26. Kapitel: Unity
U
nity streckte und reckte sich wie eine Katze. Alle Muskeln an ihrem Rücken schienen sich komplett verspannt zu haben. Doch das war ihr gleichgültig. Noch immer war sie erfüllt von dem Hochgefühl, ihren ersten Artikel geschrieben zu haben. Eben hatte sie ihn ein letztes Mal durchgesehen. Er war nur knapp tausend Zeichen lang, aber die hatten es in sich:
Behandlungsfehler? Trieb ein Kunstfehler Christopher Maddock in den Selbstmord?
Im Fall des Suizids des bekannten Schriftstellers verdichten sich die Hinweise darauf, dass der Londoner Psychotherapeut Dr. John Burgess eine Mitschuld am Tod seines Patienten haben könnte. „Wir haben bereits ein Ermittlungsverfahren gegen unser Mitglied eingeleitet“, bestätigte Dr. Wesley Winter, Sprecherin der Psychotherapeutenkammer, unserer Zeitung. Zum aktuellen Stand der Ermittlungen wollte sie sich nicht äußern. Auch zu der Frage, ob Dr. Burgess, der erst seit drei Monaten in London praktiziert, mit dem komplexen Fall des depressiven und seit Jahren unter einer Drogensucht leidenden Schriftstellers überfordert war, wollte sie keinen Kommentar abgeben.
Christopher Maddock war am Dienstag tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Die Polizei schließt ein Fremdverschulden aus. Letzte Woche war Maddock beim Verlassen der Praxis von Dr. Burgess gesehen worden.
Sie nickte zufrieden und schickte die Datei an den Drucker. Mit dem Ausdruck in der Hand ging sie zu Grimsons Büro. Sie wollte gerade an die Tür klopfen, als diese sich öffnete. Vor ihr stand ein hochgewachsener Mann mit langen, blonden Haaren. Seine blauen Augen musterten sie durch die Gläser einer kreisrunden Brille. Er nickte ihr zu und ging an ihr vorbei. Unity sah ihm nach. Sie hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, wusste aber nicht, wann oder in welchem Zusammenhang.
„Ah, haben Sie den Artikel?“, hörte sie Grimson fragen.
Sie legte ihm den Ausdruck auf den Schreibtisch. Grimson zückte einen Füller und las den Text durch. An ein paar Stellen machte er Anmerkungen, einmal strich er ein Wort durch und schrieb etwas darüber.
Unity hielt den Atem an. Wie würde sein Urteil ausfallen? Sie war überzeugt, dass sie keinen Mist geschrieben hatte. Aber würde es Grimsons Ansprüchen genügen?
Nach ein paar endlos langen Minuten steckte der Chefredakteur die Kappe seines Füllers auf den Stift und sah sie an. Er grinste.
„Sehr gut“, sagte er und schob ihr das Blatt über den Tisch zu. „Arbeiten Sie die Änderungen bitte noch ein und dann mailen Sie es mir zu. Der Artikel wird morgen Früh erscheinen unter einem großen Foto von diesem Burgess.“
Unity sah ihn überrascht an. „Woher haben Sie ein Foto von ihm? Ich habe bei meinen Recherchen nur das Bild auf der Website der Praxis gefunden. Und das dürfen wir sicher nicht verwenden.“
Grimson strich sich den Schnurrbart zurecht. „Ich habe einen unserer freien Fotografen zur Praxis geschickt. Er hat ein paar schöne Schnappschüsse mit seinem Teleobjektiv machen können.“
„Wow“, sagte sie. „So viel Aufwand.“
„Bilder sind wichtig in unserem Business“, sagte Grimson. „Schreiben Sie sich das hinter ihre hübschen Ohren. Und jetzt ans Werk.“
Unity wandte sich zum Gehen, doch dann hielt sie mitten in der Bewegung inne. Eine Frage brannte ihr auf der Zunge und sie konnte nicht anders. Sie musste sie loswerden.
„Glauben Sie wirklich, dass dieser Burgess eine Mitschuld an Maddocks Tod hat?“
Grimson sah sie an. Seine ohnehin kleinen Augen hatten sich noch mehr verengt.
„Was ich glaube, ist irrelevant“, sagte er. „Wichtig ist, was unsere Leser glauben.“
„Und was ist, wenn Burgess unschuldig ist? Sollten wir nicht vielmehr Hintergründe zu Maddock recherchieren?“
Grimson schüttelte vehement den Kopf. „Schlagen Sie sich Maddock aus dem Kopf. Es geht um diesen Burgess. Und wir sind nicht seine Anwälte. Ihn zu entlasten ist nicht unsere Aufgabe. Wenn ihn die Untersuchungen dieser Psychotherapeutenkammer freisprechen sollten; schön für ihn. Und wenn nicht; schön für uns.“
„Warum ist das schön für uns?“
Grimson seufzte und rollte theatralisch mit den Augen. „Gut, dann gebe ich Ihnen einmal eine kleine Einführung in die Journalistik. Warum, glauben Sie, kaufen unsere Leser den Morning Star anstelle einer anderen Zeitung?“
„Nun, weil sie informiert werden wollen? Wegen des Sportteils? Oder des Kreuzworträtsels?“
Grimson schüttelte den Kopf. „Sie kaufen den Morning Star, weil sie uns vertrauen. Sie fühlen sich wohl bei uns. Wir gehören zu ihrem Leben dazu. Wir geben Sicherheit, Orientierung, ja manchen sogar Führung. Und wissen Sie, wie wir das erreichen?“
Unity schüttelte den Kopf. Grimson strich sich den Schnurrbart gerade. „Indem wir Ihnen zeigen, dass wir wissen, was in der Welt geschieht. Und zwar vor allen anderen.“
Unity schluckte. „Das heißt, wenn die Psychotherapeutenkammer zu dem Schluss kommen sollte, dass Burgess schuldig ist …“, begann sie.
„… können wir zu recht behaupten: Schaut her, wir haben es euch doch gleich gesagt. Und unsere Leser haben einmal mehr das Gefühl, dass sie bei uns gut aufgehoben sind.“
„Und wenn Burgess freigesprochen werden sollte?“
„Dann lassen wir das ohne großes Aufsehen unter den Tisch fallen. Und jetzt sputen Sie sich. Der Redaktionsschluss naht.“