70. Kapitel: Poppy
A ndrew stürmte aus dem Zimmer, den UBS-Stick in der Hand. Poppy schnappte sich ihren Rucksack und rannte ihm hinterher. Sie hörte ihn die Treppe hinunterpoltern und als sie selbst den Absatz erreicht hatte, sah sie ihn einen Gang entlangeilen. Was hatte er vor?
„Andrew!“, rief sie, doch er schien sie nicht zu hören.
Sie kamen in ein großes Treppenhaus, in dem ein prächtiger Kronleuchter unter einem riesigen Wandgemälde hing. Doch Poppy hatte keine Zeit, sich den Stuckdekorationen und den Vergoldungen zu widmen. Andrew nahm zwei Stufen gleichzeitig und war schon beinahe im ersten Stock angelangt. Als sie den oberen Absatz erreichte, war sie außer Atem. Sie sah, dass eine Tür offenstand. Da musste er hineingegangen sein. Sie schlüpfte hindurch und erstarrte.
Andrew stand einem Mann gegenüber, in dem sie sofort seinen Vater erkannte. Im Profil wirkte er noch mehr wie ein Dobermann. Er sah mit zusammengekniffenen Augen auf den USB-Stick, den sein Sohn ihm unter die Nase hielt. Hinter den beiden prasselte ein Feuer in einem riesigen Kamin.
„Ich habe jetzt keine Zeit, Andrew“, sagte er. „Ich muss gleich nach London aufbrechen und davor muss ich noch einmal kurz telefonieren.“
„Nein! Zuerst erklärst du mir, was es damit auf sich hat“, knurrte Andrew und fuchtelte mit dem USB-Stick vor dem Gesicht seines Vaters herum.
„Was ist das?“, hörte sie Fitzwilliam fragen. Dann wandte er sich Poppy zu. Seine kleinen Dobermannaugen musterten sie. „Und wer ist das?“
„Das hier ist ein USB-Stick“, sagte Andrew ungerührt. „Und das ist Elizabeth Burgess. Eine Freundin von mir.“
Auf dem Gesicht des PM in spe erschien ein wölfisches Grinsen. „Das trifft sich ja sehr gut“, sagte er. Er nickte Poppy zu. Plötzlich fühlte sie sich unter den Achseln gepackt und hochgehoben. Sie drehte den Kopf und entdeckte hinter sich einen weiteren Mann, der sie festhielt. Es war der Polizist, der Dad verhaftet hatte. Der musste in der Ecke des Raumes gestanden haben. Warum trug er mitten im Sommer eine Wollmütze?
„Lassen Sie mich los!“, schrie sie.
Andrew starrte verdutzt in ihre Richtung. „Was soll das? Lassen Sie Poppy los.“
Abrupt ließ der Mann sie fallen. Sie landete hart auf ihren Füßen. Gleichzeitig wurde ihr der Rucksack aus den Händen gerissen. Der Polizist legte ihn auf den Schreibtisch vor Fitzwilliam. Dann ging er zur anderen Seite des Büros, schloss die Tür und stellte sich mit dem Rücken davor.
„Warum lässt du zu, dass der so mit meiner Freundin umgeht?“
„So, das ist also deine Freundin“, sagte Fitzwilliam in einem leicht bedrohlichen Ton. „Interessant mit welch zwielichtigen Gestalten mein Sohn sich so herumtreibt.“
Poppy spürte, wie ihr der Kamm schwoll. „Also Sie haben es nötig, hier von zwielichtigen Gestalten zu sprechen. Sie sind ein Verbrecher!“, rief sie.
Sie hörte, wie der Mann hinter ihr einen Schritt auf sie zumachte und erwartete schon, dass er sie schlagen würde, doch Fitzwilliam hob die Hand.
„Ich bin mir nicht sicher, ob dir bewusst ist, mit wem du hier sprichst, junges Fräulein.“
„Das ist mir sehr wohl bewusst. Sie sind derjenige, der Sir Edmund Hathaways Schwester vergewaltigt und ermordet hat. Und Ihren Freund Christopher Maddock haben Sie umbringen lassen, als er Ihr Geheimnis zu verraten drohte. Und sicher stecken Sie auch hinter dem Einbruch, bei dem Sir Edmund getötet wurde.“
„Nun, das war jetzt nicht die Antwort, die ich erwartet hatte“, gab Fitzwilliam kühl zurück. Er wandte sich an seinen Sohn.
„Andrew, ich weiß nicht, wie du an dieses Mädchen da geraten bist. Aber du glaubst doch hoffentlich kein Wort von dem, was sie sich da zusammenfantasiert. Die ist nicht richtig im Kopf. Sie braucht dringend eine ärztliche Behandlung, das ist dir bewusst, oder?“
Andrew zitterte am ganzen Körper. Er hielt noch immer den USB-Stick in der Hand.
„Poppy ist nicht verrückt“, sagte er leise. „Ich habe gesehen, was du mit Maddock gemacht hast. Was er mit Maddock gemacht hat.“ Er deutete mit dem Kinn auf den Mann hinter Poppy.
„Was hast du gesehen?“, fragte Andrews Vater. Mit einem Mal war die kühle Überlegenheit einer vorsichtigen Aufmerksamkeit gewichen.
„Maddock hat alles mitgefilmt. Wie du ihn zum Tode verurteilt hast und wie dein Bluthund hier ihn aufgehängt hat. Es ist hier auf diesem Stick.“
Er hielt seinem Vater den USB-Stick unter die Nase.
Fitzwilliam starrte das Teil an. Dann traf sein Blick auf den Mann hinter Poppy. „Wie konnte das geschehen, Grimaud?“
„Das muss Planchet organisiert haben“, erwiderte der Polizist mit leiser Stimme. „Wer immer der auch war.“
„So eine Scheiße! So eine verdammte Scheiße!“, rief Fitzwilliam und knallte mit der Faust auf den Tisch. Dabei fiel sein Blick auf den Rucksack. Er nahm ihn und schüttete den Inhalt aus. Poppy Mund wurde trocken, als sie das Traumtagebuch mitten auf dem Tisch fallen sah.
„Was haben wir denn da?“, fragte Fitzwilliam. Er nahm das Tagebuch in die Hand und schlug es auf.
„Nun, da liefert mir die Tochter dieses Seelenklempners frei Haus, was du nicht aufzutreiben geschafft hast. Die wirren Träume unseres unglücklichen D’Artagnan.“
„Geben Sie das her“, sagte Poppy. „Das gehört Ihnen nicht. Und es geht Sie überhaupt nichts an, was da drin steht.“
„Dich geht es genauso wenig an“, sagte Fitzwilliam. „Dein Vater könnte nun auch noch wegen mangelnder Sorgfaltspflicht belangt werden. Vertrauliche Patientenunterlagen gehören nicht in die Hände von vierzehnjährigen Gören.“
„Ich bin fünfzehn!“
„Und ziemlich vorlaut. Aber es ist egal.“ Er drehte sich zum Kamin und warf das Tagebuch in die Flammen.
„Nein!“, riefen Poppy und Andrew gleichzeitig. Poppy wollte in das lodernde Feuer greifen, um das Buch, das bereits angesengt war, herauszuziehen. Doch Stevens hielt sie fest. Auch Andrew wollte Maddocks Aufzeichnungen retten, aber ihn hatte sein Vater am Handgelenk gepackt. Er nahm ihm den USB-Stick ab.
„Der ist im Feuer ebenfalls besser aufgehoben“, sagte Fitzwilliam und warf ihn auf das Buch, das bereits zu einem verkohlten, schwarzen Klumpen zusammengeschrumpft war. Der Geruch von verbranntem Plastik erfüllte den Raum. Poppy spürte, wie etwas in ihr brach. Es war alles vergebens gewesen. Wie hatte sie nur so dämlich sein können, Andrew in die Höhle des Löwen zu folgen? Das hatte sie jetzt davon. Ihre Beweise gegen die Musketiere waren zu Asche zerfallen. Sie hatten verloren.
„Ich muss jetzt los, der Hubschrauber steht bereit. In London wartet ein wichtiges Amt auf mich. Du bleibst hier, Andrew. Wenn ich zurückkomme, erkläre ich dir alles. Deine kleine Freundin werden wir währenddessen mit ihrem Vater wieder vereinen. Der wird sich sicher darüber freuen.“
Er gab Stevens ein Zeichen, der Poppy packte und sie aus dem Raum zog.