27. Kapitel: Poppy
P
oppy konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Die Rückfahrt mit der U-Bahn erschien ihr wie eine kleine Ewigkeit. Dabei dauerte es nur eine halbe Stunde, bis sie die Station Clapham South erreichte. In dieser Zeit hatte sie den Text auf dem Blatt, das sie unter Freuds Kopfkissen gefunden hatte, ein Dutzend Mal gelesen. Sie brannte darauf, Dads Meinung dazu zu hören.
Als der Zug sie am Bahnhof ausspuckte, hastete sie die Rolltreppen nach oben, drängte sich an den wartenden Menschen an den Ausgängen vorbei und eilte in Richtung Honeybrook Lane davon. An der Tür von Dads Haus angekommen, musste sie den Schlüssel aus ihrem Rucksack kramen. Dabei wurde ihr kurz schummrig vor Augen und sie atmete mehrfach tief durch, um ihre zitternden Finger so weit zu beruhigen, dass sie den Schlüsselbund greifen konnte.
Ohne ihre Schuhe auszuziehen, eilte sie durch den Flur in Richtung Küche. Dad saß am Küchentisch, er hatte eine Tasse Tee vor sich stehen und sah sie ernst an. Sein Gesichtsausdruck wirkte wie ein kräftiger Tritt auf ihr Bremspedal. Poppy blieb abrupt stehen und fragte: „Was ist los?“
Dad seufzte. „Deine Mutter hat mich vorhin angerufen. Sie möchte, dass ich dich morgen früh in einen Zug nach Hause setze.“
Poppys Mund klappte auf. „Aber warum?“
Er seufzte noch einmal. „Weil irgend so eine bescheuerte Journalistin bei ihr angerufen hat. Die Sache mit dem Klienten, der sich das Leben genommen hat, schlägt hohe Wellen. Und offenbar sind die jetzt auch bei deiner Mutter angekommen.“
„Und was hast du ihr gesagt? Wirst du mich morgen zurückschicken?“
In ihrem Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Sie wollte nicht zurück. Ihr Blick fiel auf den Zettel in ihrer Hand. Das Rätsel war nicht gelöst. Und solange sie nicht wusste, was es mit diesen Träumen auf sich hatte, wollte sie hierbleiben. Und dann gab es da noch Andrew. Sie hatte sich so wohl gefühlt mit ihm heute auf dem Markt. Und für morgen hatten sie sich erneut verabredet. Nein, sie wollte, konnte, durfte nicht nach Hause.
„Ich habe ihr gesagt, dass du selbst entscheiden sollst, ob du zurück nach Leeds möchtest oder nicht.“
Poppy atmete tief durch. „Was ist denn das für eine Frage? Natürlich bleibe ich hier. Drei Wochen waren ausgemacht und die will ich schließlich mit meinem Dad verbringen. Das kannst du Mum sagen.“
„Es wäre besser, wenn du ihr das selber sagst.“
„Okay, ich rufe Sie nachher an.“
Sie ließ ihren Blick durch die Küche schweifen. „Was hast du denn heute zum Abendessen geplant?“, fragte sie, als ihr klar wurde, dass sich zwar eine Menge gebrauchtes Geschirr in der Spüle auftürmte, der Herd aber vollkommen frei von Pfannen oder Töpfen war.
„Wollen wir vielleicht einfach eine Pizza bestellen? Mein Tag war bislang nicht der beste“, schlug Dad vor.
„Pizza ist super!“
Dad legte den Flyer eines Lieferdienstes auf den Tisch und Poppy suchte sich eine Vier-Jahreszeiten-Pizza aus.
Sie wartete noch, bis Dad bestellt hatte, dann hielt sie es nicht mehr aus und legte den Zettel vor ihn auf den Tisch. Er sah ihn verständnislos an.
„Lies ihn! Am besten laut, dann kommt er besser zur Wirkung.“
Dads Augenbrauen wölbten sich nach oben, als er erkannte, worum es sich handelte.
„Wo hast du den Traum her?“
„Ich habe mich geirrt. Meine Deutung war haarscharf daneben. Freuds Ruhekissen bedeutete nicht, dass der Traum an seinem Grab versteckt war. Sondern unter seiner Couch.“
Nun klappte der Kiefer ihres Vaters nach unten. „Du hast im Freud Museum danach gesucht?“
Sie nickte.
„Ich habe den Zettel unter einem der Kissen auf der Couch gefunden. Du weißt, was das bedeutet. Ich hatte recht. Der Patient wollte dich auf eine Schnitzeljagd schicken. Und ich denke, dass in diesem Traum auch der Hinweis darauf versteckt sein wird, wo wir den nächsten finden.“
Sie setzte sich neben ihren Vater und gemeinsam lasen sie den Text durch.
Es ist ein warmer Spätsommertag. Ich spiele mit den Hunden Verstecken im Garten. Doch wo ich mich auch verberge, sie finden mich immer zuerst, und so fällt mir die Rolle des Suchers häufiger zu als ihnen. Schließlich sind sie alle verschwunden. Ich gehe durch den Garten, suche hinter jedem Busch, hinter jeder Hecke, hinter jedem Baum. Doch keiner ist mehr da. Sie haben mich verlassen. Ein Gefühl der Einsamkeit überkommt mich. Ich bin unendlich traurig, hilflos, haltlos.
Mit hängendem Kopf gehe ich ins Haus. Die letzten Strahlen der tiefliegenden Sonne fallen schräg durch die bis zum Boden reichenden Panoramafenster herein. Die Tür zur Küche steht offen und ich gehe hinein. Auf dem Tisch liegt ein ausgeweidetes Reh. Daneben hat jemand einen Korb mit Äpfeln gestellt, um das Tier damit zu füllen. Sie sind frisch geerntet worden, die ersten Früchte des Herbstes. Rot und prall spannt sich die Schale über dem saftigen Fruchtfleisch. Die Äpfel strömen einen herrlich frischen Duft aus, der mich unwiderstehlich anlockt. Ich trete zu dem Korb, strecke meine Hand aus und halte inne. Ich weiß, dass es mir verboten ist, danach zu greifen, dass die Früchte nicht mir gehören, dass ich mit schrecklichen Konsequenzen rechnen muss, wenn ich gegen das Verbot verstoße.
Und dann höre ich das Bellen der Hunde. Sie sind plötzlich wieder da. Nun stehen sie vor dem Küchenfenster, ihre Nasen an der Scheibe plattgedrückt. Sie bellen, wollen mir etwas mitteilen, doch ich verstehe sie nicht. Ich bin einfach nur froh, dass sie da sind, dass sie mich nicht verlassen haben.
Ich fühle mich gestärkt und will nun nichts mehr, als meine Zähne in diesen Apfel zu versenken. Seine makellose Haut liegt kühl in meinen Handflächen. Ich führe ihn zum Mund, doch es fühlt sich an, als ob eine letzte Barriere meine Hand daran hinderte, den Apfel zu meinen Zähnen zu führen. Ich drücke und schiebe, doch wenige Zentimeter vor den Mund komme ich nicht mehr weiter.
Da zerspringt mit einem Klirren die Scheibe des Küchenfensters und ich höre Athos, den Dobermann, Porthos, die Bulldogge und Aramis, den Windhund, mit ihren bellenden Stimmen schreien:
„Na los, du verrückter Hund, mach schon, trau dich, streng dich an, sei kein Waschlappen, sei kein Feigling.“
Ich will kein Feigling sein, nein, nichts will ich weniger sein als ein Waschlappen. Ich presse mit aller Kraft gegen die Barriere, kämpfe gegen den Widerstand an und dann, unter dem Gejohle meiner Freunde, bewegt sich der Apfel Millimeter für Millimeter vorwärts. Der Schweiß steht mir auf der Stirn, mir ist heiß, ich habe das Gefühl, das meine Arme dem Druck nicht länger gewachsen sind. Und dann durchbreche ich die Barriere. Mit einem unbändigen Gefühl der Freude beiße ich in den Apfel, durchdringe seine makellose Oberfläche und reiße ein großes Stück Fruchtfleisch heraus.
Die Hunde toben vor Begeisterung, sie feuern mich mit „Hophophop“-Rufen an. Eine ungekannte Euphorie ergreift Besitz von mir. Ich bin einer der ihren, ich habe die Aufnahmeprüfung bestanden. Das Fruchtfleisch schmeckt süß, es ist so saftig, dass mir die klebrige Flüssigkeit an den Mundwinkeln hinabrinnt. Ich wische sie mit dem Handrücken beiseite und will noch einmal in den Apfel beißen. Doch dann fällt mein Blick auf die Stelle, von der ich abgebissen habe und ein eiskalter Schreck fährt mir durch die Glieder. Zwei Zähne stecken darin, die blutigen Löcher der freigelegten Wurzeln starren mich an. Ich taste nach meinem Mund und wo vorhin Schneidezähne gewesen sind, ist nun nichts mehr. Mein Blick fällt auf meinen Handrücken. Er ist voller Blut. Ein scharfer Eisengeschmack füllt mir den Mund, Grauen überkommt mich.
Die Hunde bellen immer noch, doch ihre Stimmen feuern mich nicht mehr an. Sie verspotten mich. Verzweifelt hebe ich den Blick. Vor mir steht der Almus Pater. Seine großen Augen mustern mich mitleidig. Ich halte ihm meine Hände entgegen, in denen die blutigen Zähne liegen. Er schüttelt traurig den Kopf und wendet sich um. Die Hunde wüten. Sie springen durch das Fenster, stürmen auf mich zu, um mich zu zerfleischen. Sie dürfen die Zähne, das Zeichen meiner Schande, nicht bekommen. Ich renne davon, überhole den Almus Pater und schiebe ihm die Zähne in die Gesäßtasche. Dort sind sie sicher. Dann schließen sich die Kiefer des Bluthunds um meinen Arm und ich erwache schweißgebadet in meinem Bett.
Als sie den inzwischen vertrauten Text fertiggelesen hatte, sah sie ihren Vater fragend an. Er atmete tief aus.
„Puh, wenn ich solche Albträume hätte, würde ich mich wohl auch in Therapie begeben.“
„Hast du schon eine Idee, was der Traum bedeuten könnte?“
Dad lachte. Sie sah ihn irritiert an.
„Langsam, langsam, junge Frau. Ich gewöhne mich gerade erst an den Gedanken, dass ich hier den Psychoanalytiker spielen soll. Ich befürchte, mein Wissen über die Traumdeutung ist etwas eingerostet. Vielleicht solltest du mich ein wenig auf Stand bringen und dann machen wir uns gemeinsam daran, den Sinn hinter diesem Text zu suchen.“
Auf Poppys Gesicht breitete sich ein zufriedenes Grinsen aus.
„Aber erst, nachdem wir unsere Pizzas verdrückt haben.“
Drei Wochen zuvor: Auszug aus der zweiten Therapiesitzung mit Christopher Maddock
„Wie ist es Ihnen in der vergangenen Woche ergangen?“, fragte John.
„Wenn ich gut sage, wird Ihnen das ja wohl nicht reichen, oder?“, fragte Maddock.
John lächelte. „Nun, was denken Sie denn, was mir als Antwort reichen würde?“
„Ich habe keine Albträume gehabt, wenn Sie das meinen“, sagte Maddock.
„Sehr gut.“
„Aber das ist doch ungünstig. Ich sollte meine Albträume genau protokollieren. Die ganze verdammte Woche habe ich geschlafen wie ein Baby. Ich habe überhaupt nur einen Traum gehabt. Aber der war eher seltsam als beängstigend. Es ging um den heiligen Antonius, der zu den Fischen predigt.“
„Das ist machmal eine Nebenwirkung der Beobachtung“, sagte John. „Wenn wir uns ganz stark vornehmen, einen Albtraum zu fassen, tritt keiner auf.“
„Nun, wenn das so bleibt, dann wäre es großartig.“
„Beobachten Sie weiter.“
Maddock nickte. „Gut, worüber sprechen wir dann jetzt die verbleibenden fünfundvierzig Minuten?“
John lehnte sich zurück und sah sein Gegenüber aufmerksam an. Er überlegte einen Moment, dann sagte er:
„Worüber möchten Sie denn sprechen?“
Maddock lachte. „Das ist so ein Klischee. Der Psychotherapeut beantwortet eine Frage immer nur mit einer Gegenfrage.“
John lächelte. „Nun, letztendlich ist die Psychotherapie eine Dienstleistung und Sie können bestimmen, worüber wir sprechen. Solange es nicht zu analytisch wird.“
Der Schriftsteller grinste. „Dass Sie Freud nicht mögen, habe ich inzwischen verstanden. Daran muss ich mich erst mal gewöhnen. In meinem Studium habe ich gelernt, dass Freud einer der einflussreichsten Denker des letzten Jahrhunderts war. Bei Ihnen scheint er jedoch keinen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.“
„Was haben Sie studiert?“
„Neuere englische Literatur. In Cambridge. Sellwyn College. Und Sie?“
„Psychologie. In Leeds.“
„Auch nicht schlecht. Da hätte ich wahrscheinlich studiert, wenn ich dieses Stipendium nicht bekommen hätte. Ich stamme ja eigentlich aus einer Familie von Proleten. Mein Vater war ein Fabrikarbeiter, meine Mutter hat mit Näharbeiten etwas dazu verdient. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich verachte meine Eltern nicht dafür, dass sie einfache Leute waren. Sie waren auf ihre Art intelligent und ich habe ihnen viel zu verdanken. Aber spätestens, als ich richtig gut in der Schule war, konnten sie mir nicht mehr folgen, geschweige denn helfen. Als ich in Cambridge meinen Abschluss gefeiert habe, wirkten sie seltsam deplatziert zwischen all den Eltern meiner Mitstudenten aus der Oberschicht. Mein Vater saß zur Rechten des damaligen Finanzministers, aber er hatte keine Ahnung, wen er neben sich hatte.“
„Wie haben Sie es geschafft, sich in Cambridge zurechtzufinden?“
„Ich habe rasch Freunde gefunden. Wir waren zu viert, unzertrennlich. Die vier Musketiere haben wir uns genannt. Ich war D’Artagnan. Natürlich. Immerhin war ich der Jüngste und der Naivste von uns allen. Lustigerweise passten die Charakterzüge der anderen drei Musketiere aus dem Roman perfekt auf meine Freunde. Der weise, abgeklärte Athos mit den geheimen Leidenschaften, der polternde Porthos und der vornehme, immer unverbindliche Aramis. Wir hatten eine tolle Zeit damals. Und wenn ich ehrlich bin, dann war dies der einzige Abschnitt in meinem Leben, den ich als toll bezeichnen würde.“
„Wie kam es, dass alles danach Ihnen weniger gut und wertvoll erscheint als diese Zeit?“
Der Schriftsteller schwieg. Seine Miene hatte sich verdüstert. John wartete. Nach einer Weile sagte Maddock: „Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Noch nicht. Vielleicht auch nie. Aber lassen Sie uns wieder über Träume reden. Das dürfte fruchtbarer sein.“