GEGENWART
NOCH ETWA EINEINHALB
WOCHEN
BIS ZUM ERSTEN
VOLLMOND
I ch rede und rede und schwelge gleichzeitig in Erinnerungen, an die ich seit Wochen nicht mehr gedacht habe. Als ich Batur das erste Mal sah, wusste ich es. Ich wusste tief in mir, dass er derjenige war, von dem in meiner Weissagung die Rede ist. Er war derjenige, der echte Gefühle in mir weckte und mich während unseres Trainingskampfes besiegte – etwas, was seit meiner abgeschlossenen Grundausbildung niemandem mehr gelungen war. Und danach bildeten wir bei jedem Einsatz eine Einheit, gegen die keiner bestehen konnte.
Garreth hört mir aufmerksam zu und stellt hin und wieder eine Frage, wenn ihm etwas unklar ist, wie der Grund, warum ich als Mädchen überhaupt eine Knappenausbildung durchlaufen habe.
Die Antwort halte ich denkbar kurz; so gern ich mich an meine Anfangszeit mit Batur erinnere, so sehr versuche ich, andere Erinnerungen von mir fernzuhalten.
»Ich stamme aus einem der nördlichen Gebiete Bellvors«, sage ich vage. »Dort wütete der Rote Tod. Ich war … die einzige Überlebende meiner Familie.«
Krampfhaft dränge ich die Bilder zurück, die sich fast gewaltsam in meinen Kopf zwängen. Und mit ihnen schleicht sich die alte Schuld in mein Herz, die ich wohl nie werde hinter mir las sen können. Möglichst unauffällig reibe ich mir über den Brustkorb, dort, wo es am schlimmsten schmerzt, doch das Stechen darin will nicht verschwinden.
»Mein einstiger Lehnsherr fand mich und zog mich auf.«
»Das war sicher nicht einfach«, murmelt Garreth. »Ohne deine Familie, als einziges Mädchen inmitten eines Haufens junger Knappen.«
Ich verziehe den Mund. »Die richtigen Probleme begannen erst, als ich älter wurde. Als Kind fügte ich mich schnell in die Gemeinschaft ein. Natürlich gab es diejenigen, die geringer von mir dachten, weil ich ein Mädchen war, doch ihnen zeigte ich schnell, dass sie sich besser nicht mit mir anlegen sollten. Um ihnen nie wieder einen Grund zu geben, schlecht über mich zu reden, trainierte ich manchmal bis zum Morgengrauen oder bis die Blasen an meinen Händen aufplatzten. Es war hart, trotzdem gehört diese Zeit zu den schönsten meines Lebens.«
»Aber es gab dennoch Probleme, wie du sagtest.«
Ich nicke. »Über Jahre gab ich alles. Ich hatte stets das Gefühl, mehr leisten zu müssen als die gleichaltrigen Jungen. Und das tat ich. Irgendwann akzeptierten sie mich, und in meiner kindlichen Vorstellung war ich einer von ihnen – nicht nur im Geiste, sondern auch körperlich. Ich vergaß, dass ich eigentlich ein Mädchen war und aus einer Familie stammte, die mich im Rang über ihnen hätte stehen lassen. Doch leider … erinnerte sich mein Körper nach einigen Jahren daran, dass er der eines Mädchens ist.«
Garreth schneidet eine mitleidige Grimasse. »Das muss hart gewesen sein.«
Ich schnaube missmutig. »Du kannst es dir nicht vorstellen. Ich habe es irgendwann aufgegeben, all die eingeschlagenen Nasen oder ausgeschlagenen Zähne zu zählen, weil die anderen Knappen mir wieder nachgestiegen sind, wenn ich mich nach dem Training umziehen oder mir den Schweiß vom Körper waschen wollte. All die Anerkennung, die ich mir erarbeitet hatte, war in dem Moment dahin, als meine Brüste meinten, sie müssten jetzt wachsen. Und auch der Rest von mir weigerte sich hartnäckig, sich so zu verändern wie die Körper der übrigen Jungen. Mein Rücken wurde auch durch Krafttraining nicht breiter. Meine Stimme wurde nicht tiefer. Meine Hüften blieben nicht schmal.«
»Würde es dir helfen, wenn ich dir sagte, dass du gut aussiehst, so wie du bist?«
Ich schenke ihm ein halbherziges Lächeln. »Das ist nett von dir, aber darum ging es mir nie. Ich fand mich nie unansehnlich oder dergleichen, aber ich war eben nicht … wie die anderen. Weite Kleidung verbarg meine Veränderungen eine Zeit lang, später griff ich dann auf die Brustbandagen zurück.«
Kurz durchzuckt mich die Erkenntnis, dass sogar Varyan von den Bandagen weiß. Und dass er ihre Existenz sehr interessant fand. Ich gebe ein Grollen von mir, das mir einen verwirrten Blick von Garreth einbringt.
»Schon gut«, sage ich schnell. »Es war nicht … wegen dir.«
Er schmunzelt. »Was uns wieder zur Ausgangsfrage bringt: Varyan oder Batur?«
Ich verdrehe die Augen. »Diesmal Varyan.«
»Ich danke dir für deine Ehrlichkeit.« Garreth sieht geradeaus. Im Profil wirkt er noch blasser als zuvor. Es könnte auch am schwindenden Tageslicht liegen. »Deine Worte haben mich ablenken können.«
»Es ist sicher nicht mehr weit bis zum nächsten Ort«, sage ich mit unverhohlener Sorge in der Stimme. »Dort kannst du dich ausruhen.«
Als es langsam zu dämmern beginnt, schaffen wir es endlich aus dem Wald heraus und finden uns in der Nähe eines kleinen Dorfes wieder.
Ich atme erleichtert auf. Obwohl uns von Korven keine Gefahr mehr droht, war ich doch die ganze Zeit über angespannt, als wartete ich auf einen weiteren Angriff. Erschöpft, wie ich bin, hätte ich uns womöglich nicht ausreichend verteidigen können.
Auf den weitläufigen Feldern, die direkt an den Waldrand grenzen, arbeiten noch einige Bauern, die ich sogleich nach dem Weg zum Gasthaus frage.
Zum Glück ist es nicht weit entfernt. Während der letzten Stunden wurde Garreth zunehmend blasser, und an seiner Schulter ist sein Hemd blutdurchtränkt. Zwar versuchte er, sich weiterhin mit mir zu unterhalten, und ich gab mein Bestes, um ihn von seinen Schmerzen abzulenken, aber mir entging nicht, dass seine Worte immer schleppender wurden und er manche Fragen mehrmals stellte. Ihn zu mehr Eile anzutreiben, traute ich mich nicht, schließlich weiß ich, wie furchtbar es ist, mit einer Verletzung zu reiten.
Für einen Moment schiebe ich die wenige Zeit, die uns noch bleibt, um unsere Vorhaben in die Tat umzusetzen, beiseite. Solange das Gasthaus halbwegs annehmbar und nicht wanzenverseucht ist, werden wir hierbleiben, bis Garreth sich erholt hat.
Während wir auf dem Weg zum Gasthaus sind, das am Rande des Dorfes liegt, lege ich die Hand auf Caligram. Wie immer spüre ich Varyans Anwesenheit in meinen Gedanken. Ich öffne mich ihm und zeige ihm das Dorf, in dem wir uns befinden, und die unmittelbare Umgebung.
›Wie weit ist es noch bis zum Herzholzhain?‹ , frage ich.
›Ich schätze, noch etwa eine Tagesreise. Zwei allerhöchstens. Ihr müsst nur durch den Wald im Norden. In seiner Mitte befindet sich der Herzholzhain.‹
Beinahe bin ich überrascht über diese klare Aussage, schließlich bekam ich von ihm die letzte Zeit über nicht mehr als vage Richtungen genannt. Doch ich begnüge mich mit der Erklärung, dass er vermutlich dieses Dorf erkannt hat und sich deshalb besser orientieren kann.
Ich werfe einen Blick zur Seite. Wann immer es die schmalen Gässchen des Dorfes zulassen, halte ich meinen Rappen so nah wie möglich an Garreths Pferd. Mein Begleiter ist nun derart blass, dass ich befürchte, er könnte jeden Moment aus dem Sattel kippen. Sein Blick ist unfokussiert; mehrmals fallen ihm die Augen zu, als wehre er sich mit aller Kraft gegen eine drohende Ohnmacht.
Auch das zeige ich Varyan. ›Wir werden länger als zwei Tage brauchen. Garreth muss sich dringend ausruhen und erholen.‹
Innerlich stelle ich mich bereits auf eine Diskussion ein, schließlich war es bisher so, dass Varyan gar nicht schnell genug zum Herzholzhain gelangen konnte. Zumindest war das mein Eindruck, immerhin trieb er uns unermüdlich an und schickte uns in Richtungen, die ich ohne seine Weisung niemals beschritten hätte. Stattdessen spüre ich nun sein Nicken und seine Zustimmung, die sich warm in mir ausbreitet und mich beruhigt.
›Er sieht tatsächlich nicht gut aus‹ , sagt er.
Ich gebe ihm recht. ›Hoffentlich hat sich die Wunde nicht entzündet.‹
Denn dann wüsste ich nicht, was ich tun soll. Garreth hat bestimmt die passenden Mittelchen gegen eine Entzündung, aber wenn er zu weggetreten ist … Ich finde mich bei den gan zen Phiolen und Tiegeln in seiner Tasche beim besten Willen nicht zurecht. Außerdem würde uns eine Entzündung noch weiter in meinem Zeitplan zurückwerfen.
Ich reibe mir mit der Hand über die Stirn, während ich die Strecke und die damit verbundene Zeit überschlage, die wir bis nach Valencia benötigen – vorausgesetzt, wir treffen bald im Herzholzhain ein und die Schmiede wissen tatsächlich mit Caligram umzugehen. All diese Unsicherheiten lasten schwer auf mir, weshalb ich es eigentlich vermeide, über sie nachzudenken.
Und nun mit Garreths Verletzung … Ich stoße den Atem aus.
›Darf ich dir eine Frage stellen?‹ , will Varyan wissen.
Ich bin verwirrt darüber, dass er mich vorher um Erlaubnis bittet, haute er mir doch die letzten Male seine Meinung ungewollt um die Ohren.
›Warum hast du der Hexe gesagt, du würdest Caligram bloß für drei Monate brauchen?‹ Varyans Stimme klingt vorsichtig, als wäre er sich nicht mehr sicher, ob er diese Frage nun doch stellen soll, obwohl ich ihm die Erlaubnis gegeben habe. ›Andere, die versuchten, Caligram an sich zu bringen, hätten das Schwert behalten wollen. Allein es zu besitzen, hätte ihnen Ruhm und Ansehen eingebracht. Aber du … willst es freiwillig zurückbringen.‹
›Höre ich da einen Vorwurf?‹ , hake ich nach.
Ich meine zu spüren, wie er sich unwohl windet und seine aufkommenden Emotionen im letzten Moment vor mir verbirgt. Ich erhasche bloß einen winzigen Einblick in ihn; zu wenig, um damit etwas anfangen zu können.
›Ich bin der Letzte, der etwas dagegen hätte, diesem verdammten See nie wieder zu nahe zu kommen.‹
›Wieso? Schadet dir die Seeluft? Ist sie der Grund für den ganzen Rost?‹
Ich schmunzele über meine kleine Spitze, die mir einen Hauch Normalität zwischen uns zurückbringt, die ich gerade dringend brauche, doch Varyan findet meinen Spott offenbar nicht witzig.
›Ich wünschte, du hättest diesen Handel niemals vorgeschlagen.‹
Ich verdrehe die Augen. ›Ach, komm schon. Die Aussicht auf dem Felsen war doch ganz nett.‹
Während unserer letzten Gespräche hatte ich das Gefühl, Varyan würde mehr auf mich eingehen und sich mir besser anpassen, sodass ich ihn nicht mehr als störenden Fremdkörper in meinem Kopf wahrnahm. So war es auch bis eben, doch nun ist es, als würde er dichtmachen und sich vor mir abschotten. Von einer Sekunde auf die andere wird er zu einem Eindringling, der nichts in meinen Gedanken zu suchen hat und gegen den mein Körper sich zu wehren beginnt. Ein stechender Kopfschmerz breitet sich in meinen Schläfen aus.
›Ein Gefängnis‹ , knurrt er, ›ist und bleibt ein Gefängnis, ganz egal wie nett die Aussicht sein mag.‹
›Gefängnis?‹ , echoe ich und runzele die Stirn. ›Was meinst du damit?‹
Er schnaubt. Ich hatte gehofft, diesen abwertenden Laut so schnell nicht mehr von ihm hören zu müssen, doch offenbar habe ich mich geirrt. Anfangs war sein abfälliges Schnauben gefühlt die einzige Art, wie er mit mir kommunizierte. Und jedes Mal fühlte ich mich herabgewürdigt, ohne dass ich etwas entgegenzusetzen hätte.
›Glaubst du etwa, ich wäre freiwillig in diesem verdammten Schwert?‹
›Nicht wirklich, aber –‹
›Es ist mein Gefängnis‹ , fällt er mir ins Wort. ›Für alle Ewigkeit.‹
Mein Stirnrunzeln vertieft sich. ›Was hast du getan, um diese Strafe zu verdienen?‹
Bestrafungen sind mir nicht fremd. Ich war bereits bei einigen Auspeitschungen und sogar Enthauptungen zugegen, die jedoch nur schlimmen Verbrechern wie Ketzern und Hochverrätern vorbehalten sind. Doch davon, dass jemand in ein Schwert eingesperrt wurde, habe ich noch nie gehört. Überhaupt wären dazu einzig magische Wesen fähig.
Wie Hexen.
Während ich darüber nachdenke, geht mir auf, dass ich mich noch nie wirklich gefragt habe, warum Varyans Geist im Schwert steckt. Anfangs dachte ich, es sei die Stimme Caligrams, aber er machte mir schnell deutlich, dass er nicht das Schwert sei. Dennoch habe ich Caligram bisher nicht als sein Gefängnis angesehen. Nun macht es jedoch Sinn.
›Was hast du getan?‹ , wiederhole ich. ›Was ist geschehen, dass die Hexe dir dieses Schicksal aufbürdet?‹
Das kann doch nicht bloß damit zu tun haben, dass er seinen Teil des Handels nicht eingehalten hat … Auch mir hat die Hexe Konsequenzen angedroht – Konsequenzen, denen ich mich niemals stellen will! –, aber eine Ewigkeit verbannt in ein Schwert ist … ziemlich hart.
Andererseits …
Wie ich Varyan einschätze, hat er die Hexe auf irgendeine Weise zusätzlich gegen sich aufgebracht. Selbst mich hatte er manches Mal so weit, dass ich ihn auf den Mond gewünscht hätte, nur um seine Gemeinheiten nicht mehr hören zu müssen.
Er schnaubt wieder. ›Seid ihr nicht bald bei diesem verdammten Gasthaus, damit du mich endlich in Ruhe lässt?‹
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Seine wütenden Worte treffen mich nicht so stark, wie sie sollten, denn ich spüre, wie er es darauf anlegt, dass sie mich verletzen. Meine Fragen kratzen zu nah an einer Wahrheit, die er mir nicht anvertrauen will. Eine Wahrheit, die er vehement vor mir zu verbergen versucht. Das sollte ich akzeptieren, dennoch lässt die Neugier mich nicht los. Welches Vergehen ist so schrecklich, dass es diese Form der Bestrafung rechtfertigt?
Gedanklich gehe ich unsere Unterhaltungen durch. Die ersten endeten stets im Streit, deshalb habe ich zu wenig darauf geachtet, was er sagte; ich war zu sehr damit beschäftigt, ihn zu hassen. Dafür, dass nur ich damit gestraft war, ihm zuhören zu müssen. Für seine Überheblichkeit. Seine Selbstverliebtheit. Schon wenn ich bemerkte, dass er den Mund aufmachte, flammte Widerwillen in mir auf, doch ich war außerstande, mich ihm völlig zu entziehen.
Schließlich fällt es mir ein. Das war, als er mich beleidigte, wie ich so dumm sein und mit einer Hexe einen Handel schließen könnte. Dabei ist er derjenige, der diese Dummheit vor mir begangen hat – und nun offensichtlich die Konsequenzen zu tragen hat.
›Du hast deinen Teil des Handels nicht erfüllt. Aber das kann nicht alles sein, oder? Wie lautete der Handel, den du mit der Hexe eingegangen bist?‹
›Bitte.‹ Mir stockt der Atem, als ich dieses Wort, noch dazu in einem solch flehenden Ton von ihm vernehme. Nie zuvor habe ich diesen Tonfall bei ihm gehört. Er klingt gleichzeitig flehend und müde. ›Kümmere dich um Garreth und lass mich in Ruhe.‹
Ich sollte es akzeptieren. Aber die Frage, welches Vergehen so schlimm sein muss, dass eine Hexe ihn dazu verdammt hat, für immer in einem Schwert gefangen zu sein, lässt mich nicht los.
Doch ich beuge mich seinem Wunsch, nicht zuletzt, weil wir endlich das Dorf durchquert haben und beim Gasthaus angelangt sind. Es ist nicht viel mehr als eine zweistöckige Hütte, die ich im Vorbeireiten niemals als Schenke wahrgenommen hätte. Kein anderes Pferd ist davor angebunden. Ich hoffe, dass dies kein schlechtes Vorzeichen ist … Aber ich bin so müde und erschöpft von den letzten Kämpfen, dass ich notfalls sogar auf der kalten Erde schlafe. Nur gegen etwas Warmes und halbwegs Genießbares zu essen hätte ich nichts einzuwenden.
Doch es geht nicht bloß um mich. Garreth ist derjenige, dem meine Sorge gilt. Solange es für ihn ein Zimmer gibt, begnüge ich mich mit allem.
Ein letztes Mal streiche ich mit den Fingern über Caligram und entlocke Varyan dadurch ein Seufzen, das weniger müde und genervt klingt, als er sich während unseres Gesprächs eben noch angehört hat. Es ist meine Art, mich bei ihm zu entschuldigen; die Worte könnte ich nie aussprechen. Eine Entschuldigung würde Schwäche bedeuten, und als schwach will ich nicht von ihm angesehen werden. Denn dann würde er mich bloß noch härter piesacken, wann immer sich ihm eine Gelegenheit bietet.
Ich kann nicht mehr genau sagen, worüber wir uns gestritten haben. Es geschieht einfach, sobald wir ein längeres Gespräch führen.
Vielleicht sind wir nicht dafür gemacht, miteinander zu reden.
Vielleicht sind wir nicht dafür ausgelegt, überhaupt miteinander zurechtzukommen.
Aber als Korven uns das zweite Mal angriff und ich Varyan mehr oder weniger freiwillig die Kontrolle überlassen musste, war da eine Verbundenheit. Dieses Gefühl war … unbeschreiblich. Bevor er zu kämpfen begann, fühlte ich mich ihm für den Bruchteil eines Augenblicks sogar verbundener als je einem anderen Menschen zuvor. Es war, als wären unsere Rollen für kurze Zeit vertauscht gewesen: Ich war diejenige, die in seinem Kopf war, während er mich als Fremdkörper ertragen musste. Und ich konnte einen kleinen Blick auf ihn erhaschen – auf den Mann, der er einst gewesen sein muss, bevor er in ein magisches Schwert verbannt wurde.
Dieses Gefühl, dieses Verständnis für ihn möchte ich erneut spüren. Es ist allemal besser, als wütend auf ihn zu sein, schließlich werden wir noch knapp zwei Monate miteinander zu tun haben.
›Wenn Garreth sich ausruht, wollen wir dann gemeinsam trainieren?‹
Das ist das beste Friedensangebot, das ich zustande bringe. Es ist weit mehr, als ich für gewöhnlich anbiete, und kostet mich Überwindung. Trotzdem ist es mir ein Bedürfnis, ihm zumindest eine Hand zu reichen. Mir geht der flehende Tonfall, mit dem er mich bat, nicht weiter nachzubohren, nicht mehr aus dem Kopf.
Wir sind vielleicht nicht dazu gemacht, miteinander zu reden, aber ich hätte nichts gegen eine Wiederholung der Übernahme. Ich möchte mich noch ein Mal mit ihm derart verbunden fühlen, als wären wir eins.
Auf Varyans Schweigen füge ich hinzu: ›Du hast es versprochen.‹
›Na gut‹ , grummelt er, nachdem er mich noch ein paar Sekunden hat zappeln lassen. ›Aber nur, wenn du keine dummen Fragen stellst.‹
Ich ziehe eine Grimasse. ›Woher soll ich wissen, wann es sich um eine dumme Frage handelt?‹
›Jede Frage ist dumm, wenn sie mit mir zu tun hat. Und nun hilf Garreth aus dem Sattel, ehe der arme Junge noch im Schlamm landet.‹
Ich verdrehe die Augen, stimme ihm aber insgeheim zu. Allerdings kaufe ich ihm nicht ab, dass er sich um Garreths Wohlergehen sorgt. Es geht ihm lediglich darum, mich zum Schwei gen zu bringen. Dennoch tue ich ihm den Gefallen. ›Dann bis morgen.‹
›Ja … bis morgen.‹
Ich breche beinahe unter Garreths Gewicht zusammen, als ich ihm aus dem Sattel und anschließend die knarzenden Stufen in den ersten Stock des Gasthauses hinauf helfe, wo sich die Zimmer befinden. Er ist derart geschwächt, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten kann, und sein ganzer Körper glüht vor Fieber.
Bei jedem Schritt, den wir viel zu langsam zu seiner zugewiesenen Kammer zurücklegen, überhäufe ich mich mit Vorwürfen. Mir hätte sein Zustand früher auffallen müssen. Ich hätte mehr Rücksicht auf ihn nehmen sollen. Wir Knappen mussten auch mit Blessuren und Fieber am täglichen Training teilnehmen, selbst wenn wir kaum allein stehen konnten, aber Garreth ist aus anderem Holz geschnitzt als ich. Durch sein Wissen in der Heilkunde wird er nie eine bedrohliche Krankheit durchlebt haben, und dank seines Reichtums sind ihm körperliche Entbehrungen wie Hunger oder Erschöpfung fremd.
Ich habe ihn nicht nur tagelang zu einem Tempo angehalten, das er kaum schaffen konnte, ich habe auch seine Verletzung zu wenig beachtet, nachdem sein Körper bereits von Hunger und Schlafmangel geschwächt war.
Kein Wunder, dass er nun schlappmacht.
»Du musst durchhalten, hörst du?«, raune ich ihm zu, als ich die Tür zu einer winzigen Kammer öffne.
Die Tür schlägt gegen eine schmale Pritsche, die ich nicht als Bett bezeichnen würde, und ich habe meine liebe Not, einen kräftigen Kerl wie Garreth hineinzubugsieren. Ein Fenster gibt es nicht, bloß einen niedrigen Schemel, auf dem eine Kerze steht. Die Luft ist stickig, es riecht muffig.
Wenn ich eine Wahl hätte, würde ich auf dem Absatz kehrtmachen und Garreth hier rausschaffen. Doch dies ist das einzige Gasthaus des Dorfes, und wenn Varyan recht hat, ist es auch das letzte, bevor wir den Herzholzhain erreichen. Wenn ich Garreth also nicht ein weiteres Mal auf feuchtem Waldboden schlafen lassen will, bleibt mir keine Wahl, als diese Kammer anzunehmen.
Vorsichtig lasse ich ihn auf der Pritsche nieder, die sogleich ein gefährliches Ächzen von sich gibt. Beinahe rechne ich damit, dass sie unter Garreths Gewicht zusammenbrechen wird, doch wie durch ein Wunder hält sie stand, auch als ich Garreth behutsam dazu bringe, dass er sich hinlegt. Sein Arm hängt auf den Boden hinunter, weil die Pritsche ihm nicht genug Platz bietet.
Leise vor mich hin fluchend über diese billige Absteige öffne ich den Verschluss seines Umhangs. »Ich muss dir das Hemd ausziehen und mir deine Verletzung ansehen.«
Er nickt zwar, wobei ich mir allerdings nicht sicher bin, ob er mich verstanden hat. Seine Atmung geht abgehackt, während Schweißperlen auf seiner Stirn stehen.
Flink öffne ich die Verschlüsse seines Hemdes, bin aber vorsichtig, als ich es ihm von der Schulter streife. Die Wunde hat wieder geblutet – ziemlich stark sogar –, und das Blut hat sich mit dem Stoff verkrustet. Wenn ich zu ruppig bin, riskiere ich, dass die Wunde erneut aufreißt.
Ich atme scharf ein, als ich ihm sein Hemd so weit ausgezogen habe, um das Ausmaß der Verletzung zu sehen. Es ist sogar noch schlimmer, als ich befürchtet habe. Die Wundränder sind dunkelrot und ein dunkles Muster hat sich um die Eintrittsstelle gebildet. Auch der gelbliche Eiter, der herausfließt, sobald ich auf die Haut in der Nähe drücke, macht mir Sorgen.
Als Antwort beginnt er am ganzen Körper zu zittern. Schnell breite ich den Umhang über ihm aus, denn eine Decke gibt es nicht.
Garreth hat sicherlich in seiner Tasche etwas, was gegen die Entzündung hilft und sein Fieber senkt. Wenn ich nur wüsste, wie ein solches Mittel aussieht …
»Ich bin gleich wieder da.«
Als ich mich bereits zur Tür umgewandt habe, streckt Garreth die Hand nach mir aus. »Ragna … Lasst mich nicht allein.«
Meine Schuldgefühle fressen mich schier auf und ich bleibe stocksteif stehen. Wie schlimm muss sein Fieber sein, wenn er mich für seine Prinzessin hält? Um ihn in diesem Zustand nicht weiter zu verstören, knie ich mich, so gut es in der winzigen Kammer möglich ist, neben die Pritsche und nehme seine ausgestreckte Hand.
»Ich bin hier, Liebster.«
Erleichtert stößt er den Atem aus und lässt sich zurück auf die Pritsche sinken. »Ich hatte Angst, Ihr würdet mich verlassen.«
»Niemals«, versichere ich ihm. »Ich werde nur kurz nach jemandem suchen, der dir helfen kann. Aber ich bin sofort wieder da. Mach dir keine Sorgen und ruh dich aus.«
Ich lehne mich vor und hauche ihm einen Kuss auf die Stirn, die sich heiß und feucht unter meinen Lippen anfühlt.
Mir ist nicht wohl dabei, ihm etwas vorzuspielen. Wenn ich ihm jedoch ein paar Sorgen dadurch nehmen kann, werde ich eben für eine Weile zu Ragna. Auch mir ging es stets besser, wenn ich Batur an meiner Seite wusste.
Ich warte, bis Garreths Atem halbwegs gleichmäßig geht, ehe ich aus der Kammer schleiche.
Im Erdgeschoss frage ich die Wirtin nach dem Verbleib unse rer Pferde, und sie weist mir den Weg zu einem Stall, der direkt hinter das Gasthaus gebaut wurde.
Nur Garreths und mein Pferd stehen hier unter. Ich tätschele meinem Rappen den Hals. »Immerhin ihr habt es warm und trocken«, murmele ich.
Und versorgt wurden sie ebenfalls, wie mir sein genüssliches Kauen beweist. Ich verziehe den Mund. Wenigstens den Pferden geht es gut, was ich bei dem Preis, den ich zähneknirschend aus meinem Münzbeutel fischen musste, auch hoffen will.
Garreths Tasche finde ich bei seinem Sattel, der neben der Pferdebox steht. Da ich keine Ahnung habe, wozu die darin enthaltenen Tränke und Salben gut sind, schultere ich die gesamte Tasche und hoffe inständig, dass Garreth so weit bei Bewusstsein ist, dass er mir bei der Auswahl helfen kann.