58. Kapitel: Unity
U
nity hatte einen schalen Geschmack im Mund. Das war das Erste, was sie wahrnahm, als sie aus der tiefen Ohnmacht erwachte. Auch ihr Kopf schmerzte. Ein unangenehmes Stechen hinter den Augen. Sie verspürte den Impuls, von außen mit den Fingern gegen die Augäpfel zu drücken, und wollte ihre Hände schon zum Kopf bewegen, doch das ging nicht. Sie waren aneinandergefesselt. Und zwar hinter ihrem Körper. Nun zwang sie sich doch, die Lider zu öffnen.
Sie befand sich in einer Halle oder einem größeren Schuppen und lag auf der Seite auf einem Bündel von Decken, den Kopf auf einem Holzscheit gebettet. Etwa drei Meter von ihr entfernt sah sie mehrere große Kartons stehen, die mit chinesischen Schriftzeichen bedruckt waren. Davor standen zwei Stühle. Auf einem davon saß eine Frau, der andere war leer. Die Frau hatte schwarzes, glänzendes, glattes Haar und eine asiatische Augenpartie. Unity hatte sie schon einmal gesehen.
„Juhu, unsere Pulitzer-Preisträgerin weilt wieder unter den Lebenden“, sagte die Frau.
Unity versuchte verzweifelt, ihr schmerzendes Hirn dazu zu bringen, ihr zu verraten, woher sie die Asiatin kannte.
„Haben Sie mich hierher verschleppt?“
Die Frage war irgendwie dämlich, aber ihr fiel kein anderer Gesprächsbeginn ein. Auf dem Gesicht der Frau erschien ein schmallippiges Lächeln. „Auch wenn ich nicht so aussehe, bin ich doch ziemlich athletisch. Ja, natürlich war ich das, wer sonst? Ich habe Sie allerdings nicht den ganzen Weg über auf der Schulter getragen. Mein Van hat gleich am Ende der Gasse geparkt, in der Sie mir in die Falle gegangen sind.“
„Was wollen Sie von mir?“
„Nun, zuerst einmal wollen wir Sie daran hindern, eine Dummheit zu begehen. Ihre Schnüffeleien sind nun an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr tatenlos nur zusehen konnten. Spätestens seitdem Ihr Informant überfahren wurde, wissen die Musketiere, dass Sie die Seiten gewechselt haben. Sie schweben in Gefahr. Und wir haben beschlossen, Sie erst einmal aus dem Schussfeld zu nehmen.“
Unity spürte, wie sich erneut Blitze in ihr Gehirn bohrten, als sie sich darüber klarzuwerden versuchte, wen die Frau wohl mit der Bezeichnung wir
gemeint hatte.
„Was wollen Sie von den Musketieren? Warum haben Sie das Gespräch belauscht?“
„Ich persönlich möchte, dass sie in der Hölle schmoren. Und ich kann Ihnen garantieren, dass – falls es die Hölle gibt – dort ein besonders ungemütlicher Fleck für die Drei reserviert ist.“
„Dann verstehe ich nicht, warum Sie mich aus dem Weg räumen wollen. Ich habe ein ähnliches Interesse.“
Die Frau lachte. Es hallte schaurig in der Halle wider.
„So ungeschickt, wie Sie das angestellt haben, wären Sie wahrscheinlich schneller selbst von einem Lieferwagen überfahren worden, als dass Sie einen der Drei auch nur in die Nähe des Gefängnisses gebracht hätten, in das sie gehören. Sie haben ein paar nette Fotos geschossen. Mehr auch nicht.“
„Nun, dafür haben Sie mit Ihrem Richtmikrofon alles aufgezeichnet, was die Drei besprochen haben. Oder etwa nicht?“
Die Frau nickte. „Leider enthält die Aufzeichnung keine definitiven Beweise dafür, dass die Drei ihren D’Artagnan umgebracht haben. Aber immerhin erfahren wir einiges über ihre Pläne. Hören Sie zu!“
Sie tippte auf das Display eines Tablets, das sie in ihrem Schoß liegen hatte. Blechern waren die Stimmen von drei Männern zu hören. Grimsons Bass erkannte sie sofort und auch die sonore Stimme von Fitzwilliam war ihr aus den Nachrichten bekannt. Dass Hamilton wie ein verschüchterter kleiner Junge klang, überraschte sie.
„Was soll das hier?“, fragte er. „Das ist doch viel zu riskant, dieses Treffen in aller Öffentlichkeit.“
„Mach dir mal nicht ins Hemd“, brummte Grimson. „Hier kennt uns keiner. Diese Falaffelgriller haben noch nie in ihrem Leben westliche Nachrichten gesehen.“
„Aber deine Sorge ist nicht ganz unbegründet, Aramis“, fügte Fitzwilliam hinzu. „Die Situation ist riskant. Wir mussten heute dafür sorgen, dass Graham Smith deinem lieben Praxiskollegen nicht brühwarm von unseren Unieskapaden erzählt.“
„Graham? Wie habt ihr …?“, fragte Hamilton.
„Das ist nebensächlich“, unterbrach ihn Fitzwilliam. „Bald wird das alles ohnehin keine Rolle mehr spielen. Wenn ich PM bin, werde ich andere Saiten in diesem Land aufziehen, das sage ich euch. Morgen Nachmittag wird der Parteivorstand mich zum PM ernennen. Porthos hat mir mit dieser Kinderpornogeschichte ja erfreulicherweise den Weg zum Amt freigeräumt. Das Einzige, was mich noch aufhalten könnte, wären irgendwelche dämlichen Enthüllungen. Leider ist das Problem Maddock noch nicht zufriedenstellend gelöst. Woran unser Freund Porthos nicht unschuldig ist. Sein kleiner Schmierfink entpuppt sich als Nestbeschmutzerin.“
„Ich konnte doch nicht ahnen, dass diese Tussi so viel Grips haben würde, selbständig zu recherchieren und sich mit diesem Seelenklempner zu verbünden.“
„Ja, dir hat es leider schon immer an Vorstellungskraft gefehlt. Egal, es gibt keine handfesten Beweise gegen uns. Die Patientenakte ist sauber. Kritisch ist nur dieses Tagebuch, das Maddock hinterlassen hat. Wir wissen nicht, was drinsteht.“
„Es enthält nur Träume von ihm“, meldete sich Hamilton zu Wort. „Er hätte nie gewagt, etwas zu hinterlassen, was dir schaden könnte, Athos, das weißt du ganz genau.“
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Bald werden wir wissen, was in dem Tagebuch steht.“
„Wie …?“
„Auch das lässt du bitte meine Sorge sein. Ich brauche nur eines: Keine Störung mehr, bis die Queen mir die Hand geschüttelt und mich zum PM gemacht hat. Habt ihr verstanden?“
Offenbar hatten die beiden genickt, denn keiner sagte ein Wort.
„Und was willst du jetzt von mir?“, fragte Hamilton nach einer Weile.
„Das kann ich dir verraten. Du wirst mich und Porthos nach Cornwall begleiten. Dort wirst du mein Gast sein, während ich an der Rede arbeite, mit der ich morgen die Marionetten im Parteivorstand tanzen lasse. Dann bist du aus dem Weg geräumt und kannst nicht wieder irgendwelchen Anwälten dämliche Auskünfte geben.“
„Und was, wenn ich mich weigere?“
„Einer für alle, alle für einen? Oder hast du schon vergessen, was dem lieben D’Artagnan zugestoßen ist?“
Die Frau tippte auf das Display.
„Ab hier wird es uninteressant.“
Unity ließ sich das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen.
„Reicht das nicht, um die drei des Mordes an Maddock oder an Smith zu beschuldigen?“
„Die Formulierungen waren sehr vorsichtig. Vor allem die meines ehemaligen Bosses.“
Mit einem Mal fiel es wie ein Schleier von Unitys Augen: „Sie sind Hamiltons Sekretärin.“
Sie nickte. „Gestatten, Linda Yang. Oder auch Planchet.“
Unity sah sie irritiert an.
„Ursprünglich hatte ich einen anderen Boss. Christopher Maddock. Er war D’Artagnan. Und ich seine Dienerin. Planchet. Die Musketiere hatten den Spleen, ihre persönlichen Assistenten nach Figuren aus dem Roman von Dumas zu benennen.“
„Sie haben sich einfach so als Dienerin bezeichnen lassen? Das ist herabwürdigend!“
Linda zuckte mit den Achseln. „Maddock war ein großartiger Chef. Ein toller, tiefsinniger und leider auch vom Leben ziemlich gebeutelter Mensch. Diese eine Marotte habe ich ihm gerne nachgesehen.“
„Wie lange haben Sie für ihn gearbeitet?“
„Vier Jahre. Ich habe Informatik studiert und Maddocks Agent hat mich angeheuert, seine Homepage zu programmieren. Er war selbst darin involviert, hatte viele gute Ideen und als die Website online war, hat er mir angeboten, für ihn zu arbeiten. Ich habe erst nach ein paar Monaten begriffen, was das bedeutete.“
„Was denn?“
„Nun, ich war tatsächlich seine Leibdienerin. Ich habe mich rund um die Uhr um ihn gekümmert. Das war oft spannend, manchmal aber auch anstrengend. Vor allem, wenn er mal wieder gesoffen hatte. Aber ich will nicht schlecht über ihn reden. Er war ein großartiger Mensch und was die anderen ihm angetan haben, hat er nicht verdient.“
„Wie kam es dazu, dass Sie bei Hamilton als Sekretärin angeheuert haben?“
„Nun, Maddock hat es mir aufgetragen. Als er die Psychotherapie bei Burgess begonnen hat. Er wollte, dass ich seinen Therapeuten im Auge behalte und gleichzeitig Hamilton im Blick habe. Er hat ihm nicht getraut und das zurecht.“
„Kannte Hamilton Sie denn nicht?“
Sie grinste. „Ich war meinem Herrn eine sehr diskrete Dienerin. Keiner der drei anderen Musketiere dürfte geahnt haben, dass Maddock überhaupt einen Planchet hatte.“
„Hatte denn jeder der vier einen Diener?“
„Hamilton konnte sich keinen leisten. Fitzwilliam hat Stevens und möglicherweise noch andere Handlanger. Und die Diener, die Grimson hatte, dürften inzwischen in die Dutzende gehen. Bei dem bleibt keiner allzu lange. Nicht wahr?“
Sie hatte die Frage in den Raum geworfen und Unity war kurz irritiert. Sollte sie etwa darauf antworten? Doch dann hörte sie Schritte in der anderen Ecke der Halle. Eine große Gestalt kam in ihr Blickfeld. Der Mann deutete eine kleine Verbeugung vor Linda Yang an. Unity konnte sein Gesicht nicht erkennen. Doch dann drehte er sich um und wandte sich ihr zu. Sie erstarrte vor Schreck und Unglauben. Es war Marc.