53. Kapitel: Poppy
D
er Wind war überall. Es war ihr schon aufgefallen, als sie über die engen Straßen der Halbinsel im äußersten Südwesten des Landes gefahren waren. Er hatte an den dichten Hecken gezerrt, die die Wege einsäumten, die Äste der Bäume zum Schaukeln gebracht und war säuselnd an den Seitenscheiben des Vans entlanggestrichen. Sie waren ausgestiegen und sofort hatte er sich an Poppys Haaren zu schaffen gemacht, ihr eine Strähne ins Gesicht geweht.
Im Landhaus der Hathaways, einem von dichten Hecken umgebenen, reizenden kleinen Gebäude, hatte er an den Fensterläden gezerrt. Im Wohnzimmer hatte er durch den Kamin gepfiffen, über dem ein großes Schild mit dem Familienwappen der Hathaways hing. Natürlich kannte sie den Wind aus Leeds. Besonders in der kalten Jahreszeit konnte es sehr ungemütlich werden. Aber der Wind in Cornwall war anders. Er war warm. Und er roch nach Meer, nach Weite, nach Unendlichkeit.
Das Cottage lag in der Nähe der Steilküste und es hatte sie nicht lange in seinen kühlen Innenräumen gehalten. Sie war durch den Garten gegangen, hatte das Gatter hinter dem Haus überklettert und war über die Wiese zu den Klippen gelaufen. Der Anblick war atemberaubend. Zu ihrer Linken erstreckte sich eine weite Bucht, in deren Mitte ein einzelner Felskegel aus dem Meer ragte. Ein Schloss oder eine Kirche waren darauf gebaut und ein schmaler, vom Wasser bedrängter Weg führte vom Strand eines Dorfes zu der Insel. Entlang der Küste waren die Ortschaften aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. Sie vermutete, dass der größte Ort mit den Hafenanlagen Penzance war. Näher an ihrem Standort lag Mousehole. Der Name des Dorfes hatte sie amüsiert, aber ansonsten hatte niemand im Auto darüber gelacht. Isidor hatte seinen Blick unverwandt auf die Straße gerichtet. Und Sir Edmund hatte geschlafen.
Poppy sah nach rechts. Hier setzte sich die Steilküste fort, so wie sie es aus dem Fernsehen kannte. Kleine Buchten schnitten ins Landesinnere ein und die Wellen brachen sich an riesigen Felsbrocken, zwischen denen eine üppig grüne Vegetation wuchs. Unter ihr wand sich ein Weg durch die Wildnis, auf dem zahlreiche Backpacker unterwegs waren. Es musste schön sein, dort entlangzuwandern. Die Natur zu genießen. An nichts zu denken. Sich keine Sorgen machen zu müssen.
Poppys Gedanken gewannen erneut die Oberhand, lenkten sie ab von der paradiesischen Szenerie um sie her. Bilder von ihrer überstürzten Abreise aus London drängten sich vor ihr inneres Auge. Wie sie ihre Tasche packt, alles einfach hineinwirft, weil sie keine Zeit hat, ihre Klamotten ordentlich zusammenzulegen. Wie sie sich in der Eingangshalle treffen. Der für sein Alter erstaunlich kräftige Isidor, der den schlafenden Sir Edmund in den Armen trägt wie ein Kleinkind. Lady Catherine, die sie durch eine Tür in das Nebengebäude scheucht, wo ihr Nachbar, ein Mr. Ferguson, sie begrüßt und sie in den Innenhof seines Hauses führt, wo ein Kleinbus mit verspiegelten Scheiben auf sie wartet. Das Quietschen der Reifen, als der Van mit Vollgas auf die Straße hinausschießt, vorbei an den Paparazzi, die zu verblüfft sind, um auf den Auslöser zu drücken. Die Fahrt. Die endlos lange Fahrt von beinahe fünf Stunden. Alle zwei Minuten sieht sie auf ihr Handy. Ob Andrew ihr schreibt?
Einem Impuls folgend nahm sie ihr Smartphone aus der Tasche und schaute auf das Display. Nichts. Keine Silbe. Warum sollte er ihr auch schreiben? Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ob er überhaupt noch an sie dachte? Und wenn ja, war er wütend auf sie? Oder sehnte er sich genauso danach, Poppy zu sehen, wie sie sich seine Gegenwart wünschte?
Sie schlenderte ein wenig an der Steilküste entlang, genoss es, den Wind über ihre Haut streichen zu lassen, die Sonne zu spüren, die salzige Luft zu riechen, die Schreie der Möwen zu hören. Die Szenerie war so eindrucksvoll, dass sie ein Foto schoss und es auf ihrem Instagram-Account hochlud.
Vor ihr am Wegesrand sah sie einen Busch, aus dem ein paar dünne Beine ragten. Das sah so seltsam aus, dass sie einen Moment lang innehielt, ehe ihr aufging, was sie da sah. Der Busch rahmte eine Bank ein, auf der ein Mann saß. Sie trat näher und erkannte Sir Edmund. Er war ganz offenbar aus dem tiefen Schlaf erwacht, in den ihn das Medikament versetzt hatte.
„Guten Tag, Sir Edmund“, sagte sie. „Geht es Ihnen besser?“
Er schaute sie an und sie erschrak. Seine Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen und der Kopf sah aus wie ein Totenschädel. Doch auf seinen Lippen zeichnete sich ein schmales Lächeln ab.
„Es geht schon“, sagte er. „Hier ist es immer besser als in London. Es muss an der Luft liegen. Auf meinen Mundschutz kann ich in Cornwall auch immer verzichten.“
„Und an der Aussicht“, sagte Poppy. Von der Bank aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Bucht und die Steilküste.
„Und an der Aussicht, da gebe ich dir recht“, sagte er und lächelte ihr zu. „Magst du dich ein bisschen zu mir setzen?“
Poppy zögerte kurz. „Ich möchte Sie nicht stören“, sagte sie unsicher.
Sir Edmund winkte ab. „Wenn du mich stören würdest, hätte ich dir das gesagt. So gut solltest du mich inzwischen doch kennen.“
Poppy konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und sah zu ihrer großen Freude, dass es sich auf Sir Edmunds Lippen spiegelte. Sie setzte sich neben ihn.
„Du hast dir deine Ferien sicher anders vorgestellt“, sagte er.
Sie zuckte mit den Schultern. „Vorgestellt habe ich mir eigentlich gar nichts“, sagte sie.
„Das Wort „eigentlich“ solltest du vermeiden“, murmelte Sir Edmund. „Es ist ein sinnfreies Füllwort. Aber entschuldige, alte Juristenangewohnheit, ich wollte dich nicht unterbrechen.“
„Also wie gesagt, vorgestellt hatte ich mir gar nichts. Es waren drei Wochen bei meinem Dad geplant, da aber klar war, dass er arbeiten musste, wollte ich vor allem lesen und ausschlafen.“
„Das habe ich die letzten fünfundzwanzig Jahre auch ganz viel getan. Aber trotzdem ist es jetzt anders gekommen als geplant, oder?“
Sie lächelte. „Vielleicht klingt es komisch, aber trotz all dem Schlimmen, was passiert ist, will ich die letzte Woche nicht missen. Ich habe viel erlebt. Auch mit meinem Dad. Das war nicht oft so.“
„Deine Eltern sind geschieden?“
„Ja, seit ich sieben Jahr alt war.“
„Und du lebst bei deiner Mutter?“
„Wenn ich nicht in der Schule bin. Ich lebe die meiste Zeit im Internat.“
„Achje, Internate. Hör mir damit auf. Ich war in Eton. Es war grauenhaft.“
„Mir gefällt es ganz gut in St. Mary’s. Was war so schlimm an Eton?“
Sir Edmund seufzte. „Man hatte nie seine Ruhe. Es gab zwar schöne Ecken, in die man sich zurückziehen konnte, aber überall waren andere Kinder. Und dann ständig der Zwang, bei irgendwelchen Clubs oder Sportveranstaltungen mitzumachen. Nein, das war nichts für mich.“
„Mir gefällt es inzwischen ganz gut“, sagte Poppy.
„Das ist schön“, sagte Sir Edmund. „Mir muss es ja auch nicht mehr gefallen. Aber wir sind vom Thema abgekommen. Wie ist es so? Ich meine, ein Scheidungskind zu sein.“
„Ich kann mich nicht mehr so gut erinnern, wie es davor war. Ich meine, bevor Mum und Dad sich getrennt haben. Aber ich glaube, den beiden geht es besser damit.“
„Und dir?“
Sie überlegte einen Moment. „Hm, gute Frage. Es ist okay. Aber ich bin nicht glücklich. Es ist so … so, als ob immer etwas fehlt. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.“
„Ich weiß sehr gut, was du meinst“, sagte Sir Edmund leise. „Mir geht es so, seitdem meine Schwester gestorben ist. Seit diesem Tag fehlt auch etwas. Etwas sehr Wichtiges. Etwas Unersetzbares.“
„Wie hieß Ihre Schwester?“
„Lucia. Aber wir haben sie alle nur Lucy genannt.“
„Wann ist Ihre Schwester gestorben?“
„Vor siebenundzwanzig Jahren. Sie hatte einen Autounfall, hier in der Nähe. Sie ist zu schnell in eine Kurve gefahren und gegen einen Baum geprallt. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun.“
Seine Augen glänzten feucht.
„Das ist immer noch schlimm für Sie“, flüsterte Poppy.
Er nickte. „Sie war so ein lebensfrohes Geschöpf. Und sie hatte so gute Aussichten. Nach ihrem Literaturstudium in Cambridge wollte sie bei einem Verlag anfangen. Die wollten sie als Lektorin einstellen. Ich hatte den Arbeitsvertrag schon geprüft. Die Konditionen waren erstklassig.“
„Ihre Schwester hat auch in Cambridge studiert?“, fragte Poppy. Sie rechnete in ihrem Kopf zurück. Siebenundzwanzig Jahre, das war zu der Zeit, als auch die vier Musketiere dort gewesen waren.
Er nickte.
„Und in welchem College war sie da?“
„Selwyn“, murmelte er.
Poppys Augen weiteten sich. „Dann muss sie ja Maddock und die anderen gekannt haben!“
Er zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich schon. Aber ist das jetzt noch wichtig?“
Sir Edmunds Blick richtete sich auf den Horizont und an seinem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er weit weg war. Ganz anders Poppy. In ihrem Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander.