37. Kapitel: Poppy
P oppy stand in der Mitte des Grosvenor Square und staunte. Die Gebäude waren riesig. Sie sahen aus wie Paläste. Die roten Ziegelsteinfassaden mit den grauen Dächern waren mindestens fünf Stockwerke hoch. Sie ließ den Blick schweifen. Sie befand sich auf einer von Bäumen umgebenen Grünfläche, um die herum sich der Londoner Feierabendverkehr schlängelte.
Wie war die Hausnummer noch einmal gewesen? 34? Das Gebäude zu ihrer Linken trug die 32. Es nahm eine gesamte Breitseite des Platzes ein. Bei einem eingerüsteten Haus schräg gegenüber konnte sie die Nummer nicht erkennen, auf dem daneben prangte jedoch die 34. Es war größer als alle Wohngebäude, die sie je gesehen hatte, die Schlösser vielleicht einmal ausgenommen, die sie und Mum so gerne besichtigten.
Sie überquerte die Straße und stieg die Stufen zur Haustür empor. Neben dem Eingang war ein einzelner Knopf aus Messing angebracht. Vergeblich suchte sie nach den Klingelschildern. Auch einen Briefkasten konnte sie nirgends entdecken. Sie zögerte. Sollte sie einfach klingeln? Aber was, wenn es das falsche Haus war? Was, wenn dieser Sir Hathaway gar nicht hier lebte, wenn er dem Taxifahrer nur die Adresse genannt hatte, weil er jemanden hatte besuchen wollen? Gut, in diesem Fall würde der Besitzer des Hauses vielleicht wissen, wo sie den Anwalt antreffen konnte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und drückte auf den Knopf.
Poppy presste die Lippen aufeinander und überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte, wenn ihr geöffnet wurde. Doch nichts geschah. Sie wartete und wartete, doch die Tür blieb verschlossen. Sie klingelte noch einmal. Vergebens. Nachdem sich auch beim dritten Mal nichts getan hatte, wandte sie sich um und stieg die Treppen hinab zum Gehsteig. Sie ließ den Kopf hängen. Und die Schultern. Alles fühlte sich auf einmal so schwer an. Ihr Plan hatte nicht funktioniert und sie hatte keine Ahnung …
„Ja bitte?“, hörte sie eine Stimme hinter sich.
Sie wandte sich um. Die Tür hatte sich einen Spaltbreit geöffnet. Ein grauhaariger, ziemlich großer Mann steckte seinen Kopf hindurch und sah sie prüfend an.
„Ich möchte gerne zu Sir Hathaway“, sagte Poppy und lief rasch zurück zur Treppe.
„Sir Hathaway empfängt nicht“, entgegnete der Mann. Jetzt erst erkannte sie, dass er eine Art Frack trug. War das etwa ein leibhaftiger Butler?
„Und wann kann ich ihn dann sprechen?“
„Ich fürchte, dass es dazu niemals kommen wird.“
„Und warum?“
„Sir Hathaway empfängt nur Freunde und Bekannte. Und ich schätze, dass Sie zu keiner der beiden Gruppen gehören. Auf Wiedersehen.“
Er zog seinen Kopf durch den Spalt wie eine Schildkröte, die ihren Schädel in den Panzer zurückzieht.
„Halt!“, rief Poppy, zunehmend verzweifelt. „Lassen Sie mich bitte kurz mit ihm sprechen. Es ist wichtig.“
Der Mann zögerte. „Worum handelt es sich denn?“, fragte er.
„Es geht um Sir Hathaways Therapeuten. Dr. Burgess. Ihm ist etwas Schlimmes zugestoßen und nur Sir Hathaway kann ihm helfen.“
Der Butler sah sie einen Moment lang an, dann sagte er:
„Ich werde es der Herrschaft ausrichten.“
Die Tür schloss sich knarrend. Poppy wusste nicht, was sie tun sollte. Sie entschied sich dafür, zu warten, auch wenn sie keine Ahnung hatte, ob der Mann zurückkehren würde oder nicht. Nach ein paar Minuten, die sich in Poppys Bewusstsein so zäh wie alter Kaugummi anfühlten, öffnete sich die Tür erneut.
„Kommen Sie bitte mit“, sagte der Butler.
Poppy atmete vor Erleichterung tief durch. Der Mann führte sie in einen dunklen Flur. Alle Fenster waren verhängt, nur eine einzelne, schwache Glühbirne beleuchtete den Raum. Es roch muffig. An den holzgetäfelten Wänden hingen Porträts von Menschen in alter Kleidung.
„Ich darf Sie bitten, Ihre Straßenschuhe auszuziehen und in diese Pantoffeln zu wechseln“, sagte der Mann und reichte ihr ein Paar in Plastik eingeschweißte Wollslipper. Sie riss die Verpackung auf und reichte sie dem Mann. Dann zog sie ihre Schuhe aus und wechselte in die Pantoffeln. Der Butler ging voran durch ein Treppenhaus in den hinteren Bereich des Gebäudes. Poppy erinnerte das alles sehr an das Haus der Blacks in Harry Potter und der Orden des Phönix . Nichts lud ein, hier zu wohnen oder sich wohlzufühlen. Die Atmosphäre war kalt und leblos.
Schließlich öffnete der Mann eine Tür und bat sie, einzutreten. Sir Edmund saß auf einem schwarzen Ledersessel. Er trug einen Trainingsanzug und weiße Slipper. Und einen Mundschutz. Und weiße Handschuhe. Mit einer Hand wies er auf einen Stuhl, der gute drei Meter von seinem eigenen entfernt stand. Poppy setzte sich.
„Ich empfange keine Gäste“, sagte er. Seine Stimme klang muffig hinter der Maske. „Die Gefahr, dass sie Bakterien ins Haus tragen, ist mir zu groß. In Ihrem Fall habe ich eine Ausnahme gemacht. Was ist mit Ihrem Vater?“
„Unser Haus ist abgebrannt. Und Dad ist verhaftet worden.“
Sie hörte, wie der Mund unter der Atemmaske scharf die Luft einzog. Die Augenbrauen darüber zuckten nach oben.
„Das … das ist eine Katastrophe“, stammelte Sir Hathaway. „Wer soll dann meine Therapie fortsetzen. Es hat sich doch so gut angelassen mit Dr. Burgess.“
Poppy ignorierte die Tatsache, dass Hathaway nur an seinen eigenen Schaden dachte. „Deshalb komme ich zu Ihnen. Sie sind doch Anwalt. Holen Sie meinen Vater da raus!“
In Hathaways Gesicht ging eine seltsame Veränderung vor sich. Die hochgezogenen Augenbrauen fielen kraftlos nach unten. Schweiß trat auf die nun wieder glatte Stirn. Er schüttelte den Kopf.
„Du weißt nicht, was du da sagst, Mädchen“, flüsterte er.
„Es ist doch ganz einfach“, erwiderte Poppy. „Sie wollen, dass mein Vater Sie weiter therapiert. Dafür müssen Sie ihn aber aus dem Gefängnis holen.“
Hathaway schüttelte wieder den Kopf. „Ich kann das nicht. Ich arbeite nicht mehr als Anwalt.“
Poppy ließ nicht locker. „In diesem Fall müssen Sie eben einmal eine Ausnahme machen.“
„Du hast keine Ahnung, wovon du da redest“, blaffte er sie plötzlich an. „Ich KANN nicht mehr als Anwalt arbeiten. Ich KANN das Gericht nicht mehr betreten. Ich KANN ja kaum mehr das Haus verlassen.“
„Was hindert Sie daran?“, fragte Poppy.
„Was mich daran hindert?“, schrie Hathaway. „Ich habe Angst. Todesangst, wenn ich meinen Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzen muss. Das kannst du gar nicht verstehen.“
„Zu meinem Vater in die Praxis schaffen Sie es aber“, warf Poppy ein.
„Das ist eine Ausnahme. Aber auch da kostet mich jeder Besuch viel Kraft.“
„Dann machen Sie in diesem Fall auch eine Ausnahme.“
Hathaway schüttelte den Kopf. „Ich sage es noch einmal. Ich KANN deinem Vater nicht helfen. Ich würde vor Angst kein Wort herausbringen. Dein Vater braucht einen kompetenten Rechtsbeistand, kein Nervenbündel wie mich.“
Er ließ den Kopf hängen. Wie er so dasaß, tat er Poppy furchtbar leid. Sie hatte das Bedürfnis, ihn in den Arm zu nehmen, ihn zu trösten. Da kam ihr eine Idee.
„Sir Hathaway, wenn ich Ihnen dabei helfe, Ihre Angst in den Griff zu bekommen, helfen Sie dann meinem Vater?“