47. Kapitel: Poppy
P
oppy benutzte die Toilette, wusch sich und putzte sich die Zähne. Sie fühlte sich wie ein Zombie und sah auch so aus. Sie schlurfte aus dem Bad und stieß dabei beinahe mit einer kleinen, alten Frau zusammen.
„Nana, junges Fräulein, nicht so schnell“, sagte diese. Und hielt sich mit einer Hand an der Wand fest, während die andere einen frei in der Luft schwingenden Krückstock umklammerte.
„Verzeihung“, murmelte Poppy. Sie wollte sich so rasch wie möglich wieder in ihr Schlafzimmer zurückziehen.
„Manieren hat man Ihnen auch nicht beigebracht, oder?“, fragte die alte Frau. Poppy blieb stehen.
„Man sagt Guten Morgen, Madam, wenn man älteren und in der gesellschaftlichen Hierarchie höherstehenden Personen begegnet. Auch wenn es schon nach Mittag ist.“
„Guten Morgen, Madam“, sagte Poppy ohne jegliche Gefühlsregung in der Stimme. Sie wollte ihren Weg fortsetzen, doch die alte Frau schien noch nicht fertig zu sein mit ihr.
„Sie sind Gast in meinem Haus. Und von Gästen erwarte ich ein tadelloses Benehmen, ganz besonders, wenn sie so jung sind wie Sie. Ich habe mir nicht ausgesucht, dass Sie hier wohnen. Ich habe Sie nicht eingeladen. Das hat mein Sohn getan. Und auch wenn ich mit dieser Entscheidung nicht einverstanden bin, werde ich den gesellschaftlichen Konventionen genüge tun. Und das erwarte ich auch von Ihnen, junges Fräulein.“
Poppy zuckte mit den Achseln. „Sie sind die Mutter von Sir Edmund?“
„Ja, die bin ich.“
Lady Hathaway schürzte die Lippen und Poppy erwartete schon, dass jeden Moment eine gespaltene Zunge aus ihrem Mund hervor spitzeln könnte.
„Warum haben Sie etwas dagegen, dass er Gäste einlädt?“, fragte sie.
„Wie bitte?“
„Nun, warum wollen Sie nicht, dass Ihr Sohn ein bisschen Gesellschaft hat?“
In Lady Hathaways Augen schlich sich ein bedrohliches Funkeln. „Es geht mir nicht um Gesellschaft an sich. Es geht mir um Ihre Gesellschaft und die Ihres Vaters. Sie haben meinen Sohn dazu überredet, wieder als Anwalt tätig zu sein.“
„Ja, und er hat den Gerichtssaal gerockt“, sagte Poppy.
Lady Hathaway verzog das Gesicht, als ob Poppys Wortwahl ihr physische Schmerzen bereitete.
„Ich kenne meinen Sohn viel länger als Sie. Und auch wenn Sie und Ihr Vater meinen, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, weiß ich sehr genau, was meinem Sohn gut tut und was nicht. Edmund braucht Schonung. Er ist ein zartes Gemüt. Er überfordert sich leicht.“
„Seit wie vielen Jahren schont er sich denn?“, fragte Poppy. „Ich habe nicht den Eindruck, dass es ihm besser geht, weil er sich von der Welt zurückzieht. Aber im Gerichtssaal ist er richtig aufgeblüht. Vielleicht sollten Sie das nächste Mal mitkommen und ihn sich ansehen.“
„Sie sind unverschämt. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Aufenthalt in diesem Haus bald endet.“
Ohne ein weiteres Wort ließ Lady Hathaway sie stehen und humpelte davon, wobei der Krückstock bei jedem ihrer Schritte krachend auf den Dielenboden stieß. Poppy sah ihr nach, unschlüssig wie sie einordnen sollte, was sie da gerade erlebt hatte. Hatte sie wirklich mit Sir Edmunds Mutter über den richtigen Umgang mit seiner Erkrankung gestritten? Ein Gefühl der Scham breitete sich heiß in ihrer Magengegend aus. Das war wirklich ziemlich unverschämt gewesen. Sie war wohl nicht ganz bei Sinnen. Aber das war ja auch nicht zu erwarten in Anbetracht der Umstände. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück. Ihr Handy blinkte. Andrew hatte ihr eine Nachricht geschickt.
„Hey, was war den gestern los, du warst auf einmal weg?“
Sie schluckte. Vor eben dieser Frage hatte sie sich gefürchtet. Was sollte sie ihm nur zurückschreiben? Wie konnte sie sich erklären?
Das Handy pingte erneut.
„Wollen wir uns wieder am Camden Lock treffen und an dem Traumrätsel weiterarbeiten? Oder einfach nur reden?“
Poppy schloss die Augen und kämpfte gegen die Tränen an, die aufsteigen wollten. Ja, genau das wollte sie jetzt. Und doch konnte sie sich nicht mit Andrew treffen. Nicht nachdem sie herausbekommen hatte, dass sein Vater in die Sache mit Maddock verstrickt war.
Sie legte das Handy beiseite, doch im selben Moment pingte es.
„Was ist los?“, hatte Andrew geschrieben. „Warum bist du gestern einfach gegangen? Und warum antwortest du mir nicht? Ich sehe doch, dass du die Nachrichten gelesen hast. Alles okay?“
Poppy schluckte. Es war so unfair. Das hatte sie endlich einmal einen neuen Freund kennengelernt und dann war dessen Vater womöglich ein Verbrecher.
Es pingte noch einmal.
„Okay, wenn du nicht schreiben willst, dann lasse ich dich in Ruhe.“
Nun zog es ihr die Kehle zusammen. Sie wollte Andrew nicht verlieren. Nicht so. Er hatte wenigstens eine Antwort verdient.
Sie nahm ihr Handy und schrieb ihm. Dann machte sie sich auf den Weg.
Eine Stunde später schlenderte sie auf die Brücke am Camden Lock zu. Sie setzte sich auf einen der Ufersteine, die den Kanal einsäumten, und ließ die Beine über den Rand baumeln. Da traf sie ein Regentropfen am Oberschenkel. Sie schaute nach oben und sah, dass der Himmel sich zugezogen hatte. Große Tropfen platschten auf das Wasser, stießen durch die Oberflächenspannung und lösten kreisförmige Wellen aus. Der Regen wurde heftiger, die Einschläge häufiger und schließlich tanzten die Tropfen auf dem Wasser.
Poppy zog die Beine an und spannte ihren Schirm auf. Das Klopfen des Regens dröhnte in ihren Ohren und drang durch die Mauer der bösen Gedanken, die sie den ganzen Tag schon geplagt hatten. Sie spitzte unter dem Rand des Schirms hervor, von dem das Wasser in Fäden zu Boden rann. Die Leute waren verschwunden. Endlich. Sie hatten wohl Schutz in einem der Läden gesucht.
Poppy holte ihr Handy aus ihrem Rucksack, den sie zwischen ihre Brust und die Knie geklemmt hielt, und schaute auf das Display. 14:26 Uhr. Noch vier Minuten. Es wäre wohl am besten, wenn sie auf der Brücke auf ihn wartete, damit sie sich gleich in einem der Läden unterstellen konnten.
Sie stand auf. Wasser rann ihr den Rücken hinab und lief ihr in die Sandalen. Sie störte sich nicht daran. Es war warm und sie mochte den Regen, auch wenn sie heute nicht den Nerv dazu hatte, das Wetter zu genießen.
Sie stapfte in Richtung Brücke. Die Tropfen fielen inzwischen so dicht, dass sie einen Schleier um sie herum bildeten, hinter dem die Welt verschwamm. Sie konnte den Bogen der Brücke sehen, aber undeutlich, wie in einem Bild von Monet. Sie ging den Uferweg entlang, passierte die Trauerweide und konnte im letzten Moment einer gebückten Gestalt ausweichen, die auf sie zu hastete.
Sie murmelte ein „Sorry“ und wollte weitergehen, doch eine feste Hand griff nach ihrem Oberarm und hielt sie auf.
„Poppy!“
Es war Andrew. Sie hatte ihn nicht erkannt, was auch kaum verwunderlich war, denn er war tropfnass. Seine Haare waren dunkler als sonst, sie klebten ihm in dicken Strähnen am Kopf. Sein Gesicht glänzte und an der Nasenspitze hatte sich ein Tropfen gebildet, der dort tapfer der Schwerkraft trotzte.
„Andrew!“ Poppy ließ den Schirm fallen und umarmte ihn stürmisch. Er umfing sie mit seinen Armen und drückte ebenfalls fest zu. Von den hängenden Ästen der Trauerweide lief das Wasser in Strömen auf sie herab, doch es störte sie nicht. Kälte und Nässe drangen nicht hindurch. Sie spürte nur die Wärme von Andrews Körper, roch ihn, genoss seine beruhigende Nähe. So standen sie da, hielten sich fest umschlungen und lösten sich erst, als ein gewaltiger Knall den Boden unter ihren Füßen erbeben ließ.
„Was war das?“, fragte Poppy erschrocken.
„Naja, ich würde entweder auf einen Terroranschlag oder auf Donner tippen. Da es regnet und da es vorhin geblitzt hat, ist Letzteres wahrscheinlicher.“
Er zwinkerte ihr fröhlich zu.
„Dann sollten wir uns vielleicht doch mal ein Dach über dem Kopf suchen, oder?“, schlug Poppy vor.
„Gute Idee, lass uns in den Stables Market gehen.“
Sie eilten zwischen den Buden hindurch. Andrew führte sie zu einem Café und bestellte zwei heiße Ingerwertees. Poppy genoss die leichte Schärfe, die ein wohlig warmes Gefühl in ihrem Bauch entzündete.
„Was war denn los gestern?“, fragte Andrew. „Du warst plötzlich weg.“
Poppy schluckte. Nun war der Moment der Wahrheit gekommen. Sie beschloss, es nicht länger hinauszuzögern und gleich auf den Punkt zu kommen.
„Ich habe in einem Buch in der Bibliothek deines Vaters eine Widmung entdeckt.“
Andrew lächelte. „Ja, er hat viele signierte Ausgaben.“
„Es war eine Widmung von Christopher Maddock. Für Athos.“
Andrews Miene veränderte sich, während er offenbar angestrengt über ihre Worte nachdachte. Zuerst wirkte er irritiert, dann verblüfft, dann ungläubig.
„Was soll das heißen?“, fragte er.
„Das soll heißen, dass dein Vater einer der Hunde aus Maddocks Traum ist.“
Andrews Augen weiteten sich.
„Das … das kann nicht sein“, stammelte er.
„Doch“, beharrte Poppy. „Dein Vater hat Maddock in seine Albträume verfolgt. Sie müssen sich auch im echten Leben gekannt haben. Möglicherweise ist dein Vater einer der Männer, die Maddocks Tod wollten.“
Andrew schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist vieles, aber doch kein Mörder.“
„Die Widmung spricht eine andere Sprache.“
Andrews Miene wandelte sich wieder. Dieses Mal wirkte er jedoch wütend. „Es ist ein Traum verdammt noch mal. Du hast keine Ahnung, ob deine Interpretation stimmt. Du steigerst dich da in etwas hinein. Mein Vater? Ein Mörder? Das ist Wahnsinn.“
Poppy wollte etwas sagen, doch Andrew ließ sie nicht zu Wort kommen.
„Das höre ich mir nicht länger an“, sagte er. Er warf ihr einen letzten Blick zu, dann zog er ab.