59. Kapitel: John
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ie Beamten brachten John in ein Verhörzimmer. In dem ansonsten vollständig kahlen Raum stand lediglich ein Tisch mit drei Stühlen, zwei an einer, einer an der gegenüberliegenden Seite. An der Wand hing eine analoge Uhr. Der Sekundenzeiger gab mit jedem Sprung ein metallisches Klicken von sich. Es war 02:27 Uhr. John wurde mit einem Mal bewusst, wie müde und erschöpft er war. Sein Kopf fühlte sich an, als ob eine irische Volkstanzgruppe eine Aufführung darin veranstaltete. Er konnte kaum die Augen offenhalten, so sehr schmerzte ihn das Licht der Leuchtstoffröhren. Der gestrige Tag war furchtbar anstrengend gewesen und er hatte keine Zeit gefunden, sich auszuruhen und der Migräneattacke Gelegenheit zu geben, abzuklingen.
Eine Polizeibeamtin mittleren Alters trat ein. Stevens folgte ihr. Er trug noch immer die Wollmütze. Die Polizistin stellte sich als DI Matlock vor und nahm John gegenüber Platz. Ihr im Vergleich zu Stevens niedrigerer Rang ernüchterte John. Konnte er sich viel von ihr erwarten?
Sie erledigte zunächst einmal die Formalitäten, nahm Johns Personalien auf und klärte ihn über die Art der Vernehmung und seine Rechte auf. „Sie können jederzeit einen Anwalt hinzuziehen“, sagte sie abschließend. „Und das würde ich Ihnen auch raten. Sie sitzen ganz schön in der Klemme.“
„Mein Anwalt ist vor einer Stunde verstorben“, sagte John mit eisiger Stimme. „Und dass ich ganz schön in der Klemme sitzen soll, ist wohl eine ziemliche Untertreibung.“
„Sir Edmund Hathaway war Ihr Anwalt?“, fragte Matlock. Sie klang erstaunt. Offenbar hatte sie bislang nicht allzuviel über John in Erfahrung bringen können. Auch das beunruhigte ihn. Stevens hatte genügend Zeit gehabt, sie dementsprechend zu briefen. Dass er ihr Informationen vorenthielt, ließ Übles erahnen.
„Ja, er hat mich vorgestern noch vor Gericht vertreten“, erwiderte John.
„Und jetzt ist er tot“, sagte Stevens. Er schaltete sich zum ersten Mal in die Vernehmung ein. „Und Sie sitzen hier.“
„Ja, so ist das“, entgegnete John mit mühsam unterdrücktem Zorn. „Aber ich habe keine Ahnung, warum.“
„Nun, darüber kann ich Sie ganz einfach aufklären. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie Sir Edmund getötet haben.“
John riss die Augen weit auf, was das Pochen in seinem Kopf jedoch umgehend anschwellen ließ.
„Ich? Wie kommen Sie denn darauf? Das ist absurd.“
Anstelle einer Antwort holte DI Matlock eine Plastiktüte aus ihrer Jackentasche hervor und legte sie vor John auf den Tisch. Er erkannte den rechteckigen Gegenstand sofort wieder.
„Das ist meine Kreditkarte!“, rief er.
„Schön, dann nehmen wir zu Protokoll, dass Sie den Gegenstand als Ihnen gehörend identifiziert haben“, sagte Stevens.
„Wo haben Sie die gefunden?“, fragte John. Erneut schwante ihm Übles.
„Am Tatort“, sagte DI Matlock. „Neben dem schwerverwundeten Sir Edmund.“
„Und wie soll die Karte an den Tatort gekommen sein?“, fragte John.
„Nun, wir hatten gehofft, dass Sie uns bei dieser interessanten Frage weiterhelfen können“, sagte Stevens. „Wie kommt Ihre Kreditkarte an den Tatort?“
„Ich habe keine Ahnung“, sagte John. „Ich habe sie seit gestern vermisst.“
„Wie praktisch“, höhnte Stevens.
„Ich kann beweisen, dass ich die Karte verloren habe“, sagte John. Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss. „Ich habe die Karte sperren lassen.“
„Das ist kein Beweis dafür, dass sie Ihnen auch tatsächlich abhandengekommen ist“, gab Matlock zu bedenken. John lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust.
„Worauf wollen Sie hinaus?“, fragte er.
„Nun, wir haben einen Toten. Ein weiterer Mensch, der es mit Ihnen zu tun bekommt, ist tot. Genauer gesagt, ein weiterer Ihrer Klienten“, sagte Stevens.
„Sir Edmund war nicht mehr mein Klient.“
„Wie lange schon?“
„Seit vorgestern.“
„Interessant. Nun, dann korrigiere ich mich. Einer Ihrer Klienten und ein Ex-Klient von Ihnen sind tot. Der eine stirbt durch Suizid, der andere bei einem scheinbaren Raubüberfall.“
„Warum scheinbar?“
„Die Fragen stellen wir“, herrschte ihn Stevens an.
„Und ich entscheide, ob ich Ihnen antworte. Aber antworten werde ich nur auf Fragen, deren Hintergrund ich verstehen kann. Also, warum scheinbar?“
„Soweit wir es beurteilen können, wurde nichts aus dem Cottage gestohlen“, sagte Matlock. Sie warf Stevens einen Seitenblick zu, in dem John eine Spur Unbehagen zu entdecken glaubte.
„Hm, meine Tochter fehlt. Haben Sie die denn inzwischen gefunden?“, erwiderte John. Der Gedanke an Poppy steigerte seine Unruhe erneut.
„Wir haben eine großräumige Suche eingeleitet“, sagte Matlock. „Aber kommen wir doch noch einmal auf Sir Edmund zurück. Warum hat er sich so plötzlich nach Cornwall zurückgezogen? Und warum war Ihre Tochter bei ihm?“
John atmete tief durch. Wieviel konnte er preisgeben?
„Sir Edmund war gesundheitlich angeschlagen. Er wollte sich das Wochenende über in Cornwall erholen. Er hat darum gebeten, dass meine Tochter ihn begleitet. Sie kamen gut miteinander aus, er und Poppy.“
„Lassen Sie mich das noch einmal klarstellen. Sie geben Ihre minderjährige Tochter einem schwer psychisch kranken ehemaligen Klienten über das Wochenende mit? Das ist ein Grad von Unverantwortlichkeit, wie ich ihn noch nie gesehen habe“, grunzte Stevens.
John schüttelte den Kopf. „Dass Sir Edmund schwerkrank war, steht außer Frage. Aber er war gleichzeitig einer der vertrauenswürdigsten Menschen, die ich je kennenlernen durfte. Poppy war gut bei ihm aufgehoben, da war ich mir sicher. Ich konnte ja nicht ahnen, dass die langen Finger der Musketiere bis Cornwall reichen.“
Er meinte, ein kurzes Aufblitzen in Stevens Augen gesehen zu haben. John hatte beschlossen, nun selbst in den Angriffsmodus überzugehen.
„Was meinen Sie damit?“, fragte Matlock.
„Fragen Sie doch DCI Stevens. Vielleicht kann er Ihnen dann auch erklären, was er zu nachtschlafender Zeit in Cornwall treibt, wo er sich doch eigentlich um die Verbrecherjagd in London kümmern sollte. Das wirft Fragen auf.“
Die Polizistin wirkte verunsichert, sie schaute Stevens an, der sich zurücklehnte und die Hände auf dem durchtrainierten Bauch verschränkte.
„Ich werde Ihnen ganz bestimmt keine Rechenschaft über dienstliche Belange geben“, sagte er. „Und Ihr Geschwätz von irgendwelchen Verschwörungstheorien können Sie sich sparen. Sie sind für den Tod von Christopher Maddock verantwortlich und das werden wir Ihnen nachweisen. Wir haben Indizien …“
Er kam nicht weiter, denn in diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Ein Polizist steckte seinen Kopf herein und kündigte an, dass draußen eine Frau warte, die eine Aussage machen wolle. Ob das Poppy war? Doch dann führte der Mann auf Matlocks Geheiß Lady Hathaway in das Verhörzimmer. Sie war bleich, aber gefasst.
„Ich habe gehört, dass Sie Dr. Burgess verhaftet haben, weil er meinen Sohn getötet haben soll.“
„Das ist korrekt, Madam“, sagte Matlock.
„Das ist Humbug“, erwiderte Lady Hathaway kalt. „Er kann meinen Sohn nicht getötet haben.“
„Wir haben Indizien am Tatort gefunden, die …“
„Schwachsinn. Bringt man Ihnen auf der Polizeischule denn nicht bei, dass ein Alibi Indizien jederzeit übertrumpft? Als ich den Anruf bekam, dass mein Sohn überfallen worden sei, war ich in London. Genauso wie Dr. Burgess, den ich zehn Minuten später vor einem Pub in Knightsbridge aufgegabelt habe. Da er meines Wissens nicht die Gabe der Bilokation besitzt, kann er zum Tatzeitpunkt nicht in Cornwall gewesen sein.“
Matlock wechselte einen Blick mit Stevens. Der zuckte mit den Achseln und studierte mit wachsendem Interesse einen Punkt auf dem Tisch vor ihm.
„Nun, wenn das so ist, dann …“
„Dann gehen wir jetzt“, sagte Lady Hathaway und winkte John zu sich.
Matlock wollte protestieren, doch da war die resolute Dame schon aus dem Verhörzimmer gehumpelt. John folgte ihr. Sie durchquerten eine kleine Vorhalle und waren beinahe am Ausgang, als John seinen Namen rufen hörte. Er wandte sich um und sah sich Stevens gegenüber.
„So einfach werden Sie nicht davonkommen“, sagte der Inspektor. Sein Gesicht war gerötet und seine Augen glühten vor Zorn.
„Warum, wollen Sie mich auch aus dem Weg räumen? So wie Christopher Maddock und Sir Edmund?“
Stevens Kiefer verspannten sich. Einen Augenblick lang hatte John Sorge, der Polizist könnte ausholen und ihn schlagen, doch er bekam sich rasch wieder in den Griff.
„Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich hier anlegen“, zischte Stevens so leise, dass die schwerhörige Lady Hathaway es genausowenig mitbekommen konnte, wie die Beamtin, die in ein paar Metern Entfernung die Szene mitverfolgte. „Sie haben noch einmal Glück gehabt, dass die Alte sie rausgehauen hat. Aber ab jetzt ist Schluss mit lustig. Sie werden sich schön aus der ganzen Sache raushalten.“
„Und warum sollte ich das tun?“, fragte John. Das war beinahe eine Art Schuldeingeständnis von Stevens gewesen. Er lag also richtig mit seiner Vermutung, dass er Fitzwilliams Mann fürs Grobe war, der an den Vertuschungen und den Toden von Maddock und Hathaway beteiligt gewesen war.
„Weil Sie Ihre Tochter doch sicher heil wieder in die Arme schließen wollen. Oder etwa nicht?“
Stevens bedachte John mit einem teuflischen Grinsen. Dann wandte er sich um und ging davon. John stand da und starrte ihm nach, gelähmt von Wut und Sorge.