19. Kapitel: Poppy
P
oppy erwachte, als ein Sonnenstrahl durch eine Lücke in den Vorhängen auf ihr Gesicht fiel. Ein angenehmes, warmes, helles Gefühl weckte sie. Sie öffnete die Augen, musste sich aber sofort auf die Seite drehen, weil das Licht sie blendete. Sie reckte und streckte sich und gähnte herzhaft. Dann stand sie auf.
In der Küche kramte sie in den Umzugskartons und zog eine Packung Müsli und eine Schüssel heraus. Im Kühlschrank fand sie Milch. Zufrieden bereitete sie sich ihr Frühstück zu und überlegte, was sie mit dem neuen Tag anfangen sollte. Sie beschloss, es sich erst einmal auf dem Sofa bequem zu machen.
Nachdem sie ihre Müslischale ins Wohnzimmer balanciert und sich auf den Kissen des Sofas eingerichtet hatte, holte sie ihr Handy hervor und entsperrte das Display. Es gab keine neuen Mitteilungen. Niemand hatte ihr geschrieben. Lustlos scrollte sie durch ihre alten Nachrichten und schließlich landete sie bei Facebook. Wie von selbst führte ihr Zeigefinger sie zu Rosies Profil und zu ihrer Freundesliste. Da war er wieder. Andrew Williamson.
Sie tippte auf sein Foto, doch erneut wurden ihr weitere Informationen verwehrt, da sie keine Freunde waren. Kurzentschlossen schickte sie ihm eine Freundschaftsanfrage. Schließlich hatten sie sich gestern auf Rosies Party prima unterhalten. Sie wartete einen Moment, ob er sie gleich als Freundin bestätigen würde, doch Andrew schien nicht online zu sein. Daher legte sie das Handy beiseite und widmete sich ihrem Müsli.
Dabei fiel ihr Blick auf das Beistelltischchen. Dort lag das Tagebuch. Es war aufgeschlagen. Offenbar hatte Dad vergessen, es wegzuräumen. Poppy kämpfte gegen den Drang an, das reichverzierte Notizbuch in die Hand zu nehmen. Dad hatte ihre Neugier geweckt, gleichzeitig aber auch unmissverständlich klar gemacht, dass sie ihre Finger von dem Buch lassen sollte.
Sie warf einem Blick über ihre Schulter. Dad war schon lange bei der Arbeit. Und wenn sie das Buch wieder genau so hinlegte, wie sie es aufgefunden hatte, würde er sicher nichts merken. Sie griff danach und blätterte die Seiten durch.
Auf dem Vorsatzblatt hatte jemand etwas in einer Sprache notiert, die sie nicht verstand. Für sie sah das aus wie Dänisch oder Holländisch oder Österreichisch. War Österreichisch überhaupt eine Sprache? Poppy hatte keine Ahnung, was die Worte zu bedeuten hatten. Aber zum Glück gab es ja Übersetzungsapps.
Dads Laptop lag neben dem Sofa. Sie fuhr ihn hoch, öffnete den Browser und rief eine Suchmaschine auf. Als sie das erste Wort in das Feld eintragen wollte, stellte sie fest, dass ihr automatisch das ganze Zitat angeboten wurde. Offenbar hatte Dad schon danach gesucht. Sie tippte auf Enter und die Ergebnisse verrieten ihr, dass die Worte aus einem Buch mit dem Titel Die Traumdeutung
stammten. Es war ein altes Buch, erschienen im Jahr 1900 und sie brauchte nicht weiterzulesen, um zu wissen, dass sein Verfasser Sigmund Freud hieß.
In ihrem Kopf rastete eine Verbindung ein. Sie hatte im vergangenen Schuljahr ein Referat über diesen Freud gehalten, daher kannte sie seinen Namen, klar. Doch das Buch hatte sie auch schon einmal in Händen gehalten. Aber wann? Und wo? Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild eines Bücherregals. Daneben stand ein Sofa. Dads Sofa, auf dem sie jetzt saß. Richtig, das war in seiner Wohnung in Leeds gewesen. Dad besaß das Buch.
Sie sah sich im Wohnzimmer um. Das Bücherregal stand zwar schon dort, es war aber noch nicht eingeräumt. Daneben waren drei Kisten aufeinandergestapelt. Die Oberste war mit Fachliteratur
beschriftet. Das musste es sein. Poppy öffnete den Deckel des Kartons und kramte durch die Bücher. Titel wie Psychotraumatologie
oder Angewandte Resilienz
sagten ihr gar nichts. Nachdem sie zehn Minuten lang in der Kiste herumgestöbert hatte, war sie sich sicher, dass sich Die Traumdeutung
nicht darin befand.
Sie schob den Karton beiseite. Er fiel krachend zu Boden. Darunter war eine Kiste, die mit Belletristik
beschriftet war. Auch mit diesem Wort konnte sie wenig anfangen. Als sie sich die darin befindlichen Bücher näher besah, entdeckte sie einen dicken, roten Schinken. Der Herr der Ringe. Und daneben fand sie den Hobbit. Dad hatte ihr früher daraus vorgelesen, es war eine spannende Fantasygeschichte gewesen. Sie seufzte. Hier würde sie das Buch wohl auch nicht finden.
Gerade wollte sie den Deckel wieder zuschlagen, als ihr Blick auf einen Buchrücken fiel. S. Freud
stand dort. Und Die Traumdeutung
. Sie griff nach dem abgenutzten Taschenbuch und zog es heraus.
Dann widmete sie sich wieder dem Tagebuch. Es fand sich nur ein Traum darin, aber einige nachfolgende Seiten waren herausgerissen worden. Sie las den Text durch, wurde aber nicht schlau daraus. Es ging um einen Kirchenbesuch. Und um Fische.
Sie beschloss, zunächst einmal Freuds Traumdeutungsbuch zurate zu ziehen, ehe sie sich wieder dem Traum zuwandte. Für ihr Referat hatte sie nur Sekundärliteratur verwendet. Sie fand Freuds Stil schwierig und es war anstrengend, seine Gedankengänge zu verstehen. Daher nahm sie den Laptop zur Hand und rief Youtube auf. Eine gute Stunde und drei Einführungsvideos in die Freud’sche Lehre später hatte sie jedoch den Eindruck, die Grundzüge seiner Traumtheorie einigermaßen nachvollziehen zu können.
Sie nahm sich erneut den Traum vor. Da pingte ihr Handy. Poppy legte das Tagebuch weg und griff nach dem Gerät. Auf dem Display prangte eine Meldung: „Andrew Williamson hat deine Freundschaftsanfrage bestätigt.“
Sie lächelte und wollte sich gerade wieder dem Traum zuwenden, als eine weitere Nachricht erschien.
„Hi, schön von dir zu hören, wie geht es dir?“
Poppy zögerte einen Moment, dann schrieb sie zurück: „Hi, gut und dir?“
„Mir auch. Was machst du so?“
Wieder zögerte Poppy. Doch dann entschied sie sich, ehrlich zu sein.
„Ich deute einen Traum.“
Andrews Antwort ließ eine Weile auf sich warten und Poppy befürchtete schon, er könne sich verarscht fühlen, doch dann las sie: „Echt? Deinen eigenen Traum?“
„Nein, den Traum von jemand anderem.“
„Okay. So richtig wie Freud?“
„Ja, kennst du Freud?“
„Nicht persönlich.“
Poppy schickte ihm ein Emoji, das gleichzeitig lachte und weinte.
„Ich meine die Traumdeutung.“
„Ich weiß gar nichts darüber. Mein Vater hat mich mal in das Freud-Museum mitgenommen, aber von dem Besuch ist leider nicht viel hängengeblieben. Wie funktioniert das mit dem Träume-Deuten?“
Poppy fand es ziemlich nett von Andrew, dass er sie nicht gleich für verrückt erklärte, weil sie ihm geschrieben hatte, dass sie einen Traum deutete. Und dass er sich auch noch dafür interessierte, wie sie das machte.
„Also“, schrieb sie. „Freud hat den Traum ‚den Königsweg zum Unbewussten’ genannt. Das Unbewusste ist ein Teil unserer Psyche, in dem Wünsche und Bedürfnisse das Sagen haben, die in unserer Kindheit entstanden sind.“
„Was für Wünsche denn?“
Poppy überlegte, ob sie zurückschreiben sollte, dass das vorwiegend mit der psychosexuellen Entwicklung verbundene Wünsche waren. Aber als sie das bei ihrem Referat erwähnt hatte, hatten ihre Klassenkameradinnen verschämt gekichert. Und sie hatte das Gefühl, Andrew noch nicht gut genug zu kennen, um ihm gegenüber ein derartiges Wort zu benutzen. Also schrieb sie eine stark abgemilderte Version eines ödipalen Konfliktes zurück:
„Naja, ein Kind hat beispielsweise den Wunsch, viel Zeit mit seiner Mutter zu verbringen.“
„Okay. Und wo liegt da das Problem?“
„Viele unbewusste Wünsche können Probleme machen. Beispielsweise, wenn der Vater auch Zeit mit der Mutter verbringen will. Dann kommt das Kind in eine Zwickmühle: Es will bei der Mutter sein aber den Vater nicht verärgern. Das macht dem Kind Angst und deshalb schiebt es den Wunsch in das Unbewusste. Das nennt man Verdrängung.“
„Aber der Wunsch ist dann nicht weg, oder?“
„Genau. Er versucht, wieder ins Bewusstsein zu kommen, damit er erfüllt werden kann. Ganz oft geschieht das nachts. Da passt unser Bewusstsein nicht so gut auf wie tagsüber.“
„Und was hat das mit Träumen zu tun?“
„Naja, nach Freud werden diese Wünsche aus dem Unbewussten in Träume umgewandelt. Und die Träume dienen dazu, die Wünsche wenigstens in der Vorstellung zu erfüllen, wenn es im wirklichen Leben schon nicht klappt. Deshalb hat Freud den Traum auch den „Wächter des Schlafes“ genannt. Die unbewussten Wünsche könnten uns nämlich eine ziemliche Angst einjagen. Aber weil der Traum uns vorgaukelt, dass wir bekommen haben, was wir wollen, schlafen wir selig weiter.“
„Ganz schön clever. Und wie deutet man dann Träume?“
„Man versucht, in den Träumen die unbewussten Wünsche zu entdecken, die durch den Traum verändert worden sind. Dazu sucht man einerseits nach sogenannten Tagesresten, also nach Erinnerungen, die am Tag vor der Nacht stattgefunden haben, in der der Traum geträumt wurde. Zusammen mit den unbewussten Wünschen bildet dieser Tagesrest den versteckten Grundgedanken des Traums. Dieser wird dann durch verschiedene Tricks so umgewandelt, dass er unser Bewusstsein im Schlaf nicht ängstigt, damit wir nicht aufwachen.“
„Wow, du weißt wirklich viel darüber.“
Poppy wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, doch Andrew hatte bereits wieder geschrieben:
„Um welche Wünsche geht es in dem Traum, den du deutest?“
Das war eine gute Frage. Wieder zögerte Poppy. Sie hatte schon eine Grenze überschritten, als sie das Tagebuch trotz Dads Verbots gelesen hatte. Nun auch noch Andrew mit hineinzuziehen wäre eine weitere Grenzüberschreitung. Doch die Neugier siegte.
„Soll ich dir den Traum mal schicken?“, fragte sie.
„Klar, wenn du magst.“
Sie machte ein Foto von der Tagebuchseite und schickte sie Andrew. Es dauerte ein paar Minuten, bis er wieder antwortete.
„Hm, so wie es aussieht, will der Mann oder die Frau in dem Traum bei diesem Prediger beichten.“
„Das ist der manifeste Traumgedanke“, sagte Poppy.
„Häh?“
„Erinnerst du dich noch? Der Traum arbeitet den unbewussten Wunsch, der hinter ihm steckt, so um, dass er an der inneren Zensur vorbeikommt. Er entschärft den Gedanken, der Ängste auslöst.“
„Stimmt, das hattest du geschrieben. Welcher unbewusste Wunsch könnte dahinterstecken.“
„Keine Ahnung. Vielleicht will der Träumer etwas loswerden.“
„Und was ist das mit den Fischen? Und mit dem orangefarbenen Kirchturm?“
„Wenn ich das nur wüsste.“
„Wie funktioniert das mit der Deutung denn normalerweise?“
„Der Träumer äußert in der Therapie alle Gedanken, die ihm zu dem Traum einfallen. Freie Assoziation nennt man so etwas. Und daraus entwickelt dann der Therapeut eine Deutung.“
„Na, dann frag doch einfach den Träumer, was er damit meint.“
„Das geht nicht, er ist tot.“
„Oh, das ist blöd.“
Poppy grinste und schämte sich im nächsten Moment dafür. „Ich habe keine Ahnung, wie ich den Traum ohne diese freien Assoziationen deuten soll.“
Auch Andrew schien das nicht zu wissen, denn er schwieg wieder. Poppy wollte ihm gerade schreiben, dass es wohl besser wäre, es einfach auf sich beruhen zu lassen, als eine Nachricht von ihm erschien.
„Hm, ich hätte da eine Idee …“