43. Kapitel: Unity
U nity hatte eine furchtbare Nacht hinter sich. Zunächst einmal hatte sie sich sehr schwer damit getan, einzuschlafen. Die Zweifel hatten an ihr genagt. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen, indem sie Grimson hintergangen und sich an Burgess gewandt hatte? Er hatte es ihr nicht gedankt. Aber war ihm das zu verübeln?
Stundenlang hatte sie darüber nachgegrübelt, ehe die Erschöpfung sie überwältigt hatte, sodass sie schließlich eingeschlummert war. Doch auch hier hatte sie keine Ruhe gefunden. Wirre Träume hatten sie geplagt und um fünf Uhr morgens war die Nacht dann endgültig vorbeigewesen.
Sie hatte beschlossen, in die Redaktion zu fahren, noch ehe ihre Mutter und ihre Schwestern den Tag begannen. Es waren ohnehin Ferien und die Zwillinge würden länger schlafen. Sie machte sich fertig und eilte aus der Wohnung. Die Stadt war gerade am Erwachen. Ein LKW belieferte den Supermarkt nebenan mit frischen Waren. Unity kaufte sich einen Kaffee in einem 24-Stunden-Schnellimbiss und eilte zur Tube.
Um kurz vor sechs kam sie am Redaktionsgebäude an. Sie wollte es gerade betreten, als ihr Blick auf die Themse fiel. Es war ein schöner, sonniger Morgen und das grünliche Wasser glitzerte. Auf den sich leise kräuselnden Wellenkämmen flussabwärts der London Bridge schwamm das Schwanenpaar. Es war ein majestätischer Anblick. Zwei große, weiße Punkte in der grünen Flut. Doch was war das? Unity sah genauer hin. Da waren vier kleinere Punkte. Graue Punkte. Die Schwäne hatten Nachwuchs bekommen.
Sie griff nach ihrem Handy und schrieb dem Fotografen eine Nachricht. Der würde heute sein großes Teleobjektiv auspacken dürfen und vielleicht gelang ihm ein Foto für Seite drei. Die Küken waren das Sahnehäubchen für ihren Artikel. Vielleicht würde der es dann auf Seite sieben schaffen, vorausgesetzt sie war noch lange genug beim Morning Star tätig, um ihn fertigzustellen.
Sie fuhr mit dem Aufzug in den vierten Stock, wo sich die Redaktionsräume befanden. Marcs Tasche stand an seinem Arbeitsplatz, doch von ihrem Kollegen war keine Spur zu sehen. Was machte er um diese Zeit im Büro?
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete den PC an.
„Möchtest du einen Kaffee?“
Unity zuckte zusammen. Sie drehte sich um und sah Marc hinter sich, der eine große, dampfende Tasse in der Hand hielt. Sie deutete auf ihren Plastikbecher.
„Ich bin schon versorgt, danke“, sagte sie.
Er lächelte sie an.
„Und, wie lief es gestern mit diesem Psychotherapeuten?“
Unity verdrehte die Augen. Sie hatte keine Lust, darüber zu sprechen. Doch Marc sah sie weiterhin auffordernd an und schließlich gab sie sich einen Ruck und erzählte ihm alles, was sich gestern Abend zugetragen hatte.
„Hm, kannst du es Burgess und diesem Anwalt verübeln, wenn sie nicht mit dir kooperieren wollen?“, fragte er.
Unity kaute an ihrer Unterlippe. Bei allem Zorn auf die scheinbare Undankbarkeit der beiden Männer war es diese Frage gewesen, die die ganze Nacht ihr Bewusstsein mit kleinen Gewissensnadeln angepiekst hatte.
„Nein, natürlich nicht. Ich hätte warten sollen, ehe ich einen Deal anbiete.“
Marc legte den Kopf schief. „Oder auf den Deal verzichten?“, schlug er vor.
„Damit ich weiter über Schwäne berichte, solange bis Grimson einfällt, mich doch zu feuern?“
„Du willst also an der Story dranbleiben? Auch wenn Burgess nicht mit dir kooperiert?“
Sie musste nicht lange nachdenken. „Ja, genau das will ich“, sagte sie.
„Warum sitzt du dann noch hier?“
Sie seufzte. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“
Marc zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie.
„Ich will mich nicht einmischen. Es ist deine Story und deine Recherche. Aber vielleicht wäre es wichtig, herauszufinden, woher Hamilton und Grimson sich kennen. Und wie sie mit Maddock verbandelt sind. Wenn du mich fragst: Ich tippe darauf, dass die sich vom Studium kennen. Grimson hat in Cambridge studiert. Im Selwyn College, wenn ich mich nicht irre. Die haben auch ein Archiv. Da würde ich ansetzen.“
Unity war wie elektrisiert. „Maddock und Hamilton haben auch in Cambridge studiert. Vielleicht waren sie miteinander befreundet.“
„Finde es heraus.“
„Du meinst, ich soll nach Cambridge fahren?“
„Wenn du die Wahrheit herausfinden willst.“
„Aber die Schwäne?“
„Es ist deine Entscheidung.“