NOCH ETWA ZWEI
WOCHEN
BIS ZUM ERSTEN
VOLLMOND
D er verdammte Herzholzhain liegt weiter im Landesinneren von Lerthau, als ich angenommen habe. Ich habe kaum einen Blick für die sogar im Herbst wunderschöne und bunte Waldlandschaft übrig, die uns überall umgibt und nur hin und wieder von kleineren Äckern und Bauernhöfen unterbrochen wird.
Caligram reist bei Garreth mit. Müsste ich Varyan nicht hin und wieder nach dem Weg fragen, würde ich mich gar nicht mit ihm unterhalten, was mir bedeutend schwerer fällt, als ich je zugeben würde. Seine Antworten sind einsilbig, nachdem er erneut meine Gedanken durchwühlt und wahrscheinlich so von dem Angriff erfahren hat. Er spricht ihn nicht an. Wenn es ihm nicht darum ginge, Caligram wieder auf Vordermann zu bringen, würde er mir vermutlich gar nicht auf meine Fragen nach dem Weg antworten.
Soll mir recht sein.
Auf die Frage, warum er Caligram überhaupt wieder auf Vordermann bringen will, habe ich noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden. Vielleicht geschieht etwas mit ihm, wenn das Schwert zu Bruch geht.
Mit mir geschieht dann auf jeden Fall etwas … Im besten Fall wird mich die Hexe in ihrem See ersäufen.
Da Varyan der Einzige von uns ist, der je im Herzholzhain war und somit sagen kann, wo er liegt, muss ich mich also hin und wieder mit ihm abgeben. Meistens wenn wir an einer größeren Ortschaft vorbeigekommen sind, anhand derer er sich orientieren kann.
Es wäre bedeutend leichter, wenn er Augen hätte. Oder einen Körper. Wenn er mehr wäre als bloß eine mürrische Stimme.
Wie er wohl aussah – damals, als er noch lebte? In meiner abwegigen und für mich völlig untypischen Fantasie mit ihm, für die ich mich heute noch schäme, hatte er eine große Ähnlichkeit mit Batur. Wahrscheinlich weil mein Gehirn sich auf die Schnelle nichts anderes ausdenken konnte. Oder wollte. Varyan meinte daraufhin, dass er nicht so aussähe.
Aber wie sieht … sah er aus?
Ich will es wissen! Nicht, damit ich ihn mir wieder in … unangebrachten Situationen vorstellen kann, sobald erneut dieses Raunen in seiner Stimme kratzt. Allein die Erinnerung daran verursacht ein warmes Kribbeln in meinem Bauch, das mir fremd ist. Aber nein, das ist ganz bestimmt nicht der Grund! Es ist nur … Vielleicht könnte ich besser mit ihm umgehen, wenn er für mich ein Gesicht hätte. Ich könnte mir dann vorstellen, wie ich ihm einen Kinnhaken verpasse und ihn so zum Schweigen bringe.
»Du grübelst schon wieder«, schilt mich Garreth.
»Entschuldige«, murmele ich. »Hast du was gesagt?«
Seine gutmütige braune Stute trabt neben meinem Rappen, sodass ich seinen mitleidigen Blick deutlich auf mir spüre. Obwohl ich Caligram nicht mehr bei mir habe, bedenkt er mich ständig mit diesem Blick, und ein Teil von mir fürchtet sich davor. Er hat Angst, Garreth könnte zu viel sehen.
Dinge, die ich selbst noch nicht begriffen habe und über die ich vermeide nachzudenken. Garreth kann nicht wie Varyan meine Gedanken lesen, aber er sieht mir an, wenn mich etwas beschäftigt. Es macht mich unruhig, dass jemand in mir lesen kann wie in einem offenen Buch; das war noch nie der Fall. In der Vergangenheit hielt ich mich für ziemlich geheimnisvoll, aber Garreth durchschaut meine Halbwahrheiten und Versuche, ihn abzuwimmeln.
Ich wünschte, ich könnte ihm erzählen, was in mir vorgeht, doch ich verstehe es ja nicht mal selbst. Wie sollte ich es dann ihm gegenüber in Worte fassen? Wie könnte ich ihm verständlich machen, dass ich zum größten Teil froh bin, Caligram nicht in Reichweite zu haben, und mich gleichzeitig danach verzehre, die Hand nach dem kalten Stahl auszustrecken, um Varyan in meinen Kopf zu lassen? Zu spüren, dass er da ist, wenngleich er nicht mehr als eine Stimme ist? Eine Stimme, die in der Lage ist, mich einerseits bis aufs Blut zu reizen und andererseits Baturs bloße Existenz für einen Moment vergessen zu lassen. Denn wenn ich Zeit mit der nervtötenden Stimme in meinem Kopf verbringe, ist meine Zukunft – und die Suche nach meinem Schicksalsgebundenen – ganz weit weg, als bräuchte beides mich nicht mehr zu kümmern.
Gerade Letzteres ist etwas, was ich niemals offen zugeben könnte. Was ich nicht einmal denken darf, damit Varyan keinen Wind davon bekommt.
Ich male mir lieber nicht aus, was er mit diesem Wissen über mich anstellen könnte …
»Wie lange werden wir noch zum Herzholzhain brauchen?«, fragt Garreth.
Ich will nicht wissen, wie oft er diese Frage schon gestellt hat, ohne dass ich ihm geantwortet habe.
»Eine Weile«, sage ich ausweichend.
Lerthau ist das größte der vier Reiche, wenn man außer Acht lässt, dass ein Großteil des nördlichen Gebiets bereits von Krom oder dem Roten Tod beansprucht wurde. Die Straßen sind jedoch abseits der größeren Städte schlecht ausgebaut, deshalb kommen wir langsamer voran, als ich es mir wünsche. Und leider befindet sich der Herzholzhain in einem kaum besiedelten Gebiet.
»Varyan meinte, dass der Herzholzhain im Norden des Landes liegt.« Ich zucke mit den Schultern. »Hoffen wir, dass Lerthau noch ungefähr so groß ist wie in seinen Erinnerungen.«
Garreth stößt geräuschvoll den Atem aus. »Ich beginne an meiner Entscheidung, zum Herzholzhain zu reisen, zu zweifeln. Wir brauchen schon viel zu lange.«
Ich kann es ihm nicht verdenken. Hätte ich gewusst, dass wir diesen Umweg machen, hätte ich die Hexe des Sees um mehr Zeit gebeten. Doch nun sitzt uns die Frist von drei Vollmonden und drei Tagen im Nacken.
Als ich nach oben sehe, kann ich zwischen den Zweigen der Bäume einen zunehmenden Mond ausmachen. Garreth hat recht: Wir sind schon viel zu lange unterwegs … Der Rückweg wird schneller gehen, weil wir nicht ständig anhalten, uns orientieren und nach dem Weg fragen müssen. Aber er wird trotzdem Wochen dauern, zusätzlich zu der Zeit, die wir bis zur Hauptstadt Valencias benötigen.
Ich spiele für einen Moment mit dem Gedanken, Garreth zum Umkehren zu überreden. Er würde zögern, mir schlussendlich jedoch zustimmen. Aber das wäre nicht fair ihm gegenüber. Seine Prinzessin muss beeindruckt werden, und das werden wir mit dem verrosteten Stück Stahl nicht schaffen. Caligram muss sich von seiner besten Seite zeigen. Gut möglich, dass die Prinzessin uns sonst als Lügner hinstellt und abweist, weil sie nicht glaubt, dass das verwitterte und schartige Ding eine Waffe der Götter sein soll. Das kann ich Garreth nicht antun.
Also beiße ich die Zähne zusammen und treibe uns weiter an, in der Hoffnung, dass Varyan tatsächlich weiß, wo sich dieser verdammte Herzholzhain befindet. Und dass uns die dortigen Schmiedehandwerker wirklich bei unserem Vorhaben helfen können. Der letzte Rückschlag mit dem Schmied des kleinen Dorfes sitzt mir noch in den Knochen. Wenn auch die Schmiedemeister des Herzholzhains nicht mit Caligram zurechtkommen, wird uns keine andere Wahl bleiben, als dennoch nach Valencia aufzubrechen. Mit einer Menge vertrödelter Zeit.
Ich schüttele vehement den Kopf. Nein, nach allem, was wir bisher erreicht haben, werden wir jetzt nicht scheitern. Nachdem ich mit Varyan gestraft bin, haben die Götter vielleicht ein Einsehen und lassen uns fähige Schmiede im Herzholzhain treffen.
Ich muss nur ganz fest daran glauben.