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Skylar

Drei Wochen später bin ich an meinem Lieblingsort. Na ja, einem davon.

Es handelt sich um eine Sephora-Filiale. Einen nach dem anderen nehme ich die Tester raus und probiere alle neuen Lippenstiftfarben aus. Mein Handrücken sieht langsam aus, als hätte ich einen merkwürdigen Ausschlag. Aber so was mache ich eben, wenn ich ein bisschen Trost brauche.

Ich komme gerade von einem Vorstellungsgespräch bei einem kleinen Sportsender in Lower Manhattan. Ich habe den Laden auf der Stelle gehasst. Der ist nur ein Abklatsch von New York News and Sports, bloß mit schlechteren Einschaltquoten und noch größeren Arschlöchern als Vorgesetzte.

Was noch schlimmer ist: Ich glaube, die werden mir den Job anbieten. Und ich habe keine Ahnung, was ich dann sagen soll.

Als Benito mich letzte Woche in den Zug nach New York gesetzt hat, hatte ich gerade eine Runde Vorstellungsgespräche in Vermont hinter mir. Tante Jenny – die im Augenblick hier in der Stadt ist – hatte mir meinen besten Hosenanzug und Pumps geschickt. Ich druckte einen Stapel Lebensläufe aus und verteilte sie in Burlington wie Blumensamen im Wind.

Bis jetzt habe ich jedoch kein Angebot bekommen. Ein paar Gespräche sind toll gelaufen, allerdings ist die Newsbranche dort echt klein. Es gibt gerade nirgendwo eine freie Stelle. Deswegen war ich gezwungenermaßen heute bei dem Sportsender und gehe morgen noch zu zwei weiteren Vorstellungsgesprächen hier in New York.

Es ist schön, dass ich eingeladen werde. Nach dem Exklusivbericht von der Drogenrazzia in Vermont (und nach meiner Penisgeschichte – ich schätze, ich werde nie wissen, was die größere Wirkung hatte) war es mit einem Mal leichter, von Producern und Redakteuren wahrgenommen zu werden.

Aber … Ich hatte wirklich gehofft, ich würde einen Job in Vermont angeboten bekommen. Benito möchte mich bei sich haben. Und ich möchte bei ihm sein. Aber ich brauche Arbeit. Wenn nicht in Vermont, dann hier.

Geld ist das Problem. Ich hab Rayanne geholfen, einen Anwalt zu finden, der sie in dem Fahrerfluchtfall vertritt. Es kann sein, dass die Anklage fallen gelassen wird oder dass das Strafmaß auf gemeinnützige Arbeit herabgesetzt wird.

Doch ihr Anwalt kostet über dreihundert Mäuse die Stunde. Außerdem habe ich ihr geholfen, die Kaution zu stellen.

Gerade ist nicht die beste Zeit, arbeitslos zu sein. Und – seien wir mal ehrlich – den Producern wird mein großer Knüller (und mein Penis) bloß zehn Sekunden in Erinnerung bleiben. Wenn ich jetzt keinen Job finde, gerate ich wieder in Vergessenheit.

In Vergessenheit zu geraten ist eigentlich angenehm, nur nicht, wenn man arm ist.

Nachdem ich noch einen Lippenstift rausgezogen habe (Farbton Pretty Petal!), probiere ich ihn auf der Hand aus. Ich werde heute nichts kaufen. Und auch in nächster Zeit nicht. Aber ich gehe eben zu Sephora, wenn ich das Bedürfnis habe, mich mit was Buntem, Schönem zu beschäftigen. Um es frei nach Audrey Hepburn zu sagen: Bei Sephora kann einem gar nichts Schlimmes passieren.

Hier kommt eine spaßige Randnotiz – es gibt in ganz Vermont nur einen Sephora. Und der ist in einem Kaufhaus. Da verlangt Benito was von mir, wenn er mich bittet, dorthin zu ziehen.

Und ich werd’s machen. Wirklich. Ich weiß nur noch nicht genau, wann.

In neun Tagen ist meine Miete fällig, was mir die Entscheidung noch erschwert. Obwohl meine Wohnung für New Yorker Verhältnisse ein Schnäppchen ist, kostet sie trotzdem einen Haufen Geld. Wenn ich noch eine Monatsmiete zahle, sind meine Ersparnisse hin.

Ich brauche einen Plan. Und zwar schnell. Entweder ich packe meine Sachen und teleportiere mich nach Vermont, wo ich dann kein Einkommen habe, oder ich versuche, hier einen Job zu ergattern, bis ich einen finde, der näher bei Benito ist.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Haben Sie Fragen?«

Als ich hochschaue, blickt mich eine umwerfende junge Afroamerikanerin an. Sie ist perfekt geschminkt und hat eine Schürze um, in der ungefähr dreißig verschiedene Make-up-Pinsel in verschiedenen Größen und Formen stecken.

Ein Teil von mir möchte fragen, ob sie gerade Leute einstellen.

»Nein, danke«, sage ich lächelnd. »Aber mir gefallen Ihre Wimpern sehr.« Sie glitzern dezent in Dunkelblau.

»Danke! Der Farbton nennt sich Midnight Sensation.«

»Den probiere ich mal aus.«

Werde ich in Wirklichkeit nicht. Und als sie weitergeht, um jemand anders zu beraten, schnappe ich mir ein Kosmetiktuch und wische meine Hand ab. Ich bin mit Tante Jenny in einem teuren Sushi-Restaurant verabredet, das ich mir eigentlich nicht leisten kann. Aber sie hat es vorgeschlagen. Und vielleicht besteht sie ja darauf, mich einzuladen, weil sie heute Abend wieder zurück nach Florida reist.

Es ist allerdings komisch, dass sie sich Sushi ausgesucht hat. Das ist nicht gerade Jennys Lieblingsessen.

Ich verlasse die Parfümerie, überquere die Straße und schlängele mich dann durch den Union Square Park. Es ist megavoll. Menschen über Menschen. Auf diese Menschenmassen könnte ich echt verzichten. Vor einem Monat habe ich Vermont für die Hölle auf Erden gehalten. Aber jetzt wächst es mir ans Herz. In Vermont rempelt einen niemand an.

Das Sushi-Restaurant liegt jedoch in einer ruhigen Straße. Ich gehe hinein und suche die Tische nach Jennys silbrigem Haar ab. Doch sie ist nicht hier.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt die Empfangsdame.

»Ein Tisch für zwei für Copeland?«

»Hier entlang.« Sie lächelt mich an und bedeutet mir, ihr von dem einen schicken Raum in den nächsten zu folgen. Wow, da hat Jenny aber ein cooles Restaurant ausgesucht. Wenn ich nicht pleite wäre, könnte es mir richtig gut gefallen.

Während ich an einer Teakholzwand entlanggehe, in die abstrakte Fische geschnitzt sind, überblicke ich die Köpfe der Gäste. Jennys silberner Haarschopf taucht nirgendwo auf. Doch als sich dann ein Mann auf seinem Stuhl herumdreht, schlägt mein Bauch einen Salto.

Benito. Er ist hier?

Lächelnd steht er auf. »Hi, Süße. Danke, dass du dich mit mir zum Mittagessen triffst.«

»Wie …?« Ich bin sprachlos. »Jenny …?«

Er grinst. »Sie hat mitgespielt. Als ich gestern Abend bei dir zu Hause angerufen habe, ist sie rangegangen.«

»Oh!«, ist alles, was ich herausbekomme, bevor er auf mich zutritt und mich küsst. »Ahh«, schaffe ich danach nur zu sagen. Benito. Er duftet sogar hier in New York nach Kiefern. Und er sieht sogar noch besser aus. Sein Bart ist wieder nachgewachsen.

Und diesem Lächeln konnte ich noch nie widerstehen.

»Setz dich«, sagt er und führt mich zu meinem Stuhl. Die Empfangsdame lässt uns mit den Speisekarten allein. »Wie war das Vorstellungsgespräch?«

»Gut.« Ich rümpfe die Nase, weil das Vorstellungsgespräch das langweiligste Thema der Welt ist, wenn Benito mir gegenübersitzt. »Wie geht’s dir? Wird das Speakeasy pünktlich eröffnen? Konnten sie das mit der Ausschankerlaubnis klären?« Mittlerweile interessiere ich mich sehr dafür, was in der Familie Rossi passiert. Wir haben letztendlich doch mit Bennys Mom zu Abend gegessen – sogar zweimal. Und wir waren mit May und Alec bei Worthy Burger essen. Das eingelegte Gemüse war so gut wie angekündigt.

Benito antwortet nicht. Er nimmt meine auf dem Tisch liegende Hand hoch und küsst mich auf die Handfläche. »Ich vermisse dich. Unheimlich.«

»Ich dich auch.« Das ist einfach Fakt. »Hast du diese Woche irgendwelche bösen Jungs geschnappt?«

»Mm-hmm«, macht er und küsst noch einmal meine Handfläche, wobei mich sein Bart kitzelt. »Aber lass uns über deinen Job reden.«

»Welchen Job denn? Das ist ja das Problem.«

Er nimmt meine Hand zwischen seine. »Ich weiß, dass du so denkst. Aber ich mache mir da keine großen Sorgen. Komm, wir bestellen extravagantes Sushi und reden drüber. Hast du schon mal hier gegessen?«

Ich schüttele den Kopf. »Es sieht umwerfend aus. Allerdings sollte ich wahrscheinlich lieber ein Falafel vom Imbissstand essen.«

»Ich bin den ganzen Weg nach New York gekommen, um dir zu sagen, dass du dir keine Geldsorgen zu machen brauchst. Na ja – das stimmt nicht ganz. Ich bin den ganzen Weg hergekommen, weil ich dich schon seit über einer Woche nicht mehr geküsst habe. Und um dir zu sagen, dass du dir keine Geldsorgen zu machen brauchst.«

»Wieso nicht? Geld ist gerade ein ziemlich großes Problem.«

»Ja und nein.« Er lässt meine Hand los und nimmt seine Speisekarte. »Sag mir, was ich probieren soll. Ich möchte alles.«

Wir bestellen unterschiedliche Gerichte, damit wir vom anderen kosten können. Und Benito fragt mich noch einmal, wie das Vorstellungsgespräch gelaufen ist.

»Es ist gut gelaufen, okay? Ich denke, sie werden mir den Job anbieten. Was bedeutet, dass ich mir schnell noch einen anderen Job suchen muss, damit ich nicht zuzusagen brauche.«

»Hat es dir dort nicht gefallen?«

»Kein bisschen. Da herrschte voll die ›Jo, Alter‹-Kumpelstimmung. Der, mit dem ich das Gespräch hatte, trug ein verkehrt rum aufgesetztes Baseballcap und ein Baseball-Shirt mit der Aufschrift ›Absolvent der Party-Uni‹. Und sein Assistent hat mir angeboten, dass er für mich posiert, falls ich seinen Penis malen will.«

Benito schließt die Augen. Sie bleiben eine ganze Weile zu, als müsse er dagegen ankämpfen, zu Hulk zu werden und etwas kaputt zu schlagen.

»Ich werde da nicht anfangen«, sage ich seufzend. »Auch wenn ich den Gehaltsscheck dringend gebrauchen könnte. Vielleicht läuft eins der Vorstellungsgespräche morgen besser. Ich weiß, du möchtest nicht, dass ich einen Job in New York annehme.«

Er stützt das Kinn in die Hand. »Doch, möchte ich. Aber nur, wenn es dein Traumjob ist. Wenn du mir jetzt erzählt hättest, dass du ein tolles Angebot in Manhattan hast, würde ich mich unheimlich für dich freuen.«

»Oh.« Das ist das Selbstloseste, was je jemand zu mir gesagt hat.

»Aber – und ich flehe dich hiermit echt an – bitte nimm keinen Job an, den du eigentlich nicht willst. Wir beide wurden schon einmal voneinander getrennt. Durch einen schrecklichen Mann und durch schieres Pech. Ich bin hergekommen, weil ich dir sagen wollte, dass ich nicht möchte, dass Geld uns im Weg steht. Geld ist mir egal.«

»Mir auch.« Das stimmt größtenteils. Ich habe schon eine Schwäche für edle Kosmetik. »Aber wenn Rayanne mich braucht, bin ich auch bereit, Schulden zu machen. Und ich brauche einen Job, um sicherzugehen, dass es keine Totalkatastrophe wird.«

Benito nickt. »Okay, ich habe eine Frage an dich. Was würdest du jetzt tun, wenn du dir keine Sorgen machen würdest, ob du Rayannes Anwalt bezahlen kannst?«

»Oh, das ist leicht. Ich würde dir in deiner Wohnung ein superschnelles Essen zaubern, damit wir einen Mittagsquickie haben können.« Und mein Hals wird nur ein klein bisschen warm, nachdem mir dieses Geständnis rausgerutscht ist.

Er blinzelt. »Süße, ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, dass du solche Sachen sagst. Aber ich bin entschieden dafür.«

Als ich ihn anlächle, bin ich mit mir zufrieden. Was Benito angeht, bin ich inzwischen gar nicht mehr so schüchtern. Es fällt mir leichter als gedacht, denn immer, wenn ich ihn im Bett überrasche, macht er so schnell ein dankbares Gesicht, dass ich das Risiko gern eingehe.

»Okay.« Er räuspert sich. »Darauf kommen wir nachher definitiv noch mal zurück. Aber ich meinte eigentlich die Arbeit. Wenn du nicht dermaßen unter Druck wärst, einen neuen Job zu finden, wie würdest du dann über die ganze Sache denken?«

»Oh.« Lustige Frage. »Dann wäre ich wahrscheinlich in Vermont, würde als Freelancerin arbeiten und Magazinen in der Region Reportagen anbieten, solange ich auf eine Vollzeitstelle warte. Außerdem würde ich bei den Fernsehsendern betteln, dass sie mich auf ihre Springerliste setzen, damit ich einen Fuß in die Tür kriege.«

»Und warum machst du das dann nicht?«, fragt er. »Wir kämen mit wenig Geld aus, wenn du keine Wohnung in New York unterhalten musst.«

»Freiberuflich zu arbeiten, ist total unvorhersehbar. Es könnte sein, dass ich in einem Monat dreitausend Dollar verdiene und im nächsten dreihundert. Das ist mir einfach zu unsicher.«

»Wir würden nicht hungern«, wendet er ein. »Dafür würde ich sorgen.«

»Ich weiß das«, sage ich etwas zu gereizt. »Aber ich möchte nicht auf ewig das Mädchen sein, dessen Probleme du lösen musst. Das wäre wieder ganz wie in der Highschool.«

»Kein bisschen.« Er beugt sich auf seinem Platz vor, und sein dunkler Blick bohrt sich in mich. »Du vergisst da etwas sehr Wichtiges.«

»Was denn?« Mein erbärmlicher Kontostand ist schwer zu vergessen.

»Dass ich dich auch brauche.«

»Oh, aber – «

Er hebt eine Hand, damit ich still bin. »Ich brauche dich in meiner Nähe. Ich brauche es, jeden Abend zu dir nach Hause zu kommen, mit dir in meiner Küche zu essen und zu hören, wie dein Tag war. Ich möchte dich in meinem Bett und in meinem Leben haben.«

Tja. Wenn er es so ausdrückt …

»Wenn du einen triftigen, lebensverändernden Grund hast, warum das nicht in Vermont geht, bin ich ganz Ohr. Dann werde ich umziehen. Aber ein kurzzeitiges Liquiditätsproblem ist kein ausreichender Grund, Skye.«

»Verstehe.« Und während ich hier so in diesem Sushi-Restaurant sitze, finde ich etwas Wichtiges über mich selbst heraus. Tatsächlich fällt es mir schwerer, mich für diese Art Liebe zu öffnen, als mich mit ihm nackig zu machen.

Aber ich möchte es versuchen.