24. Kapitel: Poppy
E
s waren nur zwei Haltestellen bis Camden Town und so war sie eine halbe Stunde zu früh da. Verloren stand sie vor dem Ausgang, der sie direkt auf eine belebte Straße ausgespuckt hatte. Rechterhand waren überall Läden, in einiger Entfernung konnte sie Marktstände erkennen. Massen von Menschen waren unterwegs, drängten sich an den Auslagen der Geschäfte vorbei. Poppy beschloss, die Zeit zu nutzen und sich ein bisschen umzusehen. Sie fühlte sich ein wenig an die Winkelgasse aus den Harry Potter Romanen erinnert, nur dass sich hier alles um Mode drehte und nicht um Zauberei. Besonders faszinierte sie ein Steampunkladen, in dem man futuristische, aber zugleich auch ziemlich altmodisch aussehende Kleidung kaufen konnte. Einen Bowler-Hat, an dem eine Schweißerbrille mit dicken Gläsern befestigt war, fand sie unheimlich cool, aber ein Blick auf das Preisschild ließ sie erschrocken zurückzucken. Der Laden hatte sie so sehr in seinen Bann gezogen, dass sie beinahe die Uhrzeit vergessen hätte.
Andrew wartete schon auf sie. Er stand an die Brüstung der Brücke gelehnt da, die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne zugewandt, die gerade wieder durch die Regenwolken brach.
„Hi“, sagte sie. „Sorry, ich bin ein bisschen spät.“
Er öffnete die Augen und sah sie an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Kein Problem“, sagte er. „Schön, dass du da bist.“
Sie gingen nebeneinander die Straße entlang.
„Warst du schon einmal in Camden Town?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
„Es ist furchtbar überlaufen und die meisten Läden hier sind auch ziemlich trashig“, sagte er. „Aber es gibt einen Ort, an dem ich Tage verbringen könnte.“
„Und was für ein Ort ist das?“
„Ich zeige ihn Dir.“
Vor ihnen lag ein großer, ziemlich unüberschaubarer Gebäudekomplex. Sie gingen hinein und plötzlich fühlte Poppy sich an einen orientalischen Basar erinnert. Ein Labyrinth kleiner Gässchen verzweigte sich ins Innere des Gebäudes. Läden, Tattoo-Studios und Fressbuden wechselten sich ab. In der Luft hing der Geruch nach Schweiß, Gewürzen, Zwiebeln, Knoblauch und gebratenem Fleisch. Und überall wuselten die Leute umher wie Ameisen.
Andrew führte sie zielstrebig eine Gasse entlang, vorbei an einer Skulptur, die mehrere Pferde zeigte.
„Das war einmal ein Pferdemarkt“, erklärte er.
Sie betraten eine Art Kellergewölbe. Die Läden hier waren anders. Anstelle von Mode gab es allerhand alte Sachen zu kaufen. Poppy erkannte einen vergilbten Globus, zerfledderte Taschenbücher, Schrankkoffer und Stehlampen. Und Notizbücher. Ihr Herz schlug schneller, als sie ein aufwendig in farbiges Leder gebundenes Buch entdeckte, das Maddocks Traumtagebuch bis ins kleinste Detail glich.
„Das ist schön, nicht wahr?“, sagte Andrew.
Sie nickte.
„Ich könnte hier Tage verbringen“, erklärte er ihr, als sie eine Stunde später auf der Ufermauer des Kanals saßen, Eis aßen und dabei zusahen, wie ein Touristenboot durch eine Schleuse gefahren wurde.
„Das kann ich verstehen“, sagte sie. „Es ist wie eine andere Welt. Man kann kaum glauben, dass es so etwas Magisches bei all dem Trubel und den vielen Touristen hier gibt.“
„Es ist wie bei Harry Potter“, sagte er. „Man muss nur wissen, wo der Eingang zur Winkelgasse liegt.“
Sie sah ihn an. „Du magst Harry Potter?“, fragte sie. Ihr Herz schlug noch ein bisschen schneller als zuvor schon.
„Klar, ich liebe die Bücher“, erwiderte er. „Mein Vater hat leider wenig Zeit für mich, aber wenigstens hat er dafür gesorgt, dass ich immer etwas zu lesen habe.“
„Was ist mit deiner Mutter?“, fragte Poppy.
„Die ist gestorben, als ich drei Jahre alt war. An Krebs“, erwiderte er.
„Das tut mir leid“, sagte sie.
Er zuckte mit den Achseln. „Es ist so lange her, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann, wie sie ausgesehen hat. Manchmal schaue ich mir alte Fotos an, aber darauf ist sie mir fremd.“
„Wer hat sich dann um dich gekümmert, wenn dein Vater so viel beschäftigt war?“, fragte sie.
„Ich hatte immer eine Gouvernante.“
Sie schaute ihn mit großen Augen an. „Wie … in den alten Büchern?“
Er lachte laut und frei. „Ja, genau wie in den alten Büchern. Eine war eine besonders schreckliche Schreckschraube. Mrs. Miggins. Ich habe sie gehasst.“
„Es muss schwierig gewesen sein, sich immer auf neue Gouvernanten einzustellen.“
„Ich habe es nicht anders gekannt.“
„Und warum ist dein Vater so oft weg?“, fragte sie.
„Er ist beim Innenministerium. Frag mich nicht, was er da genau macht.“
Poppy spürte, wie ein Gefühl des Bedauerns in ihr aufstieg. Andrew tat ihr leid. Hinter seiner sonnigen Fassade versteckte sich eine bleierne Einsamkeit. Sie schauten auf das Wasser des Kanals, in dem Plastikflaschen und Tüten trieben. Das Touristenschiff entfernte sich und stieß dabei eine stinkende Abgaswolke aus.
„Und was macht dein Vater so?“, fragte Andrew.
„Er ist Psychotherapeut“, sagte Poppy.
„Ah, deswegen die Sache mit der Traumdeutung, oder?“
Poppy nickte.
„Wie ist es denn gelaufen?“, fragte er.
Sie verzog das Gesicht. „Es hat leider nicht geklappt.“
Sie erzählte ihm von der vergeblichen Suche im Krematorium.
„Du meinst also, der Patient hat die nächsten Träume versteckt? So wie bei einer Schnitzeljagd? Aber warum sollte er das tun?“, fragte Andrew.
Poppy zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Aber wenn ich den Hinweis entschlüsseln kann und den zweiten Traum finde, glaubt mein Dad mir vielleicht.“
„Des Wälsung Ruhekissen“, murmelte Andrew.
„Freuds Ruhekissen. Was auch immer damit gemeint ist. Sein Grab scheint es jedenfalls nicht gewesen zu sein“, sagte sie.
Andrews Augen wurden groß. „Das ist es“, sagte er. „Ich weiß, wo es sein könnte. Auf, wir müssen los. Es ist gar nicht weit.“
Er rannte los und Poppy war so überrascht, dass sie gar nicht anders konnte, als sich von seinem Elan mitreißen zu lassen.
Andrew stürmte zur Tube. Sie fuhren bis Hampstead, dann eilten sie durch die Straßen. Poppy hätte ihm gerne zugerufen, wohin sie denn unterwegs waren, aber sie musste ihren Atem aufsparen, um das Tempo halten zu können. Ganz offensichtlich war Andrew sportlicher als sie.
Sie rannten durch eine Straße namens Maresfile Gardens,
als ihr endgültig die Puste ausging.
„Ich kann nicht mehr!“, rief sie, blieb stehen, beugte sich vornüber und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Sie atmete schwer und eine unangenehme Übelkeit stieg in ihrer Kehle empor. Hoffentlich würde sie sich nicht übergeben müssen.
„Alles okay?“, fragte Andrew.
Er war neben sie getreten. Sie fühlte eine Hand auf ihrer Schulter. Vorsichtig, ja, schüchtern war diese Berührung. Und doch war es genau das, was Poppy jetzt brauchte. Sie spürte, wie sie sich langsam beruhigte.
„Ruhig und gleichmäßig atmen“, sagte er.
Sie tat, wie er ihr geheißen hatte, und tatsächlich wurde es mit jedem Atemzug ein wenig besser.
„Können wir etwas langsamer rennen?“, fragte sie und richtete sich wieder auf.
„Unnötig“, erwiderte Andrew grinsend. „Wir sind schon da.“
Er deutete auf das Haus mit der Nummer 20. Es war ein zweistöckiges Gebäude aus roten Ziegeln. In der Mitte der mit Efeu bewachsenen Fassade ragte ein großer, halbrunder Erker heraus. Darin befand sich eine hellblaue Eingangstür, ein frischer Farbtupfer in all dem Dunkelrot und Dunkelgrün. Eine Buchshecke trennte den Vorgarten vom Gehweg ab, dahinter wuchsen rote Rosen. Neben dem Eingang zum Garten war ein großes Schild angebracht. Und mit einem Mal verstand Poppy.
„Freud Museum London“, las sie.
„Genau“, sagte Andrew. „Und weißt du, was sich dort befindet?“
Poppy dachte einen Moment nach, dann kam ihr ein Gedanke. „Die Couch!“, rief sie.
„Hundert Punkte“, sagte Andrew. „Freuds Originalchouch. Auf der seine Patienten lagen, während er sie behandelte. Als ich mit meinem Vater hier war, habe ich mir nichts über Freud oder seine Theorien gemerkt. Aber dieses Möbelstück fand ich ziemlich eindrucksvoll.“
Poppy spürte, wie sie immer hibbeliger wurde. „Dann nichts wie rein.“
Sie ging zum Eingang. Plötzlich blieb sie stehen.
„Ach Mist!“, rief sie.
„Was ist denn los?“, wollte Andrew wissen.
„Ich hab kein Geld mehr dabei. Und der Eintritt kostet sieben Pfund.“
Andrew zwinkerte ihr zu. „Lass das mal meine Sorge sein“, sagte er.
„Ich will aber nicht, dass du Geld für mich ausgibst“, sagte Poppy. Sie spürte den Anflug eines schlechten Gewissens, gleichzeitig aber auch eine Spur von Aufregung. Es war das erste Mal, dass ein Junge sie zu etwas einlud.
„Das werde ich auch nicht tun“, sagte Andrew. Poppy war irritiert. Was um Himmels Willen hatte er vor?
Sie gingen durch die blaue Tür. Dahinter befand sich ein Raum, in dem es Andenken und Karten zu kaufen gab. Andrew steuerte zielstrebig auf die Verkäuferin zu. Er begrüßte die Frau und holte etwas aus seiner Tasche, das er ihr unter die Nase hielt. Die Frau wurde mit einem Mal ganz hektisch und sagte etwas zu Andrew, das Poppy nicht verstand. Dann händigte sie ihm zwei Tickets aus. Andrew dankte ihr und als er zu Poppy zurückkam, sah diese, dass die Verkäuferin ihren Blick nicht von ihm nahm.
„Was hast du ihr da gezeigt?“, fragte sie.
„Mein Dad hat mir zum Geburtstag einen Jahrespass für alle Museen in Großbritannien geschenkt. Inklusive freiem Eintritt für meine Begleitung.“
„Wow!“ Poppy fragte sich einmal mehr, was ein Beamter beim Innenministerium wohl verdiente.
„Die Couch ist im ersten Stock“, sagte Andrew.
Sie stiegen eine Treppe empor und Poppy sah sich um. Überall hingen Gemälde und afrikanisch aussehende Masken.
„Freud musste 1938 vor den Nazis aus Österreich fliehen. Er hat nur einen Teil seiner Kunstsammlung mitnehmen können“, erklärte sie. Das wusste sie noch aus ihrem Referat.
„Ist er hier nicht auch gestorben?“, fragte Andrew.
„Ja, 1939. Er war schwerkrank und sein Arzt hat ihm eine Überdosis Morphium gespritzt.“
Noch so ein Suizid, dachte sie.
Sie hatten den Treppenabsatz des ersten Stocks erreicht. Andrew führte sie durch eine Tür in einen halbrunden Raum. Der musste sich hinter dem oberen Erker verbergen. In der Mitte befand sich ein mit Papieren übersäter Schreibtisch, dahinter ein unbequem aussehender Stuhl. Unter einem schwarzweißen Foto, das Freud bei einer Art Lehrveranstaltung zeigte, stand die berühmte Couch. Sie war mit einem roten Perserteppich bedeckt, was dem Möbel einen orientalischen Anstrich gab. Poppy wollte direkt darauf zustürmen, doch Andrew hielt sie zurück. Sie sah ihn fragend an. Er deutete mit seinen Augen auf die Ecke des Raumes, wo ein Mann stand, der sie aufmerksam beobachtete.
„Das ist einer vom Wachpersonal“, raunte Andrew ihr zu.
„Fuck“, entfuhr es Poppy.
„Das kannst du laut sagen“, erwiderte Andrew grinsend.
Sie gingen zur Couch und schauten sich das Möbelstück an. Es sah bequem aus und Poppy verspürte mit einem Mal den Wunsch, sich darauf zu legen und ein Nickerchen zu machen.
„Und jetzt?“, fragte sie Andrew.
Er sah sich um. „Der Kerl beobachtet uns immer noch. Warte …“
„Was ist?“, fragte sie.
„Ich hab eine Idee. Wenn du Lärm hörst, solltest du ein paar Augenblicke Zeit haben, um das Sofa zu untersuchen, okay? Such am Kopfende, da sind die Kissen!“
„Lärm? Aber …“
Andrew entfernte sich von ihr. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er zur anderen Seite des Raums ging, wo ein Tisch stand. Sie zwang sich, den Blick abzuwenden und wieder auf die Couch zu schauen. Dabei wartete sie mit angehaltenem Atem, dass etwas passierte.
Plötzlich hörte sie ein metallisches Krachen, gefolgt vom ärgerlichen Aufschrei des Mannes im Eck. Schritte hallten durch den Raum und Andrew begann, sich wortreich zu entschuldigen. Ohne zu zögern, schob Poppy ihre Hand unter den Teppich und ertastete mehrere Kissen. Sie musste sich hinknien, um diese genauer untersuchen zu können.
„Das tut mir ja so leid. Ich hoffe, diese bronzene Speerspitze ist nicht zerbrochen“, hörte sie Andrew sagen.
„Wenn sie zerbrochen ist, dann wird das sehr teuer, junger Mann.“
Sie schob ihre Hand unter das erste Kissen. Nichts außer einem feinen Seidenstoff. Fuck.
Sie hörte, wie der Dielenboden knarrte.
„Ist sie ganz geblieben?“, fragte Andrew. Poppy konnte kaum glauben, dass der Anflug von Panik in seiner Stimme gespielt war. Sie fasste unter das zweite Kissen. Wieder nichts.
„Ich glaube nicht“, sagte der Mann. „Aber das muss der Kurator sich unter dem Mikroskop ansehen. Ich brauche auf jeden Fall deinen Namen und deine Adresse.“
Poppy atmete tief ein und fühlte unter das dritte Kissen. Der raue Bezug der Couch kitzelte ihre Fingerspitzen. Beinahe wäre sie zurückgezuckt, doch dann spürte sie Papier. Sie griff mit zwei Fingern danach und zog es hervor. Es raschelte, aber als sie sich umdrehte, sah sie, dass Andrew umständlich sein Portemonnaie aus der Hosentasche holte und dem Wärter einen Ausweis zeigte. Er warf ihr einen raschen Blick zu und sie deutete ein Nicken an. Während Andrew sich wieder dem Mann zuwandte, ließ Poppy die eng beschriebene DinA5 Seite in ihrer Handtasche verschwinden.