KAPITEL 18

Varyan

O bwohl ich zurück in die Dunkelheit falle, als Mira den Kontakt zu Caligram unterbricht, fühle ich mich nicht derart hilflos wie sonst. Es beruhigt mich zu wissen, dass sie bloß nebenan ist und gleich zurückkommt. Und sich wieder neben mich legt. Auch wenn ich keinen Körper besitze, reicht mir allein die Vorstellung ihres Körpers neben meinem aus, um mich befreiter zu fühlen.

Eben haben wir zum ersten Mal eine richtige Unterhaltung geführt, ohne uns gegenseitig zur Weißglut zu bringen. Es war so viel besser, als ich es mir vorgestellt habe. Beinahe als hätten wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Deshalb konnte ich die Frage nach ihrem Aussehen auch nicht gänzlich zurückhalten.

Hin und wieder erhaschte ich einen Blick auf unsere Umgebung, wenn sie es mir gestattete; manchmal gelang es mir auch ohne ihre Erlaubnis. Aber sie sah ich nie. Kein Spiegel, keine Wasseroberfläche. Alle Frauen, mit denen ich bisher zu tun hatte, konnten gar nicht genug von ihrer eigenen Erscheinung kriegen und starrten ungeniert jederzeit in einen Spiegel.

Aber nicht Mira. Es kam mir vor, als würde sie bewusst ihr Spiegelbild meiden. Wenn sie nicht gerade Caligram berührte und ich allein in der Dunkelheit war, dachte ich darüber nach, was wohl der Grund dafür sein könnte. War sie etwa hässlich? Entstellt? Hatte sie eine zu große Nase? Oder einen fiesen Ausschlag?

Für mich war klar, dass es einen Grund geben musste. Als mir die Frage nach ihrem Aussehen herausrutschte, hätte ich die Worte am liebsten zurückgenommen und tief in mir eingeschlossen. Doch gleichzeitig wollte ich Gewissheit haben. Ich musste mich mit eigenen Augen davon überzeugen, wie schlimm es um ihr Äußeres stand.

Hätte es etwas für mich geändert? Vermutlich nicht. Doch ohne die Gewissheit grub mein Bewusstsein in der Einsamkeit immer neue Gründe dafür aus, warum ich nie etwas von ihr sah. Jeder Grund war grotesker als der vorherige.

Das Abbild, das sie mir nach einigem Zögern schließlich zeigte, war jedoch alles andere als entstellt. Natürlich könnte sie mich belogen und mir ein Trugbild offenbart haben, aber dazu hätte sie keinen Grund.

Statt auf eine entstellte, unsichere Frau, die ihr eigenes Spiegelbild nicht ertragen konnte, starrte ich auf eine erhaben und stolz wirkende und noch dazu wunderschöne Kriegerin. Sicherlich, Mira entspricht nicht dem weiblichen Schönheitsideal meiner Zeit – und wahrscheinlich auch nicht dem jetzigen –, aber in meinen Augen ist sie perfekt. Sie ist keines von diesen zarten Dingern, die von einem Windstoß umgeweht werden. Oder die dann anfangen zu jammern, dass ihre Frisur durcheinandergeraten könnte.

Diese Art von Frauen konnte ich nie länger als eine Nacht ertragen.

Zum Glück kamen meine Eltern nie auf die Idee, mich an ein solches Frauenzimmer zu verheiraten. Ansonsten hätte ich wohl freiwillig den Tod auf dem nächsten Schlachtfeld in Kauf genommen. Aber ich war sowieso zu beschäftigt mit meinen Kämpfen und Eroberungsplänen; Heirat stand weit unten auf meiner Liste der Dinge, um die ich mich kümmern musste.

Wäre mein Schicksal ein anderes gewesen, hätte ich bereits eine Verlobte gehabt? Hätte ich dann anders gewählt? Oder wäre es mir schlichtweg egal gewesen, weil ich sowieso nichts für meine Verlobte empfunden hätte?

Liebe ist ein Gefühl, das ich zeit meines Lebens weder gespürt noch verstanden habe. Ich bin ein Meister im Schwertkampf und ein herausragender Stratege und Heerführer, aber die Liebe ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Deshalb habe ich auch meine Weissagung mit einem müden Schulterzucken abgetan. Was interessierte es mich, welche Frau einst in mein Leben treten würde? Mir ging es einzig und allein um die Siege, die ich in hoffentlich nicht zu ferner Zukunft erringen würde.

Darüber wusste die Priesterin nichts zu sagen. Also nahm ich mein Schicksal in die eigene Hand. Mir war früh klar, dass ich zu Höherem bestimmt war, als bloß der einzige Sohn und Thronfolger Lerthaus zu sein. Ich wollte mehr . Mehr als dieses waldige Land voller Ackerbau.

Reichtum kümmerte mich nicht, Macht hingegen … Ja, der Macht war ich verfallen, nachdem ich sie zum ersten Mal kostete. Seit ich mir meinen Posten als Heerführer erarbeitet hatte, wollte ich mehr. Ich brauchte mehr. Kein Posten, keine Auszeichnung, kein Sieg war gut genug, ganz gleich wie sehr mich die anderen dafür beglückwünschten oder beneideten.

In meinem Kopf setzte sich die Idee eines geeinten Königreichs fest. Ein Wagnis, das noch nie ein Herrscher eingegangen ist. Soweit ich es aus unseren Schriften entnehmen konnte, hatte noch niemand je versucht, alle Reiche unter einem Herrscher zu einen.

Ich würde der Erste sein. Mir würde es gelingen. Und mein Name würde in die Geschichtsbücher eingehen. Ich würde ein glorreiches Königreich erschaffen, neben dem Lerthau wie eine mickrige Grafschaft aussah.

Und alles würde mir gehören.

Mir allein.

Auch ohne Körper glaube ich, meine Finger vor Vorfreude kribbeln zu spüren. Die Krone war so nah … Ich konnte sie beinahe berühren. Sie war mein. Sie war für mich bestimmt.

Doch sie verschwand aus meiner Reichweite, bevor ich sie ergreifen konnte. Gestohlen von meinem eigenen Hochmut. Weil ich dachte, cleverer als ein Kind der Götter zu sein.