42. Kapitel: John
D
er Chauffeur parkte vor dem Eingang zur Praxis. John stieg aus. Die bei dem Einbruch eingeschlagene Scheibe war offenbar schon neu verglast worden, das war das Erste, was ihm auffiel. Die zweite Überraschung wartete beim Klingelschild auf ihn. Sein Name fehlte.
„Nun, da ist aber jemand gründlich“, brummte Sir Edmund. „Haben Sie zufällig den Kooperationsvertrag bei sich, den Sie vor Beginn ihrer Zusammenarbeit mit Hamilton abgeschlossen haben?“
„Ich habe ihn auf meinem Laptop.“
„Können Sie mir ein Exemplar ausdrucken?“
John nickte. Ohne zu läuten, traten sie in den Flur und dann in die Praxis. Es war Viertel vor neun.
Linda stand hinter ihrem Tresen und sortierte Akten. Sie schaute John mit großen Augen an und sagte nur „Oh.“
„Ich muss etwas ausdrucken. Und dann müssen wir mit Hamilton sprechen“, sagte John.
Linda schluckte, dann sagte sie: „Er ist in seinem Büro.“
John nickte und ging geradewegs auf den Drucker zu. Er klappte seinen Laptop auf und stöpselte das USB-Kabel in die entsprechende Buchse. Nach kurzer Zeit spuckte das Gerät vier Seiten aus. John nahm den Stapel und reichte ihn Sir Edmund, der das Dokument grob überflog. Zu Johns Überraschung trug Burgess dabei auch heute weder Mundschutz noch Handschuhe. Wie gebannt starrte er auf die weißen, feingliedrigen Finger mit den akkurat gestutzten Nägeln. Am Ringfinger der rechten Hand steckte ein Siegelring, den John noch nie an Hathaway gesehen hatte. Das war ein gewaltiger Schritt nach vorne, darauf musste er Sir Edmund später aufmerksam machen.
John klappte seinen Computer wieder zu. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Sir Edmund ihm nicht von der Seite wich, als er auf Peters Bürotür zusteuerte. Und das Gefühl, dass er sich dem, was nun folgen würde, nicht alleine stellen musste, beruhigte ihn. Zum ersten Mal hatte er jemandem, der ihm beistand in dieser Krise. Das stärkte ihn. Es nahm ihm allerdings nicht die Anspannung, die seinen Körper fest in ihrem Schraubstock eingespannt hatte.
John klopfte an die Tür und umgehend erscholl ein: „Ja bitte?“
Peter Hamilton saß an seinem Schreibtisch. Die Beine hatte er hochgelegt, sodass seine Knöchel auf einer Ecke des Möbelstücks ruhten, die Schuhe aber nicht die Platte berührten. Als er erkannte, dass nicht Linda die Besucherin war, sondern John und sein Anwalt, nahm er die Beine rasch vom Tisch und setzte sich gerade hin.
„John“, sagte er.
„Peter.“
„Guten Morgen“, sagte Sir Edmund. „Mein Name ist Sir Edmund Hathaway und ich bin der Anwalt von Dr. Burgess. Wir würden gerne einige Dinge mit Ihnen besprechen.“
„Ich … ich weiß nicht …“, stammelte Peter.
Sir Edmund nahm, ohne auf eine Aufforderung von Hamilton zu warten, auf einem der beiden Stühle vor dem Schreibtisch Platz. John tat es ihm nach.
„Was willst du, John?“, fragte Peter, der sichtlich darum bemüht war, Fassung zu gewinnen.
„Nun, es sind vor allem zwei Punkte“, sagte Sir Edmund. Er nickte John zu und dieser legte die ausgedruckten Seiten auf Hamiltons Schreibtisch.
„Das hier ist der zwischen Ihnen und meinem Mandanten geschlossene Kooperationsvertrag bezüglich der Praxisgemeinschaft. Wie wir feststellen mussten, haben Sie sich über einige der dort festgehaltenen Vereinbarungen widerrechtlich hinweggesetzt, zum Beispiel, was das Entfernen des Namens meines Klienten vom Klingelschild angeht.“
Peter öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Hathaway ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Was jedoch aus unserer Sicht eine eindeutigere Priorität hat, ist die Klärung der Frage, in welcher Beziehung Sie zu Christopher Maddock standen.“
Peters Augen weiteten sich und in diesem Moment wurde John klar, dass es richtig gewesen war, Hamilton mit der Vermutung zu konfrontieren, dass er an den Aktionen gegen John beteiligt war.
„Wie meinen Sie das?“, fragte Peter. Er schob die John-Lennon-Brille auf seiner Nase nervös hin und her.
Sir Edmund lächelte ihm freundlich zu. „Wie wir inzwischen in Erfahrung bringen konnten, haben Sie zur gleichen Zeit in Cambridge studiert wie er. Und dann auch noch auf demselben College. Selwyn, wenn ich mich nicht irre?“
„Ja, das ist schon korrekt“, sagte Peter, dem inzwischen eine ganze Menge kleiner Schweißtropfen auf die hohe Stirn getreten waren. „Aber das ist mehr als zwanzig Jahre her. Und wir kannten uns nur flüchtig.“
„Wie war Ihr Verhältnis zu Christopher Maddock, nachdem Sie die Universität verlassen hatten.“
„Ich muss Ihnen diese Frage nicht beantworten, oder?“
Sir Edmund zuckte mit den Schultern. „Sie müssen gar nichts. Aber es könnte durchaus sinnvoll sein, mit uns zu sprechen. Denn wenn Sie das nicht tun, werden wir unsere Erkenntnisse der Polizei gegenüber offenlegen, und dann werden die Fragen stellen. Und wer weiß, was passiert, wenn die Presse davon Wind bekommt, dass Christopher Maddock in der Praxis eines alten Freundes behandelt wurde. Dann wären Sie erneut in den Schlagzeilen. Mit dem Unterschied, dass Sie keinen Sündenbock mehr hätten, sondern selbst dem Sturm ausgesetzt wären.“
An Peters Stirn pulsierte eine Ader. „Ich habe nichts Falsches getan“, sagte er.
„Das habe ich auch nicht behauptet“, sagte Sir Edmund. „Also, wie war Ihr Verhältnis zu Christopher Maddock nach ihrer gemeinsamen Zeit in Cambridge?“
„Wir haben uns nicht oft gesehen. Ein paar Mal auf Alumnitreffen, wenige Male in London bei gesellschaftlichen Anlässen. Wir waren auch während des Studiums nicht besonderes eng miteinander gewesen.“
Peter sah Burgess bei seinen Worten direkt in die Augen, doch es fiel ihm schwer, den Blick aufrecht zu erhalten. Er log. Und er versuchte alles, um es sich nicht anmerken zu lassen, ging es John durch den Kopf.
„Wann haben Sie Maddock zuletzt gesehen?“
Hamilton nahm die Brille von seiner Nase und rieb ein Glas mit dem Aufschlag seines Hemds sauber.
„Vor etwa sechs Wochen. Er kam zu mir und bat mich um therapeutische Hilfe. Wegen seiner Albträume. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm nicht helfen kann, weil wir uns persönlich kennen und das aus berufsethischen Gründen nicht gehe. Stattdessen habe ich ihm einen Termin bei John eingetragen.“
John spürte, wie eine gewaltige Wut in ihm aufwallte. Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, dass es krachte.
„Du hast mir die ganze Schweinerei eingebrockt und es dabei nicht einmal für nötig gehalten, mir Bescheid zu geben, dass Maddock und du euch kanntet!“
Hamilton wich ein paar Zentimeter zurück. Er schob die Brille wieder auf seine Nase und hob beschwichtigend die Hände.
„Jetzt mal langsam“, sagte er. „Ich habe dir gar nichts eingebrockt. Für den Therapieverlauf bist du ganz alleine verantwortlich. Und dass Christopher und ich uns kannten, war keine notwendige Info für dich.“
John biss die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefer schmerzten. Er funkelte Peter wütend an, hielt sich jedoch im Zaum.
„Hatten Sie zwischen diesem Gespräch und Maddocks Tod noch einmal Kontakt mit ihm?“, fragte Sir Edmund.
Peter schüttelte den Kopf.
„Wirklich nicht?“
„Ganz bestimmt nicht.“
Sir Edmund lächelte. John hatte keine Ahnung warum, aber irgendwie schien ihn Peters Antwort zufriedenzustellen.
„Kommen wir doch einmal auf die Beschwerde zurück, die über Dr. Burgess’ Behandlung bei der Psychotherapeutenkammer eingegangen ist.“
Wieder huschte ein Schatten über Peters Gesicht. „Damit habe ich nichts zu tun“, sagte er knapp.
„Nun, das werden wir sehen. Zufällig kenne ich Professor Higgins, den Vorsitzenden der Kammer, sehr gut. Mein Vater war sein Trauzeuge. Insofern werden wir sicher herausbekommen, wer die Beschwerde eingereicht hat.“
Hamilton schluckte, sagte aber nichts.
„Achso, das hätte ich beinahe vergessen. Woher kennen Sie eigentlich Jeremy Grimson?“
Jegliche Farbe verschwand aus Peters Gesicht. „Ich … ich … ich kenne Grimson nicht“, stammelte er. „Jedenfalls nicht persönlich.“
Dieses Mal schaffte er es nur für ein oder zwei Sekunden, den Blickkontakt mit Burgess zu halten, ehe er wegsah.
„Das ist seltsam“, erwiderte Sir Edmund. „Sie wurden nämlich dabei beobachtet, wie sie vorgestern Abend sein Büro verlassen haben. Der Morning Star hatte am selben Tag exklusiv über die Ermittlungen der Psychotherapeutenkammer berichtet. Zudem wissen wir aus zuverlässiger Quelle, dass Grimson eine Kopie von Maddocks Patientenakte zugespielt wurde, nachdem in der Praxis eingebrochen worden war. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.“
Auf Peters Stirn erschienen erneut dicke Schweißtropfen. „Das ist eine Lüge“, stieß er hervor. „Ich habe mich nie mit Grimson getroffen. Ich kenne ihn gar nicht. Und warum sollte ich ihm eine Patientenakte zuspielen? Das ist doch verrückt!“
„Das werden wir sehen. Achso, sagt Ihnen eigentlich der Name Athos etwas?“
Hamiltons Pupillen wurden groß wie Untertassen.
„Das dachte ich mir“, sagte Sir Edmund und lächelte Hamilton zufrieden an. „Dankeschön, Sie haben uns sehr weiter geholfen.“
Peter schnaubte. „Das glaube ich kaum. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden. Mein erster Patient kommt gleich.“
Sir Edmund blieb sitzen.
„Eins noch: Selbst im Falle einer Kündigung Ihres Vertragsverhältnisses mit meinem Mandanten, sind sie erst ab dem Tag, an dem die Partnerschaft endet, berechtigt, Veränderungen in Ihrer Praxis vorzunehmen, wie etwa die Entfernung des Namens.“
Peter nickte. „Ich werde das alte Schild wieder anbringen lassen. Und die Kündigung lege ich dir heute noch auf deinen Schreibtisch.“
Nun erst erhob sich Sir Edmund. Sie verließen das Büro ohne Handschlag und gingen durch den Wartebereich zur Tür. Draußen auf der Straße spannte Sir Edmund seinen Schirm auf. Dann rief er den Chauffeur an.
„Warum haben Sie vorhin so zufrieden gelächelt, als Peter sagte, Maddock habe sich nicht mehr mit ihm getroffen?“
„Weil es Sie entlastet. Wenn Sie unzufrieden mit Ihrem Therapeuten wären, würden Sie sich dann nicht bei dem beschweren, der Ihnen den Therapeuten empfohlen hat, noch dazu, wenn er ein alter Freund wäre?“
John verstand, worauf er hinauswollte. Er wollte gerade etwas erwidern, als er eine Stimme hinter sich hörte. „Dr. Burgess?“
Es war Linda. Sie stand an der Haustür und winkte ihn zu sich. John zögerte zunächst, doch ihr Gesichtsausdruck war so eindringlich, dass er seine Zweifel beiseite schob. Er ging durch den Regen auf sie zu.
„Was gibt es?“, fragte er.
„Ich … es tut mir leid, was geschehen ist“, sagte sie.
„Das ist schon okay“, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Ich glaube, dass Sie unschuldig sind und …“ Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern.
„Ich glaube, dass Dr. Hamilton Dreck am Stecken hat.“
„Wie …?“
Sie legte einen Finger auf ihren Mund. „Ich werde Ihnen helfen“, sagte sie. „Auch wenn es mich meinen Job kostet.“
„Das müssen Sie aber nicht“, sagte John, dessen Herz nun bis zum Hals schlug.
Sie lächelte ihn an. „Ich weiß, dass ich es nicht muss“, sagte sie. „Aber ich will es.“ Sie reichte John eine Zeitung. „Das ist der Morning Star von heute. Sie schreiben kein Wort über Maddock oder Sie.“
John nahm die Zeitung entgegen. „Danke. Ich befürchte nur, dass die Sache damit noch nicht ausgestanden ist. Vielleicht ist es nur die Ruhe vor dem Sturm.“
„Sie schaffen das“, sagte Linda und lächelte ihm aufmunternd zu.
„Ich habe mir Gedanken zu dem letzten Hinweis gemacht, der in diesem Traumtagebuch zu finden war“, sagte Hathaway, während der Rolls Royce sich durch den morgendlichen Verkehr seinen Weg zurück zum Grosvenor Square bahnte.
John sah auf. Er war tief in Gedanken gewesen. Lindas Lächeln hatte vor seinem inneren Auge getanzt und nun entfloh es wie ein Schmetterling, der woanders eine leckere Blüte wittert.
„Wie bitte?“
„Nun, das Rätsel. Ihre Tochter hat mir das Traumtagebuch gezeigt, ehe wir gestern zum Gericht aufgebrochen sind. Im zweiten Traum kommt der Almus Pater vor. Ich glaube, ich weiß, was das bedeuten könnte.“
John nickte ihm auffordernd zu.
„Nun, also den Begriff Almus Pater gibt es meines Wissens nicht. Ich bin kein Experte, was die lateinische Sprache angeht, aber ich vermute, dass es die maskulinisierte Form von Alma Mater ist, die Universität, in der Studenten ihre akademische Weihen erhalten.“
John nickte. „Bei Maddock und Peter war das das Selwyn College.“
„Nun, ich würde meinen rechten Handschuh darauf verwetten, dass Grimson und Fitzwilliam ebenfalls Alumni dieses College sind. Ich würde Ihnen raten, dort nach dem nächsten Hinweis zu suchen. Wenn ich mich recht erinnere, steht Alma Mater auch für die Jungfrau Maria. Almus Pater könnte daher auf Christus, Gott oder den Heiligen Geist hindeuten.“
John spürte, wie sein Mund trocken wurde. „Er steckte seine Zähne dem Almus Pater in die Gesäßtasche“, murmelte er. „Vielleicht hat er sie hinter einer Heiligenfigur versteckt.“
„Möglich“, erwiderte Burgess. „Das Selwyn College hat eine sehr schöne Kapelle.“
John spürte, wie seine Finger zu Kribbeln begannen. „Haben Sie keine Zweifel daran, sich auf eine Schnitzeljagd zu begeben?“, fragte er. „Ich meine, Sie als logisch denkender Mensch …“
„Wenn ich Ihren Worten glauben darf, dann ist es gerade das logische Denken, das mich in die Bredouille mit meinen Zwangsgedanken gebracht hat. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich vertraue Ihrer Tochter. Sie hat mit Ihrer Harry Potter Geschichte goldrichtig gelegen. Zudem hat die erste Deutung doch dazu geführt, dass Sie den zweiten Traum gefunden haben. Das sind schlagende Argumente, meinen Sie nicht?“
John seufzte. „Nun, dann sollte ich wohl dringend einmal nach Cambridge fahren.“