28. Kapitel: John
A uf dem Weg zur Arbeit musste John an das Gespräch mit Poppy am Abend zuvor denken. Sie hatten noch zwei Stunden über dem Traum gesessen und die wildesten Theorien aufgestellt. Doch einen Durchbruch hatten sie nicht erreicht. Sie konnten sich lediglich darauf einigen, dass der Traum sich sehr wahrscheinlich auf eine Handlung von Maddock bezog, die dieser bereute. Welche Rolle die drei Hunde dabei spielten, war weder John noch Poppy klar geworden. Sie hatte darauf hingewiesen, dass die Hunde auch schon im ersten Traum vorgekommen waren, und hatte vermutet, dass das Thema der Bedrohung durch die Bestien für eine grundlegende Angst Maddocks stand. Zudem war sie der Meinung, dass die Traumzensur reale Personen, die Maddock Böses wollten, in Hundegestalten verwandelt hatte. John war mehrfach über die Namen der Hunde gestolpert. Athos, Aramis und Porthos. Irgendwie kamen sie ihm bekannt vor und das nicht nur, weil er den Roman von Alexandre Dumas als Teenager gelesen hatte. Es gab einen Zusammenhang mit Maddock, aber sein müder, sorgenvoller Kopf konnte sich nicht daran erinnern, konnte ihn nicht greifen. Und das frustrierte ihn.
Was ihn jedoch erschütterte, war, dass es Poppys bedurft hatte, um ihn dazu zu bringen, sich mit Maddocks Träumen zu beschäftigen. Sie hatte den richtigen Riecher gehabt und er war froh, dass sie so hartnäckig geblieben war. Maddock hatte ihm das Traumtagebuch in voller Absicht geschickt, das war nun klar. Aber was genau hatte er damit bezwecken wollen? Was hatte er von John erwartet oder erhofft?
Grübelnd bog er in die Holford Road ein und erstarrte. Drei Polizeiautos und ein Kastenwagen parkten vor der Praxis. Leute in weißen Schutzanzügen kamen aus der Eingangstür und wuchteten einen schweren Koffer in den Laderaum des Transporters.
John eilte hinein. Drinnen herrschte ein Gewusel, wie er es an diesem ansonsten so ruhigen und friedlichen Ort noch nie erlebt hatte. Zudem war es erstaunlich frisch, was daran lag, dass ein Fenster offenstand. Er sah genauer hin und erkannte, dass es eingeschlagen worden sein musste. Der Boden darunter war übersät mit kleinen, scharfkantigen Scherben.
Linda kam auf ihn zu. Sie wirkte aufgedreht und besorgt zugleich.
„Was ist passiert?“, fragte er.
„Mrs. Ruskin, die Nachbarin, hat mich vor eineinhalb Stunden angerufen. Sie hat meine Handynummer, weil ich … aber das ist unwichtig. Jedenfalls hat sie gesagt, dass sie lautes Geräusch aus der Praxis gehört hätte. Ich bin gleich hergefahren und habe das eingeschlagene Fenster entdeckt.“
„Fehlt etwas?“, fragte John.
Sie nickte.
„Der Einbrecher hat den Aktenschrank aufgebrochen und ein paar Hängeordner mitgehen lassen. Welche genau fehlen, muss ich erst noch mit dem Patientenverwaltungssystem abgleichen.“
John schluckte. Eine böse Vorahnung schnürte ihm die Kehle zu. Er ging zu dem Aktenschrank. Das Schloss war verbogen und die Schublade halb herausgezogen. Es waren die Namen von „Li“ bis „No“. Er suchte nach dem ersten Hängeordner, der mit einem M begann. „Melkins“. Davor war „Ludlow“ eingeordnet. Jemand hatte die Akte von Christopher Maddock gestohlen.
„He, was machen Sie da?“
Eine Gestalt kam in sein Gesichtsfeld und schon spürte er, wie jemand ihn von dem Aktenschrank wegschob.
„Das geht so nicht. Das ist Beweismaterial.“
Er erkannte das spitze Gesicht von DCI Stevens.
„Ich habe nur nachgesehen, welche Akte fehlt“, sagte John.
„Und, irgendwelche Erkenntnisse, die Sie mit uns teilen wollen?“
„Ja, der Einbrecher hat die Akte von Christopher Maddock gestohlen.“
Stevens zog eine Augenbraue nach oben. „Das ist ja äußerst praktisch für Sie“, sagte er mit kalter Stimme.
„Wie meinen Sie das?“
„Nun, keine Akte, kein weiteres belastendes Material für den Prozess wegen fahrlässiger Tötung. Naja, den Abschiedsbrief können Sie wenigstens nicht mehr ungeschehen machen.“
John spürte, wie eine lange angestaute Wut in ihm sich eine Bahn brechen wollte.
„Wollen Sie etwa andeuten, ich hätte den Einbruch inszeniert und die Akte selbst gestohlen?“, rief er.
„Wo waren Sie denn in der Zeit zwischen sechs und sieben Uhr heute Morgen?“, fragte Stevens, ohne sich von Johns Gefühlsaufwallung aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen.
„Zuhause.“
„Kann das jemand bezeugen?“
„Meine Tochter.“
Stevens nickte. Die Antwort schien ihm nicht zu schmecken. „Okay. Was enthielt die Akte?“
John versuchte, seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Es würde ihm nichts nutzen, den Polizisten gegen sich aufzubringen. Er hatte ohnehin schon das Gefühl, dass Stevens ihn nicht leiden konnte. Da sollte er wohl nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen.
„Die formalen Dinge. Therapievertrag, Schweigepflichtentbindung gegenüber dem Hausarzt, Erklärungen zum Datenschutz.“
„Und wo dokumentieren Sie die Therapiesitzungen?“
„Dafür habe ich die elektronische Patientenakte auf meinem Laptop. Jeder Eintrag wird mit einem Zeitstempel versehen und ist im Nachhinein nicht mehr veränderbar.“
„Wo ist Ihr Laptop?“
„Zuhause“, sagte John.
„Gut, überprüfen Sie bitte, ob sonst noch etwas gestohlen wurde, und halten Sie sich zu unserer Verfügung.“
Stevens wandte sich um und verließ grußlos die Praxis.
„Unfreundlicher Kerl“, murmelte Linda, die die ganze Zeit neben John gestanden hatte.
„Das können Sie laut sagen“, erwiderte er.
„Besser nicht, sonst hört er mich noch.“
John musste lächeln.
„Ist es schlimm, dass die Akte fehlt?“, fragte sie.
„Nein. Damit kann niemand etwas anfangen, da bin ich mir ziemlich sicher. Haben Sie denn inzwischen Peter erreicht?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Gut, dann kümmern wir uns mal darum, dass hier alles in geregelten Bahnen verläuft.“
Eine Stunde später verließ der letzte Polizist die Praxis. Sie hatten alle Räume durchsucht und dabei jedoch kein weiteres, fehlendes Detail bemerkt. Offenbar hatte es der Täter gezielt auf die Patientenakte abgesehen. Die Beamten waren so freundlich gewesen, das zerbrochene Fenster provisorisch mit einer Folie zu verkleben.
John stand bei Linda am Tresen und rieb sich die pochenden Schläfen.
„Soll ich Ihnen eine Schmerztablette besorgen?“, fragte sie.
John schüttelte den Kopf, was das Pochen noch weiter verstärkte.
„Danke, ich habe selbst ein ganzes Arsenal davon in meinem Schreibtisch.“
„Dann nehmen Sie am besten gleich eine. Damit Sie fit sind für den Termin mit den Leuten von der Therapeutenkammer.“
John schluckte. Das hatte er ganz vergessen.
„Danke für den Hinweis“, sagte er und ging in sein Büro.
Er öffnete die Schublade seines Schreibtisches und entnahm die Packung mit den Triptanen. Sie war leer. Verdammt. Er kramte tiefer und fand einen Blister Paracetamol. Besser als gar nichts. Zunächst drückte er nur eine Tablette heraus, doch dann besann er sich anders und nahm noch eine zweite. Das würde ein langer Tag werden.