54. Kapitel: John
J
ohn stieg in Knightsbridge aus und da er noch eine Dreiviertelstunde bis zu dem Termin mit Maddocks Studienfreund hatte, setzte er sich in den Regent’s Park und starrte gedankenverloren vor sich hin. Er praktizierte zwar keine richtige Meditation, aber dieses Ins-Leere-Schauen beruhigte ihn. Und so auch heute.
Dann fiel ihm die Szene vorhin am Geldautomaten ein und die Ruhe war dahin. Er hatte die 200 £ abheben wollen, um die Miss Wilmore ihn gebeten hatte. Doch so sehr er auch sein Portemonnaie auf den Kopf gestellt hatte, er hatte seine Kreditkarte nicht finden können. Er überlegte, wann er sie zum letzten Mal benutzt hatte. Das musste gestern Vormittag gewesen sein. Eine heiße Panik überkam ihn. Er rief den Sperrnotruf an und meldete die Karte als gestohlen. Dann hob er das Geld mit seiner EC-Karte ab. Er konnte nur hoffen, dass bislang noch niemand mit dem kleinen Stück Plastik finanzielles Unheil angerichtet hatte.
Sein Handy pingte. Es zeigte eine Nachricht von Unity Wilmore an.
„Wo sind Sie?“
John schrieb ihr seinen Standort und fünf Minuten später sah er ihren krausen Haarschopf über einem der gekiesten Wege auftauchen. Seine Gefühle waren noch immer widerstreitend, wenn er an die Journalistin dachte. Sie hatte maßgeblich dazu beigetragen, ihn in diese verdammte Bredouille zu bringen. Und doch glaubte er ihr, dass sie bereute, was sie getan hatte. Ihre Beteuerungen waren ihm authentisch erschienen. Vielleicht überschätzte er seine Fähigkeiten als Psychotherapeut, aber er traute sich zu, die Echtheit von Gefühlen einschätzen zu können. Und die Journalistin hatte ehrlich zerknirscht gewirkt.
Sie begrüßten sich mit einem Handschlag.
„Ich hoffe, Sie haben bessere Neuigkeiten als ich“, sagte John.
Miss Wilmore sah ihn irritiert an. „Wie meinen Sie das?“
Er berichtete ihr, was heute Morgen geschehen war und nach kurzem Zögern auch, was er mit der Polizistin besprochen hatte.
„Ich habe DS Mallory versprochen, ihren Namen da rauszuhalten. Aber wenn wir eindeutige Beweise gegen Fitzwilliam, Grimson oder Hamilton haben, können wir uns an sie wenden. Ich vertraue ihr“, schloss er.
Die Journalistin wirkte erneut zerknirscht. Sie sah zu Boden. „Das mit Hathaway ist eine üble Sache. Ich habe den Artikel heute Morgen gelesen. Sie müssen mir glauben, dass ich daran nicht beteiligt war. Das hat Grimson selbst geschrieben. Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich kenne inzwischen seinen Stil.“
John nickte. „Das glaube ich Ihnen. Aber nun kümmern wir uns um diesen Studienfreund der vier Musketiere. Wo haben sie den denn aufgetrieben?“
Miss Wilmore lächelte. „So schwierig war das gar nicht. Ich habe einfach die Namen der Vier bei Google eingegeben und mir die Treffer angeschaut, bei denen möglichst viele gleichzeitig in einem Text erwähnt wurden. So bin ich auf die Facebook-Seite dieses Autohändlers gekommen. Er hat zur gleichen Zeit BWL studiert wie die Vier. Er weiß aber noch nicht, was ich von ihm will. Im Moment glaubt er noch, dass ich eine Antiquarin bin, die ein altes Bild mit den Unterschriften der vier Musketiere von ihm als authentisch erklärt haben möchte.“
John seufzte. „Na, dann hoffen wir mal, dass er nicht gleich abhaut, wenn er den Braten riecht.“
Wieder erschien das Lächeln auf dem Gesicht der Journalistin. Die kleinen Grübchen in ihren Mundwinkeln zeigten, wie jung sie noch war. „Nun, das wird Ihr Job sein. Als Psychotherapeut müssten Sie doch mit schwierigen Leuten umgehen können.“
„Und wofür brauchen Sie die 200 £?“, fragte er und zog den Umschlag mit dem Geld aus der Tasche.
Sie biss sich auf die Lippen. „Er will nur für Geld reden.“
John seufzte. „Tja, da darf ich mich wohl nicht beschweren. Meinem Berufsstand sagt man immerhin nach, dass wir nur für Geld zuhören wollen. Hoffentlich sind seine Informationen die 200 £ wert.“
Um Punkt zehn Uhr steuerten sie auf einen Tisch im Café King zu, an dem ein ziemlich korpulenter Mann saß. Er nahm die ganze Bankseite eines Vierertisches ein und sah keineswegs irritiert aus, als er nicht nur eine, sondern zwei Personen auf sich zukommen sah.
Unity stellte sich und dann John vor.
„Ich will die 200 £“, sagte Smith. Er fragte erst gar nicht, warum John mitgekommen war.
Genauso unverblümt zog Unity den Umschlag aus ihrer Tasche und schob ihn zu Smith hinüber. Er sah hinein und nickte zufrieden, nachdem er die Scheine gezählt hatte.
„God save the Queen“, sagte er. „So mag ich die alte Schabracke am liebsten.“
Er zeigte auf das Porträt der jugendlichen Königin Elisabeth, das einen der Geldscheine zierte. „So, und jetzt sagen Sie mir, was Sie wirklich von mir wollen.“
Miss Wilmore zuckte zusammen. Offenbar war sie davon überrascht, dass der Mann ihre List durchschaut hatte. John hatte das jedoch schon befürchtet, als er gesehen hatte, wie abschätzig Smith sie musterte, während sie auf seinen Tisch zugesteuert waren.
„Ich weiß, dass Sie keine Antiquarin sind. Sie sind Journalistin. Ob Sie es glauben oder nicht, ich kann auch recherchieren. Also, was wollen Sie?“
Miss Wilmore zog die Nase kraus. „Es geht um die vier Männer, über die wir gesprochen hatten. Wir sind an weiteren Informationen über Ereignisse während ihrer Studienzeit interessiert“, sagte sie schließlich.
„Mir ist schon klar, was sie wollen. Ich habe gesehen, dass Sie an dem Artikel über Christopher mitgeschrieben haben. Sie wollen, dass ich aus dem Nähkästchen plaudere. Was er so angestellt hat während seiner Jahre im Selwyn und sowas, nicht wahr?“
Unity nickte. „Und Informationen über die drei anderen.“
„Gut, wie Sie wollen. Fangen wir mal mit Grimson an. Der war ein Schwerenöter. Er hat nichts ausgelassen. Schon im ersten Trimester hat er eine vom King’s College geschwängert. Eine Archäologiestudentin. Die hat dann ein Jahr Auszeit genommen und kam mit flachem Bauch zurück. Sie verstehen, was ich meine?“
Er zwinkerte ihr anzüglich zu. Miss Wilmore nickte, was Smith als Aufforderung verstand, fortzufahren.
„Nun gut, er hat auch alle Drogen ausprobiert, die er in die Finger bekommen konnte. Nach einem besonders heftigen LSD Trip mussten wir mal zwei Tage und Nächte lang rund um die Uhr an seinem Bett sitzen und Wache halten. Er hat Monster gesehen. Hilfe, Hilfe, die wollen mich holen, Hilfe!“
Er hatte die letzten Worte mit hoher Fieselstimme gesprochen. Eine Frau vom Nachbartisch warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass sie ihn wenigstens für auffällig hielt.
„Richtig krass wurde es aber, als er Fitzwilliam und die anderen kennengelernt hat. Die vier Musketiere haben sie sich genannt. Pah, die vier Tunichtgute hätte besser gepasst.“
„Inwiefern?“, fragte John, darum bemüht, sich die Aufregung, die dieser Themenwechsel bei ihm hervorgerufen hatte, nicht zu deutlich merken zu lassen.
„Nun, die hatten mal einen Wettbewerb am Laufen, dass sie jede Erstsemesterin im College flachlegen wollten. Und was soll ich sagen? Sie haben es beinahe geschafft. Nur ein paar dieser lesbischen Theologieschnepfen haben sich gesträubt. Aber die will ja auch keiner vögeln. Also ich jedenfalls nicht. Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen in dieser Richtung aussieht.“
Miss Wilmore ignorierte die Bemerkung und das damit verbundene anzügliche Augenzwinkern mit bewundernswerter Kaltblütigkeit und fragte:
„Haben die vier auch mal so über die Stränge geschlagen, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind?“
Smith kniff die Schweinsäuglein zusammen.
„Naja, sie waren jetzt kein Ableger der Cosa Nostra, wenn Sie das meinen“, sagte er.
„Also ein bisschen enttäuscht bin ich ja schon“, mischte John sich in möglichst beiläufigem Ton ein. „Da schieben wir Ihnen 200 Kröten zu und Sie erzählen uns irgendeinen belanglosen Mist über Weiber- und Drogengeschichten. Die Leser des Morning Star werden vor Langeweile einschlafen.“
Das hatte gesessen. Smith starrte ihn entgeistert an.
„Ich weiß schon noch etwas“, sagte er langsam, „aber das ist heikel. Da werden 200 £ nicht ausreichen.“
„Wieviel wollen Sie?“, fragte John.
„5.000 £.“
John erhob sich. Im Augenwinkel sah er, dass Unity ihn entgeistert anstarrte.
„Das ist zwecklos“, sagte er zu ihr gewandt. „Der blufft nur. Wenn wir ihm das Geld geben, wird er noch von ein paar Drogenskandälchen berichten oder einen totgequälten Hund aus dem Hut zaubern. Dafür sind mir meine Zeit und mein Geld zu schade. Kommen Sie mit!“
Unity erhob sich. Sie sah ihn mit großen Augen an.
„Warten Sie!“, sagte Smith. „4.000.“
John schüttelte den Kopf.
„Und wenn Sie 2.000 sagen. Es ändert nichts. Sie haben keine relevanten Informationen für uns. Sie sind ein Wichtigtuer.“
Er sah, dass sein wohlgezielter Hieb gesessen hatte. Smiths gewaltiger Kopf lief so rot an wie eine überreife Tomate.
„Die vier haben eine Kommilitonin vergewaltigt. Und zwei Monate später war sie tot. Reicht Ihnen das?“, stieß er hervor.
John schluckte. „Wer war die Frau?“, fragte er. „Gibt es Beweise dafür?“
Smiths Gesichtsfarbe normalisierte sich wieder und auch das selbstzufriedene Grinsen kehrte zurück.
„Den Namen verrate ich Ihnen, wenn ich die 5.000 £ in Händen halte. Und ich habe Verbindungen zu Leuten, die Ihnen weiterhelfen könnten. Das war damals eine Zeitlang ein heißes Thema im Selwyn College, das können Sie sich ja denken.“
„Okay“, sagte John. „Geben Sie mir bis morgen Zeit, dann treibe ich das Geld auf.“
Smith nickte.
„Morgen um zehn werde ich wieder hier sein. Und für 5.000 £ bekommen Sie den Namen und die Kontaktadressen auf dem Silbertablett. Wenn Sie wollen, binde ich Ihnen sogar noch ein rosa Schleifchen darum.“
Er erhob sich und watschelte zur Tür hinaus.
„Das ist krass“, sagte Miss Wilmore. „Eine Gruppenvergewaltigung. Wenn das rauskommt, ist Fitzwilliams politische Karriere vorbei. Und Grimson kann auch einpacken.“
John nickte. „Die beiden hatten also ein berechtigtes Interesse daran, dass Maddock schweigt. Doch sein schlechtes Gewissen hat ihn nicht zur Ruhe kommen lassen. Hoffentlich kann uns dieser Smith wasserdichte Beweise liefern. Ich traue ihm nicht.“
„Ich auch nicht. Aber wir haben keine andere Quelle. Wo wollen Sie das Geld hernehmen?“, fragte die Journalistin.
„Das ist meine eiserne Reserve für Notzeiten“, erwiderte John zerknirscht. „Und wenn das hier keine Notzeiten sind, was dann?“
Sie erhoben sich und verließen das Café.
John entdeckte Smith etwa zwanzig Meter vor ihnen. Er wartete an einer roten Ampel. Das Licht schaltete auf Grün und er watschelte auf die Straße. Im selben Moment hörte John das Aufheulen eines Motors. Ein Lieferwagen mit getönten Scheiben gab Vollgas. John hielt den Atem an. Der Wagen steuerte genau auf Smith zu. Der blieb stehen und starrte wie paralysiert auf das Auto.
„Schauen Sie weg!“, rief John und die Journalistin konnte seinem Rat gerade noch folgen. Er selbst wurde Zeuge, wie der Van mit einem dumpfen Knall auf Smiths Körper traf und ihn in hohem Bogen zur Seite schleuderte. Das Auto gab Gas und schlingerte so rasch um die nächste Ecke, dass John die Nummernschilder nicht mehr lesen konnte. Smith dagegen lag mit seltsam verdrehten Gliedern auf dem Boden. Um seinen Körper herum breitete sich bereits eine Blutlache aus. Seine Augen schauten leer und tot in den Himmel.