KAPITEL 7

Delmira

WENIGER ALS VIER WOCHEN
BIS ZUM ERSTEN VOLLMOND

I ch habe damit gerechnet, dass Garreth seine Entscheidung schnell überdenken wird, wenn er sich meinem straffen Tempo anpassen muss, doch ich höre nicht ein Wort des Jammers von ihm. Ich merke ihm zwar an, dass die kurzen Pausen und die Stunden im Sattel ihm alles abverlangen, trotzdem beschwert er sich nicht ein einziges Mal.

Um ihn abzulenken, unterhalte ich mich mit ihm über alltägliche Dinge. Wie seine Arbeit bei Hofe aussah – mit Ausnahme von den Prinzessinnen. Ob er schon immer Heiler werden wollte. Warum er sich nicht einfach umgedreht hat und gegangen ist, als seine Familie ihm die Aufsicht über die schwierige Brut des Königs aufs Auge gedrückt hat.

»Wolltest du seit jeher Söldnerin … oder Ritterin werden?«, fragt er, als ihn meine letzte Frage zum Nachdenken anregt.

»Nein«, antworte ich. »Ich hatte keine große Auswahl. Aber eine Knappenausbildung zu durchlaufen, war tausendmal besser, als in einem der Hurenviertel zu landen.«

Ich habe Geschichten darüber gehört, dass die dort arbeitenden Zuhälter regelmäßig hinaus zu den Grenzen der Ödnis fahren, die vom Roten Tod heimgesucht wurden, und die überlebenden Mädchen einsammeln. Die meisten von ihnen werden froh sein, denn sie können weiterleben, nachdem ihnen alles genommen wurde.

Wie dieses Leben allerdings aussieht, daran will ich nicht denken.

Hätte mir der Rote Tod nicht meine Eltern genommen, wäre ich heute eine feine Dame. Keine hochgeborene Adlige, dennoch die Tochter eines Lehnsherrn. Wahrscheinlich hätte ich nie ein Schwert in Händen gehalten, sondern edle Kleider getragen und Sticken gelernt. Allein beim Gedanken schüttele ich mich.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt ein Kleid am Leib hatte. Und ich bin froh, wenn ich kleinere Risse in meiner Kleidung selbst nähen kann, anstatt eine Näherin bezahlen zu müssen. Mit einer geraden Naht haben meine Versuche allerdings wenig zu tun, geschweige denn mit Sticken.

»Ich kann mir kein anderes Leben vorstellen als das, was ich gerade führe«, sage ich.

Garreth wirft mir einen Seitenblick zu. »Dann willst du also weiter Söldnerin bleiben, wenn dein Auftrag beendet ist? Du hättest dann Gold und müsstest dich nicht mehr um deine nächste Mahlzeit prügeln. Und vielleicht ist Prinzessin Ragna spendabel und bezahlt dich nicht nur in Gold, sondern mit einem Titel.«

Ich schnaube. »Du vergisst offenbar, dass ich eine Frau bin. Weibliche Nachkommen erben keine Titel und können keinen erhalten.«

»Gut möglich, dass Prinzessin Ragna eine Ausnahme macht.«

Ich seufze verstohlen. Schon wenn er den Namen seiner Prinzessin ausspricht, weiß ich, dass er sie in den Himmel loben wird. Für Garreth ist sie eine Lichtgestalt – gütig, sittsam und liebevoll. Ein solcher Mensch ist mir noch nie begegnet. Zwar verdanke ich meinem Lehnsherrn alles, aber auch er ist bloß ein Mensch, mit Ecken und Kanten. Es gab Tage, da habe ich ihn verflucht dafür, dass er mich mitgenommen hat. An anderen wollte ich sogar weglaufen und mein Glück irgendwo in der Fremde suchen. Natürlich bin ich froh, es nicht getan zu haben. Die Welt ist nicht so schillernd, wie sie sich in den Geschichten meines Vaters angehört hat.

Niemand ist perfekt. Nicht einmal mein Kindheitsheld war es. Garreths Prinzessin wird es auch nicht sein. Deshalb rechne ich bloß mit dem Gold, das Garreth mir für die Erfüllung des Auftrags schuldet, und mit keiner Münze mehr. Aber selbst damit werde ich mein Leben von Grund auf ändern können.

Wie dieses geänderte Leben aussehen soll, weiß ich allerdings nicht.

Unsere Umgebung ändert sich nur wenig; Lerthau ist dicht bewaldet und besitzt fruchtbaren Boden. Wo immer die Menschen sich niedergelassen und den Wald gerodet haben, säumen Felder unseren Weg, auf denen sich die letzten goldenen Ähren im Wind wiegen. Hier gibt es sogar genug Weideland, um Vieh grasen zu lassen.

Mein Heimatland Bellvor hingegen ist zur nördlichen Grenze nach Krom hin karg und unwegsam, wohingegen ein Großteil des restlichen Bodens zu weich, fast sumpfig ist. Nur mit viel Glück können die Bewohner ihm eine bescheidene Ernte abringen, die kaum genügt, um ihre eigene Familie zu versorgen.

Irgendwie macht es mich schwermütig, während ich all den Überfluss um mich herum betrachte. Ich musste zwar fast nie wirklich Hunger leiden, aber satt war ich auch nie. Unsere Mahlzeiten während meiner Knappenausbildung waren stets gleich.

Gleich langweilig und knapp bemessen.

Ob die Menschen hier in Lerthau anders aufwachsen als wir? Hätte ich mich mit diesen reichhaltigen Lebensmitteln anders entwickelt, wenn ich nicht bloß Haferschleim und Butterbrot zu essen bekommen hätte?

Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, wenn die vier Reiche mehr zusammenarbeiten würden. Lerthau mag zwar Nahrung im Überfluss haben, aber es mangelt diesem Reich sicherlich an anderen Dingen. Doch der Handel zwischen den Reichen ist durch die unterschiedlichen Herrscher schwierig; Grenzübergänge sind so teuer, dass Händler entweder horrende Preise für ihre Waren verlangen müssen oder es gleich sein lassen, um keinen Verlust zu machen.

Obwohl ich in Bellvor geboren und aufgewachsen bin, habe ich nie ein besonderes Band zu diesem Reich entwickelt. Es könnte morgen überrannt werden, es würde mich nicht kümmern. Ich weiß nicht einmal, wie unser amtierender Herrscher heißt. Sie wechseln so schnell, dass ich bereits vor Jahren den Überblick verloren habe.

›Das war zu meiner Zeit auch so‹ , lässt Varyan mich wissen.

Nicht zum ersten Mal erschrecke ich über seine Stimme. In den letzten Tagen habe ich mich so sehr an das anfangs seltsame Gefühl, nicht allein in meinem Kopf zu sein, gewöhnt, dass ich manchmal vergesse, dass er da ist.

Und mir zuhört.

Er hört nicht bloß meine Gedanken, sondern auch die Gespräche, die ich mit Garreth führe.

Die einzige Möglichkeit, das zu unterbinden, ist, das Schwert nicht zu berühren.

An manchen Tagen, da lasse ich Caligram in Stoff eingewickelt und greife nicht ein einziges Mal danach. An diesen Tagen werde ich von einer inneren Unruhe heimgesucht, die sich erst legt, wenn ich das kalte Metall unter meinen Fingern spüre. So als müsste ich mich selbst davon überzeugen, dass Caligram noch da ist. Aber erst wenn ich diese andere fremde Präsenz in meinem Kopf spüre, fällt die unerklärliche Anspannung von mir ab. Zumindest bis Varyan mit mir redet.

Und es gibt Tage wie heute, da ruht meine Hand unablässig auf dem Stahl, damit sich diese Anspannung gar nicht erst einstellt.

Meistens bereue ich es schon nach Kurzem, denn es dauert nie lange, bis Varyan und ich aneinandergeraten. Seine Anwesenheit in meinem Kopf ist einerseits beruhigend – was ich nicht verstehen kann –, andererseits wird er, sobald er den Mund aufmacht, zu einem Fremdkörper, der sich einfach nicht entfernen lassen will und mit seinen bissigen Bemerkungen meine Nerven aufs Äußerste strapaziert.

Es vergeht kein Tag, an dem wir uns nicht streiten. Ich wünschte, ich könnte das verdammte Schwert einfach in Stoff eingeschlagen lassen. Ich nehme es mir sogar fest vor, wann immer Varyan mich zur Weißglut bringt. Doch ich halte es maximal einen Tag aus, bevor ich die Waffe erneut wieder berühre.

Keine Ahnung, wieso ich das tue. Macht es mir neuerdings Spaß, mich selbst zu quälen?

Vielleicht hoffe ich, ein Mal – nur ein einziges Mal! – schlagfertiger zu sein als er. Das ist bisher noch nie der Fall gewesen – es sei denn, ich drohte damit, ihn irgendwo zurückzulassen oder zu versenken. Mittlerweile glaubt er meinen Drohungen nicht mehr und wird noch frecher, sofern das möglich ist.

Oder mein dickes Fell, das ich mir während meiner Knappenausbildung notgedrungen zulegen musste, wird dünner.

Einige Tage lang trainiere ich, Varyans Bewusstsein von meinem zu trennen. Ich stelle mir vor, dass ich in meinen Gedanken eine Mauer errichte, die er nicht durchdringen kann und die ihn vor mir abschirmt.

Als Varyan es bemerkt, ernte ich bloß ein mitleidiges Lachen.

›Was ist so witzig?‹ , grolle ich.

›Du. Mal wieder.‹ Er schnaubt. ›Glaubst du wirklich, dass es so funktioniert?‹

›Wenn du eine bessere Idee hast, bin ich ganz Ohr!‹

Ja, ich bin mittlerweile an einem Punkt angelangt, wo ich sogar seine Vorschläge zur Kenntnis nehmen würde. Es gibt Gedanken, die einfach zu privat sind, als dass er sie brühwarm mitkriegen muss.

›Die gibt es durchaus‹ , raunt Varyan.

Seine Stimme verfällt in einen Tonfall, der seltsame Dinge mit meinem Herzschlag anstellt. Er wird schneller, fester, und plötzlich habe ich das Gefühl, nicht mehr im Sattel zu sitzen und mich mitten im Nirgendwo von Lerthau zu befinden. Meine Gedanken geraten auf Abwege, ohne dass ich es verhindern kann.

›Es gibt nicht bloß ein paar private Einzelheiten von dir, über die ich gern mehr erfahren würde‹, fährt er in diesem Tonfall fort, bei dem mich ein warmer Schauder durchrinnt und ich unwillkürlich scharf dir Luft einziehe. ›Einigen Eigenheiten an dir würde ich zu gern auf den Grund gehen. Sehr tief auf den Grund gehen.‹

Ohne dass ich es verhindern kann, überschlagen sich meine Gedanken und driften in einen Bereich ab, den ich gar nicht von mir kenne. In der Vergangenheit gab es nur wenige Gelegenheiten, in denen ich unanständige Fantasien hatte. Die Knappen, mit denen ich aufwuchs, blieben auch nach Jahren in meinen Augen nichts anderes als freche Jungen, bei deren Anblick sich nichts in mir regte. Bei denen ich mir nichts vorstellte. Die einzige Ausnahme bildete Batur.

Und nun Varyans Tonfall, der meinen Körper abwechselnd heiß und kalt erschaudern lässt.

Das ist mir noch nie passiert. Hitze brennt in meinen Wan gen, während ich mich krampfhaft darauf konzentriere, mir nach außen hin nichts anmerken zu lassen und geradeaus zu starren. Doch ich sehe weder die dicht bewaldete Landschaft Lerthaus noch höre ich, was Garreth gerade zu mir sagt.

Es ist, als wüsste Varyan ganz genau, was er tun muss. Welche Stimmlage bei mir einen Nerv trifft. Denn mehr ist es nicht. Er besitzt nicht mehr als eine Stimme, doch das reicht ihm aus, um mich Dinge denken zu lassen, für die ich mich normalerweise schämen würde.

Natürlich bleibt es Varyan nicht verborgen, wie mir sein dunkles, raues Lachen beweist, bei dessen Klang mich erneut ein heißer Schauder bis hinab in den kleinen Zeh durchrinnt.

›Lass das!‹, grolle ich.

Diesmal mischt sich ein lauernder Unterton in seine Stimme. ›Was genau soll ich denn lassen?‹

›Das weißt du ganz genau!‹

›Du könntest mir auf die Sprünge helfen. Übrigens sehe ich nicht so aus wie in der Fantasie, die du gerade hattest. Und ich bevorzuge eine andere Stellung.‹

Hastig nehme ich die Hand von Caligram und reibe mir seufzend über das brennende Gesicht.

»Alles in Ordnung?«, fragt Garreth, der seine Stute nah an meinen Rappen lenkt. »Dein Gesicht ist so rot. Hast du Fieber? Oder ist es wieder das Siegel an deinem Handgelenk?«

Schnell schüttele ich mit heißen Wangen den Kopf. »Alles bestens, wirklich.«

Garreth glaubt mir kein Wort, das merke ich ihm deutlich an. Als wüsste er genau, was der Grund dafür ist, dass ich gerade neben mir stehe, gleitet sein Blick zu Caligram. »Du kannst das Schwert jederzeit an meinem Sattel befestigen, wenn die Stimme dich zu sehr nervt.«

Ich stoße den Atem aus und fühle mich tatsächlich ein wenig erleichtert. »Danke für das Angebot, aber es geht mir besser, wenn Caligram in Reichweite ist. Sollten wir angegriffen werden, will ich die Gewissheit haben, dass ich nur die Hand danach ausstrecken muss.«

Garreth nickt verständnisvoll. »Dann behalte es in der Nähe, lass aber die Finger davon.«

»Das ist nicht so einfach«, gebe ich leise zu.

»Warum? Diese Stimme, dieser Varyan bringt dich regelmäßig zur Weißglut. Bisher war er uns keine große Hilfe. Wieso lässt du ihn nicht links liegen, bis wir den Herzholzhain erreichen?«

»Das würde ich gern, aber …«

Nicht einmal mir selbst gegenüber kann ich die Gründe, warum ich das verdammte Schwert nicht einfach im Stoff eingeschlagen lasse, in Worte fassen. Garreth hat mit allem, was er gesagt hat, recht: Mich ständig mit Varyan zu streiten, ist alles andere als gut für mich.

Er macht mich wütend, nervös und dünnhäutig. Und er veranlasst mich zu kurzen, aber durchaus eindringlichen Fantasien wie eben. Wenn ich mit ihm rede, weiß ich nie, woran ich bin. Er hat die Gabe, dass mir abwechselnd heiß und kalt wird und ich regelrecht süchtig danach werde, mich mit ihm zu unterhalten. Als Ritterin muss ich meinen Gegner zu jeder Zeit einschätzen können, doch bei Varyan beiße ich auf Granit. Nicht nur, weil ich ihn nicht sehen kann, sondern auch, weil sein Bewusstsein undurchschaubar ist. Ich will ihn verstehen, ihn begreifen und somit durchschauen, doch er bleibt ein Rätsel.

Wenn ich daran denke, dass ich das Schwert in gut drei Monaten zurückgeben muss, bin ich erleichtert. Das bin ich wirklich, ungeachtet der leisen Stimme, die mir einflüstert, dass mir dann etwas Wichtiges fehlen würde. Ich kann nicht genau benennen, was dieses Etwas ist.

Wenn ich mich mit Garreth unterhalte, fühle ich mich verstanden. Zwar bin ich noch nicht so weit, ihm wirklich alles anvertrauen zu können, aber ich muss mich nicht verstellen.

Wenn ich mit Varyan rede, prallen wir nach kürzester Zeit aufeinander. Ich fühle mich herausgefordert, was mich erst recht dazu veranlasst, mich zu beweisen. Ich will ihm zeigen, dass ich ihm überlegen bin.

Seufzend schüttele ich den Kopf. »Ich werde versuchen, weniger mit ihm zu reden«, sage ich zu Garreth. »Er ist ein Idiot und eingebildet und taktlos.«

»Wäre er ein Mensch, hättest du ihm wahrscheinlich schon die Zähne für seine Bemerkungen eingeschlagen.«

Ich nicke. »Durchaus. Aber da er kein Mensch ist, muss ich es aushalten. Vielleicht ist das keine schlechte Übung für mich.«

Zweifelnd verzieht Garreth das Gesicht. »Wenn du meinst …«

Ich zweifle ebenfalls an meinen Worten. Da ist noch mehr – eine Wahrheit, die sich vor mir verbirgt. Ich bin froh darüber, denn wenn ich sie sehen könnte, würde sie mich verstören. Keine Ahnung, wieso, aber diese Gewissheit setzt sich in mir fest.

Die Gewissheit, dass es nicht bloß ein dummer Zufall war, dass ich Caligram herausziehen konnte und nun als Einzige damit geschlagen bin, Varyans Stimme hören zu können.