67. Kapitel: John
J
ohn erwachte mit einem metallischen Geschmack im Mund. Doch diese Empfindung wurde gleich darauf von einem Dröhnen überlagert, das seinen ganzen Kopf erfüllte. Es hatte seinen Ursprung in einer Stelle an der linken Schläfe, die sich anfühlte wie ein rohes, frisch aufgeschlagenes Ei. Das war keine Migräne. Es war schlimmer. Eine unangenehme Wärme strömte von der Stelle aus durch seinen Schädel, stach ihn in die Augen und ließ die an der Kopfhaut anliegenden Muskeln verkrampfen.
Er hielt die Lider geschlossen und versuchte, die Pein wegzuatmen, so wie er es schon ganz oft mit seinen Schmerzpatienten besprochen hatte. Er sog die Luft durch die Nase ein und stellte sich vor, dass der Luftstrom von dem Punkt hinter seinen Augen, von dem aus er nach unten in den Rachen sinken sollte, stattdessen nach oben strömte, in seinen Schädel hinein, geradewegs in den Ursprung seiner Schmerzen an der linken Seite der Schläfe. Dass der Atem sich dort sammelte, die Qual aufsog und sie mit sich nahm, wenn er durch den Mund wieder ausströmte.
Viele Patienten empfanden diese Übung als hilfreich. Nur John spürte keine Erleichterung. Das Pulsieren war zu stark, als dass er es durch eine Vorstellungsübung hätte überlisten können. Er verspürte den Drang, eine Hand an die schmerzende Stelle zu legen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Etwas zerrte an seinen Handgelenken. Er riskierte nun doch einen Blick und stellte fest, dass nicht etwas grob an seinen Handgelenken zerrte, sondern dass vielmehr seine Handgelenke an etwas zerrten. Sie waren aneinandergefesselt. Und zwar hinter seinem Rücken. Er wollte aufstehen, doch auch das gelang ihm nicht. Wieder zerrte etwas an ihm, dieses Mal an den Beinen und der Hüfte.
Er ließ den Blick nach unten schweifen und stellte fest, dass seine Fußgelenke mit Kabelbindern an den Stuhlbeinen fixiert waren. John hob den Kopf, was eine erneute Schmerzwelle durch seinen Schädel jagte. Er befand sich in einem Raum mit hohen Decken aber kahlen Wänden. Es war dunkel und kühl. Der Boden war mit groben Fließen bedeckt. Durch zwei kleine Fenster fiel ein wenig Tageslicht. Die Mauern waren so dick, wie Johns Arme lang waren. Und sie waren gewölbt, umfingen ihn wie die Schale eines Eis.
Er hörte ein Geräusch hinter sich. Ein metallisches Klirren, dann ein Knirschen und ein Schieben. Schließlich ein Quietschen. Ein Luftzug traf ihn in den Rücken. Die Kälte ließ ihn erschaudern und jagte ihm eine Gänsehaut über den Körper. Zwei lange Schatten fielen auf den Fliesenboden. Sie kamen näher. John wollte den Kopf wenden, doch der sofort wieder einsetzende Schmerz ließ ihn fluchend zurückzucken.
„Na, Herr Doktor, wir werden doch nicht unsere Contenance verlieren“, hörte er eine der beiden Gestalten sagen, die eben eingetreten waren. Er sah auf. Der Mann stand vor ihm. Es war Sir Fitzwilliam. Sein hochgewachsener Begleiter musterte John mit abschätziger Miene. Er trug eine schwarze Wollmütze.
„DI Stevens.“
„Ja, der Herr Inspektor geht mir hier bei Sicherheitsfragen ein wenig zur Hand“, sagte der Innenminister in einem lässigen Plauderton.
„Wo ist meine Tochter?“, fragte John.
Fitzwilliam zog eine Augenbraue nach oben. „Ich glaube, Sie schätzen die Situation falsch ein, Herr Doktor. Die Fragen stelle ich und nicht Sie.“
John starrte ihn ungläubig an. In was war er denn hier geraten? Er fühlte sich an einen dieser frühen Bondfilme erinnert, in denen der Superspion in auswegloser Situation gefesselt vor dem Schurken sitzt und dessen höhnisches Spotten aushalten muss, ehe er sich durch eine wundersame Wendung befreien kann. Nur, dass John Burgess der Initialengleichheit zum Trotz kein James Bond war.
„Also“, fuhr Fitzwilliam fort. „Was hatten Sie auf meinem Grundstück zu suchen?“
„Meine Tochter“, gab John zurück.
„Hm, haben Sie sie gefunden?“, fragte Fitzwilliam. Ein höhnisches Lächeln umspielte seine Lippen.
„Nein, bevor ich sie finden konnte, hat mich Ihr Gorilla hier niedergeschlagen.“
Der frostige Blick des Polizeibeamten wurde noch eine Spur kälter.
„Nun, ich denke, DI Stevens wird das möglicherweise ganz anders beschreiben. Er hat einen widerrechtlichen Eindringling daran gehindert, meine Privatsphäre zu verletzen.“
„Dazu hätte er mir nicht beinahe den Schädel einschlagen müssen“, knurrte John.
„Nun dramatisieren Sie das mal nicht so“, sagte Fitzwilliam. Er klang nun eine Spur unfreundlicher und auch ungeduldiger.
„Ich dramatisiere gar nichts. Ich will nur meine Tochter zurück.“
„Und warum sollte ich Ihre Tochter in meine Gewalt gebracht haben?“, fragte Fitzwilliam. Er ging vor John auf und ab.
„Naja, nachdem Sie Sir Edmund aus dem Weg geräumt haben, wollten Sie vielleicht noch eine Zeugin verschwinden lassen.“
„Sir Edmund Hathaway ist tot?“, fragte Fitzwilliam. Er blieb stehen und starrte John an. Dann warf er Stevens einen kurzen Blick zu, der diesen einen Wimpernschlag lang aus der Fassung zu bringen schien, denn er blinzelte zweimal anstatt einmal.
„Ja, ermordet von Ihren Leuten. Ein hoher Preis für das Vertuschen einer inzwischen schon verjährten Straftat, finden Sie nicht?“
Nun trat etwas Neues in Fitzwilliams Blick, etwas das John zunächst zurückzucken ließ, dann jedoch ein warmes Gefühl der Zufriedenheit durch seinen Körper strömen ließ. Es war Zorn.
„Sie haben keine Ahnung“, knurrte Fitzwilliam.
„Allerdings, da haben Sie recht“, entgegnete John. „Ich habe keine Ahnung, wie es sich anfühlt, als einer von vier Upper-Class Jungs ein Mädchen zu vergewaltigen und mich so wahnsinnig cool und überlegen zu halten, dass ich meinen hochwohlgeborenen Schwanz nicht in der Hose behalten konnte.“
John sah den Schlag kommen, doch er konnte nicht ausweichen. Fitzwilliams Hand traf ihn klatschend auf die Wange. Die Wucht der Ohrfeige schleuderte seinen Kopf zur Seite, was den Schmerz an der Schläfe heiß aufflammen ließ.
„Halten Sie den Mund!“, rief Fitzwilliam. Seine Züge waren verzerrt, die Zähne zusammengebissen. Speichel tropfte ihm aus den Mundwinkeln. Er sah aus wie ein Dobermann, der bereit zum Angriff war.
„Ich habe viel zu lange den Mund gehalten“, sagte John in einem ihm unerklärlichen Anflug von Wagemut. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie das jetzt noch geheimhalten können.“
„Wenn Sie damit an die Öffentlichkeit gehen, werde ich Ihre Tochter eigenhändig töten“, knurrte Fitzwilliam. „Das verspreche ich Ihnen.“
Eine eiskalte Hand legte sich um Johns Kehle. „Lassen Sie meine Tochter aus dem Spiel“, knurrte er.
„Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie das Spiel begonnen haben.“
John verschlug es beinahe die Sprache. Er schnappte nach Luft. „Also … wissen Sie überhaupt, was für einen Mist Sie da reden?“, platzte es aus ihm heraus.
Fitzwilliam sah ihn mit großen Augen an. Offenbar hatte schon lange niemand mehr in diesem Ton mit ihm gesprochen. Er wollte etwas erwidern, doch aus John sprudelte es nun regelrecht heraus. „Glauben Sie, ich habe mir freiwillig ausgesucht, von Ihnen und Ihren Spießgesellen aufs Korn genommen zu werden?“, schrie er. „Ich hatte ein ruhiges Leben bis zu dem Tag, an dem Sie Christopher Maddock umgebracht haben. Danach ist die Hölle über mich hereingebrochen. Wie ich inzwischen weiß, waren Sie in dieser Hölle der Oberteufel. Sie haben Ihre Freunde Hamilton und Grimson dazu gebracht, auf ihre Weise gegen mich vorzugehen, der eine über die Anwaltskammer, der andere über sein Schmierenblatt. Und Sie haben mir einen korrupten Cop auf den Hals gejagt.“
Stevens trat einen Schritt vor und hob die Hand. John zuckte zurück, doch Fitzwilliam hielt den Arm des Inspektors fest, ehe dieser zuschlagen konnte.
„Sie haben meine berufliche Existenz und mein Leben bedroht. Aber ich sage Ihnen eins: Ich habe keine Lust mehr, darunter zu leiden. Lassen Sie mich in Ruhe! Lassen Sie meine Tochter in Ruhe! Ich habe nicht vor, mit meinem Wissen an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich will einfach nur meine Ruhe haben. Basta.“
Fitzwilliams Augen waren kleiner und kleiner geworden. John hätte den Rest seines Barvermögens dafür gegeben, zu erfahren, was sich im Kopf seines Widersachers abspielte. Doch der war ein zu gerissener Pokerspieler, um auch nur den Hauch eines Gedankens zu offenbaren.
„Heißt das, Sie wollen mir einen Deal vorschlagen?“, fragte er.
John nickte. „Sie geben mir meine Tochter wieder und dazu 150.000 £. Das dürfte den finanziellen Schaden, den Sie angerichtet haben, einigermaßen decken. Und ich werde kein Sterbenswörtchen von dem erzählen, was ich über Sie weiß.“
„Und wie wollen Sie mir das garantieren?“, fragte Fitzwilliam. Seine Miene hatte etwas Misstrauisches an sich.
John zuckte mit den Achseln. „Es gibt einen Weg, wie Sie sich meine absolute Verschwiegenheit sichern können.“
„Und der wäre?“, fragte Fitzwilliam.
„Nun, wenn Sie mir meine Tochter wiedergeben, werde ich mit Ihnen einen Behandlungsvertrag aufsetzen. Wir werden ihn um zwei Wochen rückdatieren und damit bin ich automatisch an die Schweigepflicht gebunden. Die dürfte ich nur brechen, wenn von Ihnen eine akute Fremdgefährdung ausgehen würde.“
Fitzwilliam leckte sich über die Lippen, was ihm erneut das Aussehen eines lauernden Dobermanns verlieh.
„Und Sir Edmunds Tod? Wie wollen Sie den erklären?“
John zuckte mit den Achseln. „Das ist nicht mein Bier. Dafür dürfen Sie sich eine Ausrede einfallen lassen. Ich will nur meine Tochter zurück. Das Tagebuch können Sie auch behalten. Dann ist der letzte Beweis für Ihre Beteiligung an der Vergewaltigung aus der Welt geschafft.“
Fitzwilliams Mund klappte nach unten und so sehr er sich auch bemühte, seinen Kiefer rasch wieder in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen, war John das nicht entgangen. Und in diesem Augenblick lichteten sich die Schleier. Fitzwilliam hatte das Tagebuch nicht. Dann aber hatte er auch Poppy nicht in den Händen. Sie war frei. John versuchte, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.
„Also, was sagen Sie zu meinem Vorschlag?“, fragte er.
Fitzwilliam sah ihn aufmerksam an. Dann erwiderte er: „Ich werde darüber nachdenken.“
Er winkte Stevens zu und die beiden verließen die Zelle.