63. Kapitel: Unity
A
m liebsten hätte Unity Marc und Linda an eine Leine gelegt. Sie saß mit den beiden in der Tube auf dem Weg nach Hampstead. Zwar hatten sie zugesagt, bei der Polizei umfassend auszusagen, aber glücklich wirkten sie nicht damit. Sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Was dachten die zwei eigentlich? Sie wollten ihren ehemaligen Herren schaden, aber am besten so, dass keiner mitbekam, dass sie dahintersteckten.
Natürlich konnte sie das nachvollziehen. Es war gefährlich. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was die beiden ihr erzählt hatten, waren sie alle in Lebensgefahr. Für seinen Ehrgeiz, Premierminister zu werden, hatte Fitzwilliam einen seiner ältesten Freunde geopfert. Und sie selbst hatte mitansehen müssen, wie ihr Informant von einem Van überfahren wurde. Das war kein Spaß. Das war eine todernste Situation. Ihre Gegner waren skrupellos und zum Äußersten entschlossen. Und sie verfügten über enorme Macht und die Mittel, diese durchzusetzen.
Sie hatten doch noch fast eine Stunde lang diskutiert, ob sie sich überhaupt an die Polizei wenden sollten. Linda hatte das nicht von der Hand zu weisende Argument vorgebracht, dass möglicherweise ein Großteil der Beamten für die Musketiere arbeitete. Sie konnten sich also vom Regen in die Traufe bringen, wenn sie sich den Handlangern ihrer Gegner auslieferten. Aber sie hatten keine andere Wahl. Die Zeit war zu knapp. Heute musste etwas geschehen, denn ansonsten war nicht mehr zu verhindern, dass Fitzwilliam zum Premierminister gekürt wurde.
Daher hatten sie beschlossen, sich an die einzige Polizistin zu wenden, die sie für vertrauenswürdig hielten. DS Mallory. Linda hatte herausgefunden – wie genau wusste Unity nicht und im Grunde genommen wollte sie auch gar nicht wissen wie –, dass die Polizistin am Vormittag Dienst in Hampstead tat.
Der Zug hielt an der Haltestelle und Unity erhob sich. Ihre beiden Begleiter wechselten einen skeptischen Blick und sie befürchtete schon, dass sie einfach sitzen bleiben würden. Doch dann erhoben sie sich und stiegen gemeinsam aus.
Vor dem Polizeirevier kam es zu einer ähnlichen Szene. Lindas ansonsten so makellos unbewegte Züge entgleisten ein wenig. Sie sah aus wie ein Vampir, den man zwang, eine Kirche zu betreten und zuvor ausgiebig in Weihwasser zu baden. Unity hielt die Tür auf und ihre Begleiter traten ein. Am Schalter erkundigte sie sich nach Mallory. Die diensthabende Beamtin fragte, was denn ihr Anliegen sei, doch sie beharrte darauf, dass sie das nur mit Mallory persönlich besprechen könne.
Sie nahmen auf unbequemen Plastikschalen im Wartebereich Platz. Marc kaute nervös an seinen Fingernägeln. Auch ihm war die Anspannung anzumerken. Doch da musste er durch. Mitgefangenen mitgehangen. Nach endlosen Minuten öffnete sich endlich eine Tür und Mallory erschien.
Unity erhob sich.
„Worum geht es?“, fragte die Polizistin.
„Können wir das in Ihrem Büro besprechen?“
Mallory musterte sie misstrauisch. „Können Sie mir wenigstens einen Tipp geben, worum es geht? Wenn Sie vor drei Tagen im Supermarkt nebenan ihren Geldbeutel verloren haben, bin ich nämlich nicht die richtige Ansprechperson.“
„Es geht um den Tod von Christopher Maddock.“
Die Worte erwiesen sich als Schlüssel für Mallorys ungeteilte Aufmerksamkeit. Auf dem Gesicht der Polizistin vollzog sich eine bemerkenswerte Veränderung. Sie wirkte mit einem Mal nicht mehr genervt, sondern hochkonzentriert.
„Kommen Sie mit!“
Sie führte sie in den hinteren Bereich des Reviers. Viele der Tische in dem Großraumbüro, das sie durchschritten, waren verwaist. Nun, es war ja auch Sonntagvormittag. Mallorys Büro war klein. Überall stapelten sich Akten. Sie musste zwei Stühle aus einem Nachbarraum holen, damit alle Platz fanden.
„Also gut, es geht um den Tod von Christopher Maddock. Stehen Sie in irgendeiner Verbindung zu Dr. Burgess?“
„Ja“, antworteten Unity und Linda unisono.
„Der Reihe nach bitte.“
Unity ließ Linda den Vortritt.
„Ich war – bin … keine Ahnung – Sekretärin in der Praxis Burgess/Hamilton.“
In Mallorys Augen blitzte es kurz auf.
„Stimmt, daher kenne ich Sie. Wir haben uns kurz gesprochen, als wir diesen Einbruch aufgenommen haben.“
„Und davor war ich Christopher Maddocks persönliche Assistentin“, fuhr Linda fort.
„Sie waren was?“
„Maddocks persönliche Assistentin.“
Mallory schüttelte ungläubig den Kopf. „Und wie sind Sie dann an den Job in der Praxis gekommen?“
Linda erzählte ihre Geschichte. Die Polizistin unterbrach sie nicht, sondern ließ sie gewähren. Als sie fertig war, sah sie Unity an. „Das ist eine der abenteuerlichsten Storys, die mir jemals untergekommen ist. Aber ich vermute, dass das nicht die letzte Geschichte ist, die ich hören werde, oder?“
Unity schüttelte den Kopf und berichtete alles, was sie seit vergangenem Montag erlebt hatte. Als sie fertig war, gab sie das Wort an Marc weiter, der ihren Bericht bestätigte und seine eigenen Erlebnisse ergänzte.
Danach entstand eine lange Pause, in der Mallory den Blick zwischen den Dreien wandern ließ.
„Dass ich das alles richtig verstanden habe. Sie beschuldigen also den, aller Wahrscheinlichkeit nach, zukünftigen Premierminister dieses Landes, den Chefredakteur einer der auflagenstärksten Zeitungen und einen angesehenen Psychotherapeuten, dass diese mithilfe eines meiner Kollegen Christopher Maddock aus dem Weg geräumt haben, weil dieser von einer Straftat wusste, die die Vier zu Studienzeiten gemeinschaftlich begangen haben?“
Unity, Marc und Linda nickten unisono. Unity registrierte zufrieden, dass ihre Begleiter nach ihren Geständnissen deutlich entspannter wirkten. Sie hatten ihren Teil glaubhaft kommuniziert und das hatte Mallory sichtlich beeindruckt.
„Haben Sie Beweise dafür?“
„Indizien“, sagte Linda und reichte Mallory den USB-Stick, auf den sie die Daten aus Grimsons und Hamiltons Computern überspielt hatte.
„Was ist das?“
„Das sind Auszüge aus den Terminkalendern von Grimson und Hamilton, die belegen, dass die beiden sich am Abend von Maddocks Tod mit diesem getroffen haben. Außerdem E-Mails, die danach zwischen Hamilton und Grimson hin- und hergegangen sind und die belegen, dass massive Vertuschungsversuche unternommen wurden.“
„Woher haben Sie die Dokumente?“
„Ich habe mir Zugang zu den Computern von Hamilton und Grimson verschafft.“
„Ihnen ist bewusst, dass das illegal ist? Das wird mir der Staatsanwalt um die Ohren hauen.“
„Schauen Sie sich die Daten erst einmal an.“
Mallory zögerte einen Moment, doch dann steckte sie den Stick in ihren PC und rief die Dateien auf. Während sie sich durch die E-Mails und Kalendereinträge wühlte, hielt es Unity vor Anspannung kaum mehr auf ihrem Platz. Schließlich hob die Polizistin den Blick.
„Das ist …“, Mallory rang nach Worten. „Das ist ein Skandal. Burgess hatte also recht mit seinen Vermutungen. Ich muss das meinem Vorgesetzten melden. Bleiben Sie bitte hier.“
Ihr Gesicht war aschfahl geworden. Sie wankte aus dem Büro.
„Das gefällt mir nicht“, sagte Linda. Sie wirkte nervös und kaute auf ihrer Unterlippe herum.
„Das ist das Standardvorgehen“, beruhigte Marc sie. „Sie kann gar nicht anders. Nur der Revierleiter wird weitergehende Schritte einleiten können.“
„Trotzdem gehe ich auf Nummer sicher“, sagte Linda. Sie ging zum Schreibtisch und trennte die Verbindung des USB Stick, ehe sie ihn abzog und in ihre Tasche steckte. Dann nahm sie wieder Platz. Unity verspürte Lust, eine Zigarette zu rauchen. Sie kannte den Gedanken. Er trat in Zeiten von großem Stress auf. Dabei war sie schon immer Nichtraucherin gewesen.
Ihre Gedanken wurden von der zurückkehrenden DS Mallory unterbrochen. Ihr zuvor bleiches Gesicht war nun gerötet.
„Sie müssen so schnell wie möglich verschwinden“, sagte sie.
Unity tauschte einen entsetzten Blick mit Marc und Linda.
„Was?“, riefen die Drei wie aus einem Mund.
„Ich habe dem Superintendent von Ihren Anschuldigungen berichtet. Er hat mich sofort angewiesen, Sie zu verhaften.“
„Dann sitzen wir in der Falle“, sagte Unity.
„Ich habe es doch gesagt, es war ein Fehler, hierherzukommen“, knurrte Linda.
„Nun, ich kann Sie nicht verhaften, wenn ich Sie bei meiner Rückkehr nicht mehr in meinem Büro angetroffen habe“, sagte Mallory.
Unity starrte sie mit weitaufgerissenen Augen an.
„Sie … Sie lassen uns gehen?“
„Ich glaube Ihnen. Sie müssen handeln. Aber auf die Hilfe der Polizei können Sie nicht rechnen. Zumindest nicht auf die Hilfe der oberen Ränge. Ich brauche Beweise. Durchschlagende Beweise. Besorgen Sie die und melden Sie sich bei mir.“
„Aber …“
„Kein aber. Verschwinden Sie! Ich gehe kurz auf die Toilette und wenn ich wiederkomme, sind Sie verschwunden, okay.“
Sie ließen sich das nicht zweimal sagen. Kaum war Mallory aus dem Zimmer, durchquerten sie das Großraumbüro und den Vorraum. Die Frau am Schalter warf ihnen einen prüfenden Blick zu und Unity befürchtete schon, dass sie eingeweiht war und gleich den Ausgang automatisch abriegeln würde, doch sie kamen unbehelligt bis zur Straße.
Linda führte sie in eine Nebenstraße und durch drei weitere Gässchen, bis sie vor einem kleinen Park standen.
„Und jetzt?“, fragte Unity.
Linda schnaubte.
„So eine Scheiße!“, rief sie.
„Fluchen bringt uns jetzt auch nicht weiter“, sagte Marc.
„So, Herr Neunmalklug. Was bringt uns denn jetzt weiter? Es ist aus. Die werden nach uns fahnden. So eine verdammte Scheiße!“
Unity schüttelte den Kopf. „Wir haben immer noch eine Chance.“
Linda sah sie skeptisch an. „Was für eine Chance?“
„Wir müssen das Video holen, das du versteckt hast.“
„Und wie sollen wir das anstellen? Ich habe das Teil in Cornwall vergraben. Wir haben nicht die Zeit, da hinzufahren. Bis wir wieder zurück sind, ist Fitzwilliam Premierminister und hat alle Mittel, uns endgültig zum Schweigen zu bringen.“
Unity zog ihr Handy aus der Tasche.
„Lass das mal meine Sorge sein.“