sie. Zumindest war sie die einzige Dunkelhäutige in diesem Zug und das Wort Affe würden sie sicher nicht für ihresgleichen verwenden. Unity war an rassistische Pöbeleien gewöhnt, schließlich war sie in Whitechapel aufgewachsen, einem Stadtteil, in dem sich die vielen Völker, die das einstige Empire unter seine Herrschaft gebracht hatte, mal mehr, mal weniger fröhlich durchmischt hatten wie sonst nirgendwo in London.
Auf den Straßen dort herrschte ein rauer Ton und das empfand Unity nicht als unangenehm. Es gehörte dazu, so wie der Verkehrslärm oder der würzige Duft aus den asiatischen Restaurants, die sich in der Brick Road aneinanderreihten wie Perlen an einer Kette. Doch das war Whitechapel. Hampstead dagegen war eine andere Welt, eine feinere, wohlhabendere, weißere Welt. Natürlich gab es auch hier Menschen, deren Vorfahren nicht aus England stammten. Aber sie lebten im Schatten der zahlreichen Angehörigen der Oberschicht, die hier in diesem nördlichen Viertel der Stadt ihre alten Familienvillen bewohnten, wenn sie nicht gerade bei einem Poloturnier oder auf der Rennbahn in Ascot wichtigen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgingen.
Widerwillig erhob sich Unity und trat auf den Bahnsteig. Die Blicke der beiden Alten folgten ihr und sie konnte nicht sagen, was sie mehr abstieß: Die Verachtung oder die kaum verhohlene Lüsternheit, die darin lagen. Sie fuhr mit der Rolltreppe an die Oberfläche. Die Stoßzeit war vorbei und so waren nur wenige Menschen an diesem sonnigen Augusttag unterwegs. Die Stadt war ohnehin leer wie selten. In den Ferien waren viele Londoner dem Wortsinn nach ausgeflogen, brieten auf den Sonnenstränden in Spanien oder Griechenland und lieferten sich Handtuchkriege mit deutschen Urlaubern.
Unity trat aus dem Bahnhofsgebäude und sah sich um. London wirkte hier überhaupt nicht wie der große Moloch, in dessen Einzugsgebiet inzwischen acht Millionen Menschen lebten. Stattdessen fühlte sie sich wie in einer Kleinstadt auf dem Land. Wenn der rote Doppelstockbus auf der Hauptstraße nicht gewesen wäre, hätte sie meinen können, sie wäre in Yorkshire oder in Shropshire oder einer anderen altenglischen Idylle.
Nirgendwo gab es Gebäude, die mehr als zwei Stockwerke hoch waren. Und alle Häuser schienen Vorgärten zu haben, die untereinander um den schönsten Blumenschmuck wetteiferten. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und rief die Kartenfunktion auf. Dann wandte sie sich nach rechts und folgte der voreingestellten Route zu der psychologischen Praxis, in der Christopher Maddock behandelt worden war.
Nach fünf Minuten hatte sie das Gebäude in einer Seitenstraße mitten in einer exklusiven Wohngegend erreicht. Ein Schild zeigte an, dass hier psychisch kranke Menschen behandelt wurden: Psychotherapeutische Privatpraxis Dres. Hamilton & Burgess
.
Unity sah sich die Fassade an. Sie kannte sich nicht mit Baustilen aus, aber die beiden Säulen, die einen Balkon trugen, der über den Eingang hinausragte, und die reich von Ornamenten umrankten Fenster deuteten daraufhin, dass allein die Miete für die Praxisräume ein Vermögen kostete.
Sie überlegte, was sie nun tun sollte. Am naheliegendsten wäre, bei der Praxis zu klingeln und die Sprechstundenhilfe oder vielleicht sogar einen der Therapeuten in ein Gespräch zu verwickeln. Kurzentschlossen drückte sie den Klingelknopf. Ein Surren ertönte und sie trat durch die sich öffnende Tür in einen Flur. Zu ihrer Linken befand sich eine weitere Tür, auf der Hamilton & Burgess, Psychotherapeuten
stand.
Sie wollte gerade klopfen, als sich die Tür von selbst öffnete. Eine Frau in ihrem Alter, eindeutig asiatischer Herkunft, sah sie fragend an.
„Unity Wilmore“, stellte sie sich vor. „Ich bin Journalistin und arbeite beim Morning Star. Ich …“
Weiter kam sie nicht, denn die Frau schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Was für eine Unverschämtheit! Das konnte sie sich nicht bieten lassen. Unity klopfte. Durch das massive Holz drangen die Worte: „Verschwinden Sie!“
Nun, das war ja gründlich schiefgegangen. Sie trat wieder hinaus auf den Gehsteig vor dem Gebäude und ließ ihren Blick über die Nachbarschaft schweifen und entdeckte am Nebengebäude der Praxis ein geöffnetes Fenster im ersten Stock. Eine ältere Dame beugte sich heraus und war damit beschäftigt, die Blumen in einem davor angebrachten Kasten zu gießen. Unity kam eine Idee. Sie lief zu der Frau.
„Guten Morgen!“
Die alte Dame wandte ihre Aufmerksamkeit von den Blumen unter ihrer Nase ab, ohne dabei jedoch mit dem Gießen aufzuhören, was dazu führte, dass der Wasserstrahl nicht mehr in den Kasten sondern auf die Straße platschte.
„Guten Morgen“, erwiderte sie.
„Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?“ Unity versuchte, so freundlich und gesittet wie möglich zu klingen, während die Frau ihren Afro musterte, ohne sich die Mühe zu geben, ihr Missfallen angesichts der wild nach allen Richtungen auseinanderstrebenden Frisur zu verbergen.
„Was wollen Sie wissen?“
„Die psychotherapeutische Praxis da drüben“, Unity deutete mit dem abgespreizten Daumen nach rechts. „Gibt es die hier schon lange?“
„Seit fünf Jahren“, erwiderte die alte Frau. „Und wissen Sie, woher ich das so genau weiß?“
Unity schüttelte den Kopf. Die Frau machte keine Anstalten fortzufahren und so fragte sie: „Woher wissen sie das?“
„Dr. Hamilton hat seine Praxis an meinem 80. Geburtstag eröffnet und als er erfahren hat, dass unsere Feiertage auf das gleiche Datum fallen, hat er mir eine Flasche Champagner zukommen lassen. Sehr aufmerksam, der Herr Doktor.“
„Hat Dr. Burgess damals auch schon in der Praxis gearbeitet?“
Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Nein, der ist erst seit ein paar Monaten Teilhaber geworden. Ein stiller Mann. Er wirkt immer so abgehetzt. Ich weiß nicht, ob ich zu jemandem wie ihm Vertrauen fassen könnte.“
„Kommen viele Patienten in die Praxis?“
„Nicht so viele wie zu meinem Hausarzt. Aber das ist ja wohl auch ganz normal. Die Termine bei einem Therapeuten dauern hoffentlich länger.“
Sie stieß ein heiteres Lachen aus und Unity fiel mit ein.
„Kommen auch bekannte Personen in die Praxis?“, fragte sie.
Etwas im Blick der alten Frau veränderte sich. Hatte zuvor noch ein fröhlicher Glanz darin gelegen, so hatte nun die Vorsicht ihre Pupillen eingetrübt.
„Warum wollen Sie das wissen?“, fragte sie.
„Es interessiert mich eben“, sagte Unity und biss sich auf die Zunge. Die Antwort war schwach gewesen und die Quittung erhielt sie umgehend.
„Wer sind Sie überhaupt?“, fragte die Alte. „Und wie kommen Sie dazu, mir diese Fragen zu stellen. Sind Sie etwa eine von diesen Paparazzi?“
Unity wollte etwas erwidern, das die Frau besänftigt hätte, doch sie kam nicht dazu, denn diese zog ihren Kopf zurück und schloss nicht nur die Fenster, sondern auch die Jalousie. Unity ließ die Schultern sinken. Sie setzte sich auf den Bordstein und legte ihr Gesicht in die geöffneten Hände.
Was machte sie hier? Was hoffte sie hier zu finden? Sie wusste es nicht. Der ganze Auftrag war ihr ein großes Rätsel. Warum war der Chefredakteur so versessen darauf gewesen, alle Fakten zu Christopher Maddock präsentiert zu bekommen, nur um dann auf den Psychotherapeuten umzuschwenken? Sie wusste, dass diese Fragen hinderlich waren, dass sie sich selbst das Leben schwerer machte, als es sein müsste. Aber die fehlenden Antworten peinigten sie wie kleine, feine Nadelstiche.
Natürlich wusste sie, was zu tun war. Sie musste Klinken putzen in der Nachbarschaft und versuchen, alles Wissenswerte über die Praxis und diesen Psychotherapeuten herauszufinden. Das Wichtigste war jedoch, Dr. Burgess selbst zu Wort kommen zu lassen. Da hatte ihre Mutter schon recht.
Sie hörte Schritte und hob den Kopf. Helle Hosenbeine eilten an ihr vorbei. Der dazugehörige Männerkörper war angespannt, die Bewegungen fahrig, der Kopf gesenkt, die dunkelblonden Haare verwuschelt. Die Ähnlichkeit zu den Fotos, die sie von Burgess gesehen hatte, war unverkennbar. Einem Impuls folgend erhob sie sich, holte ihr Diktiergerät aus der Jackentasche, schaltete es ein und sprach den Mann an:
„Entschuldigen Sie, sind Sie hier in Behandlung?“
Der Angesprochene wandte langsam den Kopf und sah Unity verwirrt an. Er wirkte wie jemand, der gerade aus dem Schlaf gerissen worden war und nun weder wusste wo er ist, noch wer er ist.
„Nein“, sagte er. „Ich bin Dr. Burgess, einer der beiden Therapeuten.“
Unitys spürte, wie ihr eine warme Röte in die Wangen schoss.
„Dann sind Sie der Therapeut von Christopher Maddock?“, sagte sie rasch.
„Ja, aber …“
Er hielt inne. In Unitys Bewusstsein machte sich ein Gefühl des Triumphes breit. Ein Auto fuhr heran. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass es am Bordstein parkte. Die Tür öffnete sich. Sie achtete nicht darauf, sondern versuchte, noch mehr Informationen aus Burgess herauszubekommen, wenn sie ihn schon einmal am Haken hatte.
„Wie lange war er schon in Ihrer Behandlung?“
Der Therapeut schnappte nach Luft wie ein Karpfen am Trockenen. „Ich, ich…“, stammelte er.
„Gab es irgendwelche Anzeichen dafür, dass er sich das Leben nehmen wollte?“, fuhr sie fort. Ihre Fragen prasselten auf den Psychologen ein wie Peitschenhiebe.
„Haben Sie …“
„Halt!“, donnerte eine Stimme neben ihr. Unity zuckte zusammen und wandte sich um.
Ein kleiner Mann mittleren Alters tauchte neben ihr auf. Er war in einen hellen Sommeranzug gekleidet und trug einen Bowler. Seine Hände steckten in weißen Handschuhen. Eine weiße Maske verdeckte Mund und Nase. Doch es waren seine klaren, blauen Augen, von denen sie ihren Blick nicht abwenden konnte. Sie starrten sie mit einer Kälte an, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Was soll das hier werden?“, fragte er.
„Ich bin Journalistin und unterhalte mich gerade mit Herrn Dr. Burgess“, sagte Unity mit aller Festigkeit, die sie noch aufbieten konnte.
„Nach einer Unterhaltung sieht mir das aber nicht gerade aus“, entgegnete der Mann mit einer Schärfe, die ihn seiner geringen Körpergröße zum Trotz respekteinflößend wirken ließ. Er wandte sich an Burgess.
„Soll ich die Polizei rufen, damit sie diese Dame hier in ihre Schranken weist?“
Unity holte tief Luft. Was erlaubte dieser Giftzwerg sich?
„Wir leben in einem Staat, in dem der Grundsatz der Pressefreiheit gilt“, erwiderte sie. „Ich habe jedes Recht der Welt, mit Herrn Burgess zu sprechen.“
Der kleine Mann legte den Kopf schief. „Und Herr Burgess hat das Recht, Ihnen die Antwort zu verweigern. Und genau das wird er jetzt tun.“
Er ging an Unity vorbei, packte den Therapeuten unter dem Arm und drückte den Klingelknopf der Praxis. Doch Unity wollte sich nicht so rasch geschlagen geben. Als die Tür sich öffnete, versuchte sie, den beiden in den Flur zu folgen. Doch der kleine Mann schob zunächst Burgess hinein und stellte sich dann in ihren Weg.
„Unterstehen Sie sich, dieses Gebäude zu betreten. Andernfalls werde ich Herrn Dr. Burgess dringend dazu raten, Sie wegen Hausfriedensbruchs anzuzeigen.“
„Wer sind Sie überhaupt? Sein Kollege? Sind Sie Dr. Hamilton?“
Der Kleine schüttelte den Kopf.
„Nein, ich bin nicht sein Kollege. Mein Name ist Sir Edmund Hathaway. Ich bin bei Dr. Burgess in Behandlung. Und ich bin Rechtsanwalt. Und zwar ein verdammt guter. Also machen Sie, dass sie verschwinden, oder ich bin möglicherweise doch noch versucht, die Polizei zu rufen!“