36. Kapitel: John
S ie hatten John in eine Zelle gesperrt. In der Ecke war eine Kloschüssel aus gebürstetem Edelstahl, daneben hing ein Waschbecken aus dem gleichen Material. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Bettgestell mit einer fleckigen Decke und einem Kopfkissen, das auch schon bessere Tage gesehen hatte.
John ließ sich darauf nieder. Die Matratze war steinhart. Er hasste harte Betten. Aber da er ohnehin nicht schlafen würde, war das nicht weiter schlimm. Die Gedanken in seinem Kopf lieferten sich einmal mehr ein Wettrennen. Er versuchte, ordnend einzugreifen, sie in eine vernünftige Reihenfolge zu bringen. Doch sein Bemühen wurde zunichtegemacht, als das Gesicht von Poppy vor seinem inneren Auge auftauchte. Wo sie wohl war? Ob es ihr gut ging?
Er hatte Stevens und Mallory noch gut ein Dutzend Mal nach Poppy gefragt, doch sie hatten ihm nicht sagen können oder wollen, ob sie seine Tochter inzwischen gefunden hatten. Die Vorstellung, dass sie alleine durch das abendliche London irrte, machte ihn verrückt vor Sorge.
Dabei hätte er sich wohl auf ganz andere Dinge konzentrieren müssen. Es wunderte ihn selbst, wie ruhig ihn die Entwicklung der letzten Tage ließ. Dass er seine berufliche Reputation, seine Wohnung und wahrscheinlich auch seine Teilhaberschaft in der Praxis verloren hatte, konnte er mit einem erstaunlich kühlen Blick betrachten. Er ertappte sich sogar einmal bei der Frage, ob es nicht sogar besser für ihn war, dass es so gekommen war. Ein Ende mit Schrecken anstelle eines Schreckens ohne Ende.
Gut, die letzten Wochen in der Praxis als Schrecken ohne Ende zu bezeichnen, war übertrieben. Er hatte gerne mit den Klienten zusammengearbeitet. Selbst Christopher Maddock hatte er nicht als eine unlösbare Aufgabe betrachtet. Das war etwas ganz anderes gewesen als in den Jahren zuvor. John hatte in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet, auf einer Station für akute Krisen. Er hatte Menschen in Ausnahmesituationen erlebt, lebensmüde Menschen, schwer traumatisierte Menschen, Menschen in bizarren Psychosen und Menschen, die vor Panik eingefroren waren und sich nicht mehr bewegen konnten.
Nicht immer hatte er seinen Klienten helfen können. Aber in jedem Fall war es eine Herausforderung gewesen, ein Ruf an ihn, an seine Fertigkeiten, sein Einfühlungsvermögen, seine Urteilskraft, sein therapeutisches Fingerspitzengefühl. Manchen Abend war er vollkommen ausgepumpt nach Hause zurückgekommen, hatte es gerade noch geschafft, sich eine Fertigpizza in den Ofen zu schieben und nach dem Essen todmüde ins Bett zu fallen. Aber er hatte nie das Gefühl gehabt, dass er fehl am Platz gewesen wäre.
In den letzten Wochen war das anders gewesen. Er hatte viele neue Klienten kennengelernt. Manche von ihnen waren psychisch krank. Edmund Hathaway zum Beispiel litt an einer schweren Zwangserkrankung. Aber andere waren Grenzfälle. Sie wollten reden, wollten jemanden, der ihnen zuhört, wollten Ratschläge. All das konnte John ihnen geben, aber er hatte gespürt, dass es ihm nichts zurückgab. So sehr hatte er sich all die Jahre in der Psychiatrie danach gesehnt, es leichter zu haben, nicht mehr die ständige Anspannung aushalten zu müssen, ob die Menschen, mit denen er heute sprach, morgen noch am Leben sein würden. Nun war ihm dieser Wunsch erfüllt worden. Und doch hatte er sich nicht glücklich und zufrieden gefühlt.
Im Gegenteil, der Super-GAU war eingetreten. Einer seiner Klienten hatte sich suizidiert. Nicht zum ersten Mal stellte er sich die Frage, ob er nicht vielleicht doch nachlässig gewesen war, was die Schwere von Christopher Maddocks Erkrankung anging. Hatte er nicht wahrhaben wollen, dass die Patienten in der Praxis auch schwerst psychisch krank sein konnten? Hatten ihn all die netten Damen und Herren, die über ihre Konflikte in Poloclubs und Bridgerunden klagten, blind dafür werden lassen, dass es Menschen gab, die so in Not waren, dass sie seine volle Aufmerksamkeit benötigten?
An seiner ganzen Misere bedauerte er am meisten, dass er die schönen Stunden, die er mit seiner Tochter über der Enträtselung von Maddocks Tagebuch verbracht hatte, wohl nicht mehr wiederholen können würde. Wenn sie ihn wegen all der Vorwürfe schuldig sprachen, die Stevens vorhin aufgezählt hatte, wäre er über Jahre weggesperrt. Er würde viele wichtige Ereignisse im Leben seiner Tochter nur aus der Ferne verfolgen können, sofern sie überhaupt noch Kontakt mit ihm haben wollte, wenn er ein verurteilter Straftäter war.
Ob er wohl anlässlich ihres Schulabschlusses Freigang bekäme? Wahrscheinlich schon, wenn er sich gut in den Gefängnisalltag einfügte und keinen Ärger machte. Hatte er sich aufgegeben? Es fühlte sich fast so an. Der Gedanke, eingesperrt zu sein, ängstigte ihn nicht. Wenn er ehrlich zu sich war, spürte er sogar ein leises Gefühl der Erleichterung. Nun waren all die Mühen vorbei, all die Plackerei. Er würde sich ausruhen können. Zwar wäre er nicht mehr frei, aber zumindest in Sicherheit. Er fühlte lediglich ein Bedauern. Wie gerne hätte er Poppys weiteren Lebensweg aus der Nähe verfolgt.
Der Gedanke an Poppy beunruhigte ihn wieder. Wo war sie nur? Er überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, in Erfahrung zu bringen, ob sie in Sicherheit war. Stand ihm nicht sogar ein Anruf zu? Er wollte sich gerade dem Gefängnispersonal bemerkbar machen, als sich die Tür mit einem Quietschen öffnete.