KAPITEL 19

Delmira

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BIS ZUM ERSTEN VOLLMOND

G arreth schläft, als ich auf leisen Sohlen seine Kammer nebenan betrete. Die Holztür quietscht, deshalb öffne ich sie nur so weit, dass ich mich durch den Spalt schieben kann.

So vorsichtig wie möglich nähere ich mich der Pritsche, hocke mich neben ihn und lege ihm eine Hand auf die Stirn. Erleichtert atme ich auf, als sie sich kühler anfühlt als noch während meines letzten Besuchs. Auch die Wunde an seiner Schulter scheint nicht mehr geblutet zu haben, wie mir der saubere Verband verrät.

Um Garreth nicht doch noch zu wecken, verlasse ich seine Kammer, bloß um anschließend unschlüssig auf dem Korridor herumzustehen. Ich brauche dringend Schlaf; meine Augen brennen bereits vor Müdigkeit. Und es gibt keinen Grund, warum ich nicht zurück in meine Kammer gehen sollte.

Doch das Gespräch mit Varyan hängt mir nach. Noch immer kann ich nicht glauben, dass gerade er der Held meiner Kindheit sein soll! Aber noch schlimmer ist die Tatsache, dass er zu viel über mich weiß. Ich will mir lieber nicht ausmalen, was er alles mitgekriegt hat, ohne dass ich es bemerkt habe.

Normalerweise wäre mir das egal; das, was ich bisher erlebt habe, ist kein Geheimnis. Es sollte mich nicht kümmern, dass er womöglich genauso viel über mich weiß wie ich selbst. In etwas mehr als zwei Monaten werde ich nichts mehr mit Caligram – und mit ihm – zu tun haben. Und wer weiß, wann nach mir wieder jemand mit ihm kommunizieren kann, dem er von mir erzählen könnte.

Diese Erkenntnis beruhigt mich allerdings nicht. Vielmehr zieht sie mich so weit runter, dass ich beinahe in meine Kammer haste, um die Hand auf die Schwertklinge zu legen.

Ich habe am eigenen Leib erfahren, was Einsamkeit mit einem anstellen kann. Ich konnte mich ablenken, indem ich wie eine Wahnsinnige trainiert und gelernt habe. Doch Varyan kann nichts dergleichen tun. Sein Geist ist gefangen in einem Schwert, umgeben von nichts als Dunkelheit. Täglich unzähligen Händen ausgesetzt, als Caligram noch im Stein steckte. Wenn er all diese Hände wirklich spüren konnte … Ein eisiger Schauer rinnt mir bei der bloßen Vorstellung den Rücken hinunter.

Obwohl wir in der Vergangenheit öfters aneinandergeraten sind, empfinde ich Mitleid mit Varyan. Und ich verstehe ihn. Seine Ruppigkeit macht das zwar nicht wett, trotzdem will ich mir nicht ausmalen, was diese Form von Gefangenschaft mit mir angestellt hätte. Wahrscheinlich wäre ich noch bösartiger als Varyan geworden und hätte nach einem Weg gesucht, mein Leiden zu beenden.

Als ich meine Kammer betrete, nehme ich mir vor, netter zu ihm zu sein. Oder es zumindest zu versuchen. Für knapp zwei weitere Monate bin ich die Einzige, mit der er Kontakt haben kann. Die er hören und die ihn verstehen kann. Und die ihm einen Teil der Welt zeigen kann, die er nicht mehr betreten kann.

In meiner Kammer lege ich mich zurück auf die Pritsche und streiche mit dem Zeigefinger so lange über die schartige und unebene Klinge, bis ich Varyans zufriedenes Seufzen höre. Dieser Laut entlockt mir ein Lächeln.

›Da bist du wieder‹ , sagt er.

Ich kann seinen Tonfall nicht deuten. Freut er sich darüber oder hätte er lieber seine Ruhe?

Als die Bewegung meines Fingers ins Stocken gerät und ich ihn schon fast zurückziehen will, murmelt er: ›Nein. Hör nicht auf.‹

Ich bewege meinen Finger weiter. ›Es muss schrecklich für dich gewesen sein, ständig angefasst zu werden. Wenn du es nicht willst, dass ich –‹

›Hör. Nicht. Auf.‹

Also tue ich es nicht.

›Geht es Garreth besser?‹ , fragt er nach einer Weile, während der ich meinen Finger mehrmals an der Klinge auf und ab habe gleiten lassen.

Ich öffne meine Gedanken für ihn und zeige ihm Garreths verbesserten Zustand, der mir zwar immer noch Sorgen bereitet, mich jedoch nicht mehr in Panik versetzt. ›Er ist noch nicht über den Berg, aber seine Tränke scheinen anzuschlagen. Zum Glück ist er Heiler. Ich hätte nicht gewusst, wie ich ihm bei einer Entzündung der Wunde hätte helfen sollen.‹

›Du sorgst dich um ihn.‹

Ich rolle mich auf der Pritsche zusammen. ›Er ist mein Freund. Natürlich sorge ich mich um ihn. Ohne Garreth säße ich nach wie vor in dieser heruntergekommenen Absteige, ohne wirkliche Perspektive.‹

›Das hast du schon einmal erwähnt. Wieso warst du in dieser Absteige?‹

Die Bewegung meines Fingers gerät ins Stocken. ›Weil ich … jemanden gesucht habe.‹

›Dieser Jemand muss dir wichtig sein.‹

Ich nicke zögerlich. ›Er ist … mir sehr wichtig. Und wenn diese Reise vorbei ist und Garreth seine Prinzessin geheiratet hat, werde ich ihn weitersuchen. So lange, bis ich ihn gefunden habe.‹

Varyan gibt ein Brummen von sich. ›So wichtig, ja?‹

Sein zweifelnder Tonfall trifft einen Nerv bei mir, ohne dass ich den Grund dafür kenne.

›Gab es zu deiner Zeit bereits die Weissagungen?‹, wechsele ich wenig geschickt das Thema.

Varyans stutzendes Zögern lässt mich wissen, dass er meinen plumpen Versuch durchaus durchschaut hat. ›Ja.‹

›Hat sich deine bewahrheitet?‹ Als er mir nicht antwortet, füge ich schnell hinzu: ›Ich frage dich nicht nach dem Inhalt deiner Weissagung. Ich möchte nur wissen, ob sie sich bewahrheitet hat, als du … noch gelebt hast.‹

›Nein.‹

Ich stoße geräuschvoll den Atem aus. ›Seit ich Garreth kenne und dabei zusehe, wie er vehement für die Erfüllung seiner Weissagung kämpft, frage ich mich, ob ich vielleicht zu wenig getan habe. Ob ich mich … nicht genug angestrengt habe. Fragst du dich das ebenfalls? Oder ist es dir gleichgültig?‹

›Das sollte es sein, nicht wahr?‹ , antwortet er leise. ›Schließlich kann ich nicht mehr zurück, um es besser zu machen.‹

›Würdest du es?‹ , hake ich nach. ›Dich mehr anstrengen, wenn du die Chance hättest.‹

›Vermutlich nicht.‹

Seine ruhige und gleichzeitig vorsichtige Antwort lässt mich hart schlucken. Ich bin im Sinne der Weissagungen erzogen worden. Sie zu erfüllen, sollte meinen Lebensinhalt darstellen, damit ich glücklich werden kann. Denn sie sind der Wille der Götter. Das, was sie für uns geplant haben. Doch nicht immer wird uns unser Schicksal in den Schoß gelegt. Manchmal müssen wir dafür arbeiten – so wie Garreth es tut.

Als ich eines Morgens allein aufwachte, kroch das Gefühl in mir hoch, dass es meine Schuld ist. Dass ich mich nicht genug angestrengt oder etwas falsch gemacht habe. Dass ich mich in den Augen der Götter nicht als würdig genug erwiesen habe und sie mir deshalb meinen Schicksalsgebundenen wieder genommen hatten.

›Hat sich denn deine Weissagung bereits erfüllt?‹ , fragt Varyan.

Ich murmele eine Zustimmung.

›Und bist du glücklich mit ihrem Ausgang?‹

Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet und weiß im ersten Moment nicht, wie ich darauf antworten soll.

Darauf bedacht, dass Varyan nichts von meinem inneren Zwiespalt mitbekommt, gehe ich in mich. Als ich mit Batur zusammen war, war ich glücklich, das kann ich nicht bestreiten. Aber handelte es sich dabei um ein solches Glück, wie es die Götter in unserem Schicksal vorhergesehen haben? Oder war es ebenso flüchtig wie unser Zusammensein? Könnte ich wieder glücklich werden, wenn ich Batur finde? Oder werde ich stets im Hinterkopf haben, dass ich jeden Morgen allein aufwachen könnte?

›Ich weiß es nicht‹ , gebe ich zu.

›Ich kenne den Inhalt deiner Weissagung nicht und ich will ihn auch nicht hören.‹ Varyan zögert, als wähle er seine nächsten Worte mit Bedacht, was sehr ungewöhnlich für ihn ist. Innerlich versteife ich mich bereits. ›Aber vielleicht hat sich deine Weissagung noch nicht erfüllt, wenn du nicht glücklich bist.‹

Ich balle die freie Hand zur Faust. ›Das hat sie. Sie hat sich erfüllt.‹

›Wenn du meinst …‹

Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich darüber nach, meinen Finger von der Klinge zu nehmen, da höre ich bereits Varyans alarmiertes Flehen in meinem Kopf.

›Nicht! Bitte … nicht. Ich … werde nichts mehr dazu sagen.‹

Behutsam lege ich einen Finger nach dem anderen an den kalten Stahl. Varyans zufriedene Laute lassen mich meinen Unmut beinahe vergessen.

Ich lausche ihnen eine Weile, ehe ich frage: ›Warum möchtest du, dass ich das Schwert berühre? Ich dachte, es wäre unangenehm für dich, ständig betatscht zu werden.‹

›Bei dir ist es anders‹ , sagt er. Seine Stimme klingt beinahe wie das Schnurren einer Katze. ›Deine Hände sind nicht so grobschlächtig und brutal wie die der Männer, die pausenlos versucht haben, Caligram aus dem Stein zu ziehen.‹

Ich runzele die Stirn. Meine Hände sind alles andere als weich oder sanft, sondern rau und schwielig durch das jahrelange Führen meines Schwertes. Aber ich beschließe, nicht weiter nachzuhaken. Sollte ich es doch tun, wird von Varyan bloß eine anzügliche Bemerkung folgen, die mich wieder wütend macht.

Während ich mit den Fingern über die alte Klinge fahre, werden meine Augen schwerer und schwerer. Vorhin konnte ich nicht schlafen, weil mich Korvens und der Anblick des toten Bauern verfolgten.

Nun streifen sie nur flüchtig mein Bewusstsein, als würden sie von etwas – oder jemandem – davon abgehalten werden, gänzlich in meinen Kopf eindringen zu können.

Dennoch spüre ich ihre stumme Mahnung, ebenso wie die Gewissheit, dass die Erinnerungen über mich herfallen, sobald ich unaufmerksam werde. Aber viel länger kann ich nicht mehr wach bleiben …

›Könntest … du mit mir reden?‹ , bitte ich Varyan.

›Worüber denn?‹

›Ganz egal. Erzähl mir irgendetwas. Lenk mich ab von … allem anderen.‹

Für die Dauer einiger Herzschläge herrscht in meinem Kopf eine gespenstische Stille, die ich nicht mehr gewohnt bin, sobald ich Caligram berühre. Als ich glaube, mit meiner Bitte zu weit gegangen zu sein, will ich mich entschuldigen, doch da höre ich Varyans tiefe, wohlklingende Stimme wieder. Er spricht ruhig und ohne Eile und erzählt mir von der Welt, wie er sie kannte und formen wollte. Eine Weile höre ich ihm gebannt zu, dabei lässt mich der getragene Klang seiner Stimme in einen Schlaf gänzlich ohne Albträume abdriften.

Als ich am Morgen erwache, fühle ich mich so erholt wie seit … keine Ahnung, seit wie lange nicht mehr. Ich konnte durchschlafen, ohne dass Garreth neben mir aus Angst vor nächtlichen Waldgeräuschen zusammengezuckt ist. Und ich wurde ebenso nicht wach, um die Hand nach der kalten Leere auszustrecken, ohne meinen Schicksalsgebundenen neben mir vorzufinden.

Stattdessen liegen meine Finger immer noch an Caligrams Klinge, und als ich vollends zu mir komme, höre ich auch jetzt noch Varyans Stimme.

›Danke‹ , sage ich, als er eine kurze Pause macht.

›Du bist wach.‹

›Ja. Du hast … mir wirklich geholfen. Auch wenn ich mich bloß an die ersten paar Minuten deiner Erzählungen erinnern kann.‹

›Das trifft sich gut‹ , entgegnet er mit einem unüberhörbaren Grinsen in der Stimme. ›Mir gingen nämlich langsam die Anekdoten aus. Aber so kann ich sie einfach wiederholen, solltest du erneut meine Hilfe benötigen.‹

Der Gedanke, dass ich ihn nur zu bitten brauche, damit er aufs Neue die Albträume von mir fernhält, lässt mich lächeln. Einzig Varyan kann ich darum bitten; wahrscheinlich fällt es mir bei ihm leichter, weil er bloß eine Stimme ist. Bei keinem anderen könnte ich mir diese Schwäche erlauben, selbst bei Batur oder Garreth nicht.

Ich setze mich auf, fahre mir mit der freien Hand durchs Haar und reibe mir über die Augen, die nun nicht mehr vor Müdigkeit brennen, sondern deren Blick klar und fokussiert ist.

›Ich werde gleich nach Garreth sehen. Wollen wir danach trainieren?‹

›Gern. Auch ohne eigenen Körper wird mir die Bewegung guttun.‹

›Dann bis gleich.‹

›Ich freue mich darauf.‹

Garreth ist bereits wach, als ich in seine Kammer trete. Sein Blick wirkt zwar noch ein wenig glasig, aber er antwortet mir auf meine Fragen nach seinem Zustand in ganzen Sätzen und stützt sich auf die Unterarme, um die fremde Umgebung in Augenschein zu nehmen.

»Wie lange sind wir schon hier?«, fragt er stockend.

»Erst eine Nacht.« Mit sanftem Druck gegen seine Schulter bringe ich ihn dazu, sich wieder hinzulegen. »Und wir bleiben so lange, bis du dich gänzlich erholt hast.«

Sein Fieber ist so weit gesunken, dass ich mir keine Sorgen mehr darum mache. Als ich den Verband wechsele, sieht auch die Wunde bei Weitem besser aus als gestern. Vorsichtig streiche ich eine andere Salbe darauf, die Garreth mir gewiesen hat, ehe ich sie erneut verbinde.

»Du bist wahrlich ein gesegneter Heiler«, sage ich. »Ich hatte noch nie mit einer Wunde zu tun, die so schnell heilt.«

Garreths Wangen erröten leicht unter meinem Lob. »Ich muss mich bald auf die Suche nach neuen Kräutern machen, sonst stehen wir bald ohne meine Salben und Tränke da.«

»Vielleicht findest du die Zeit dazu, wenn wir endlich im Herzholzhain ankommen und auf Caligrams Restauration warten.«

Er dreht den Kopf und starrt auf seine ineinander verkrampften Hände. »Habe ich … dich für Ragna gehalten? Oder war das bloß ein verdammt wirrer Traum, den ich am besten nicht zur Sprache gebracht hätte?«

Nachdem ich den Verband verknotet habe, greife ich nach Garreths Hand und drücke sie. »Es gibt nichts, wofür du dich schämen musst. Ich freue mich, wenn ich dir etwas Trost spenden konnte.«

Garreth zieht die Augenbrauen zusammen. Seine Hand verkrampft sich in meiner. »Ich bin bemitleidenswert, nicht wahr?«, murmelt er so leise, dass ich ihn beinahe nicht verstehe.

Aber ich verstehe ihn, begreife jedoch nicht, was er damit sagen will. »Was?«

»Ich bin kein Mann, nach dem sich die Frauen umdrehen. Obwohl ich ein Eslinger bin, ging nie ein Verlobungsangebot für mich ein. Egal, wo ich bin, ich werde übersehen. Ich bin kein Mann, für den eine Frau alles stehen und liegen lässt, sobald er verschwindet, wie du es für Batur getan hast. Als Korven uns angriff, war ich völlig nutzlos und wurde obendrein verletzt. Nun musst du mich auch noch verarzten! Nicht einmal das kriege ich hin, obwohl Heilung doch das Einzige ist, was ich kann. Worin ich gut bin. Was mich ausmacht. Und trotzdem …«

Er entzieht mir ruckartig seine Hand und bedeckt mit beiden sein Gesicht, als würde er mir seinen bloßen Anblick ersparen wollen. Seine breiten Schultern beben vor zornigen Schluchzern, die er mit aller Macht zurückhält. Als er spricht, klingt seine Stimme gedämpft und belegt.

»Ich bin nutzlos. Bemitleidenswert. Nicht gut genug.« Sein Körper versteift sich. »Für Ragna werde ich nie gut genug sein. Nicht in eintausend Jahren.«

Sein Ausbruch trifft mich unvorbereitet. Natürlich habe ich bemerkt, dass Garreth aus anderem Holz geschnitzt ist als ich. Während ich von Anfang an die Konfrontation suchte, damit niemand bemerkte, was in mir vorging, und dieses Wissen gegen mich nutzen konnte, muss Garreth alles in sich hineingefressen haben. Hatte er überhaupt je einen Freund gehabt, dem er sich anvertrauen konnte? Oder lebte er als Heiler der Königsfamilie bloß für seine Arbeit?

Ich habe ihn nie gefragt, das wird mir jetzt erst klar. Obwohl ich mich als seine Freundin bezeichnet habe, habe ich mich doch nur oberflächlich für ihn interessiert. Ich könnte es darauf schieben, dass ich keine Erfahrung darin habe, eine Freundin zu sein, aber das wäre Garreth gegenüber nicht fair.

Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und warte geduldig, bis er sich beruhigt und die Hände gesenkt hat. Es fällt mir schwer, diese Geduld aufzubringen, denn es dauert eine gefühlte Ewigkeit. Doch ich zwinge mich dazu, so viel Ruhe auszustrahlen, wie ich in mir finden kann.

»Es tut mir leid«, sage ich schließlich.

Für einen Moment huscht Garreths Blick zu mir, ehe er stumm die Wand uns gegenüber anstarrt.

»Als wir aufgebrochen sind«, fahre ich fort, »ging es mir nur darum, den Auftrag so schnell wie möglich hinter mich zu bringen und ganz viel Gold von dir zu erhalten. Als ich Caligram herausziehen konnte, war ich so sehr mit Varyan beschäftigt, dass ich dich völlig vergessen habe. Ich dachte, dass du schier platzen musst vor Glück, während ich mit der verdammten Stimme geschlagen bin, die bloß ich hören kann. Ich war froh darüber, dass wenigstens du dich freutest. Aber offenbar bist du nicht glücklich. Ich bin eine furchtbare Freundin, weil ich das nicht früher bemerkt habe. Bitte verzeih mir.«

Garreths Mundwinkel zucken. »Es ist nicht so, dass ich unglücklich wäre. Es ist nur …« Geräuschvoll stößt er den Atem aus. »Prinzessin Ragna wird genauso enttäuscht von mir sein, wie du es bist.«

Ich runzele die Stirn. »Warum glaubst du, ich wäre enttäuscht von dir?«

Endlich dreht er den Kopf zu mir und sieht mich an. Eine unendliche Traurigkeit lässt seine sonst warmen honigbraunen Augen stumpf und trostlos wirken. »Weil ich nutzlos bin. Weil ich dich nicht beschützen konnte, als …«

»Du vergisst etwas Entscheidendes«, falle ich ihm ins Wort. »Ich bin deine Leibwächterin. Dafür hast du mich angeheuert – um dich zu beschützen. Ich bin diejenige, die dich vor Gefahren bewahren muss. Also bin ich diejenige, die sich entschuldigen muss, denn du wurdest verletzt, weil ich meiner Aufgabe nicht gut genug nachgekommen bin.«

Ein vorsichtiger Glanz schleicht sich in das Braun seiner Augen.

Ich rutsche näher zu ihm, sodass ich den Kopf gegen seinen lehnen kann. »Du bist kein Kämpfer, Garreth. Ich erwarte nicht, dass du dich oder mich verteidigst. Das ist ganz allein meine Aufgabe. Du hast andere Talente, als ein Schwert zu schwingen.«

»Und welche wären das?«, hakt er in säuerlichem Tonfall nach.

»Du bist ein begnadeter Heiler«, sage ich. »Ohne deine ganzen Mittelchen hätte ich dich vielleicht nicht retten können. Ich kann mir wahrscheinlich nicht vorstellen, wie viele Leben du bereits gerettet hast. Du bist sanftmütig und geduldig, ganz im Gegensatz zu mir. Ich hätte die Schikanen der bellvorschen Prin zessinnen niemals so lange ertragen wie du, sondern sie ihre eigene Medizin schmecken lassen.«

Er entspannt sich und schmiegt dadurch seinen Kopf fester an meinen. »Aber was mache ich, wenn Prinzessin Ragna meine angeblichen Tugenden nicht sieht? Wenn sie lieber einen glorreichen Helden will als … jemanden wie mich?«

»Prinzessin Ragna ist keine Frau, in die du dich zufällig verguckt hast«, sage ich. »Sie ist deine Schicksalsgebundene. Glaub mir, sie wird erkennen, welch wundervoller Mann du bist, sobald sie die Gelegenheit hatte, dich kennenzulernen. Schicksalsgebundene finden immer den Weg zueinander.«

Seine Atmung geht gleichmäßig, während er schweigt und über meine Worte nachdenkt.

Auch ich genieße diesen Moment der Ruhe. Doch etwas fehlt. Ich vermisse das Gefühl, nicht allein in meinem Kopf zu sein. Ich vermisse Varyan. Ob er mir zustimmen würde, könnte er uns zuhören? Oder ob er anderer Meinung wäre, wie so oft? Vielleicht frage ich ihn nachher während unseres Trainings. Vielleicht bringe ich es auch gar nicht zur Sprache, weil ich mich nicht traue.

Diese Zurückhaltung kenne ich nicht von mir. Normalerweise sage ich stets, was ich denke – was bei Varyan ja ein und dasselbe ist. Ich wäge nicht erst ab, ehe ich den Mund öffne. Doch ihm gegenüber tue ich das mittlerweile, ohne dass ich weiß warum. Ist es, weil ich nicht erpicht darauf bin, wieder von ihm beleidigt zu werden? Oder weil ich die hauchdünne Verbindung, die wir nach dem Kampf gegen Korven und letzter Nacht aufgebaut haben, nicht mit einer unbedachten Bemerkung zunichtemachen will?

»Weißt du«, sagt Garreth, während er nach meiner Hand greift, »wenn wir beide unsere Schicksalsgebundenen nicht bereits gefunden hätten, würden wir gar kein so schlechtes Paar abgeben.«

Ich blinzele verwirrt. Hastig schlucke ich den Kommentar, dass er für mich höchstens als knuddeliger kleiner Bruder durchgehen würde, hinunter. Aber ganz unrecht hat er nicht: Eine ruhige, langmütige Person wie Garreth könnte mich erden. Trotzdem wäre er mir auch dann nicht aufgefallen, wenn es Batur nicht gäbe, und romantische Gefühle hätte ich nie für ihn entwickelt.

Jemand, der mein Temperament ausgleicht, täte mir vielleicht gut, aber ich hielte es nicht lange mit ihm aus.

Ich brauche jemanden, der mich herausfordert und anspornt. Der mich an meine Grenzen und darüber hinaus treibt. Bei dem ich ich sein kann.

Jemand, der nur dazu da ist, um meine Ecken und Kanten auszugleichen, damit ich in der Gesellschaft besser zurechtkomme, wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte. Ich würde mich eingeengt fühlen, unter Zwang, mich anpassen und verändern zu müssen.

Ich dachte, einen solchen Mann in Batur gefunden zu haben. Nein, ich bin mir sicher , ihn in ihm gefunden zu haben!

Ich runzele die Stirn über meine eigenen Gedanken. Zum Glück hat Varyan sie nicht gehört … Er würde mich damit bloß aufziehen.

Ich tätschele Garreths Hand. »Du solltest dich noch eine Weile ausruhen. Wenn es dir besser geht, reisen wir weiter. Varyan meinte, dass es nicht mehr weit bis zum Herzholzhain ist.«

Ich rutsche zur Seite, damit Garreth genug Platz hat, um sich auf der Pritsche auszustrecken.

»Bist du sicher, dass er uns tatsächlich zum Herzholzhain führt?«, fragt er.

Mein Stirnrunzeln vertieft sich. »Was meinst du damit?«

Garreth verzieht den Mund. »Nur so eine Ahnung … Ich hatte die letzten Tage das Gefühl, nicht voranzukommen. Ich kann Varyans Stimme nicht hören, also bin ich auf deine Führung angewiesen, aber es kam mir vor, als würde er uns falsch leiten.«

Eine ähnliche Ahnung hatte ich auch, verwarf sie jedoch gleich wieder. »Wieso sollte er das tun?«

Garreth zuckt mit den Schultern, verzieht allerdings sogleich schmerzerfüllt das Gesicht. »Woher soll ich das wissen? Ich höre ihn nicht. Vielleicht habe ich mich auch geirrt.«

Ich erhebe mich und gehe zur Tür. »Ruh dich aus. Ich sehe nachher wieder nach dir und bringe dir etwas zu essen mit.«

Noch ehe ich die Tür zu Garreths Kammer hinter mir geschlossen habe, überschlagen sich meine Gedanken. Hat er recht mit seiner Vermutung? Mir kam sie ebenfalls, doch ich schob sie beiseite, weil es für Varyan keinen Grund gab, uns zu täuschen. Immerhin war es seine Idee, zum Herzholzhain zu reisen. Ohne seinen Hinweis hätte ich es noch bei einigen normalen Schmieden versucht und wäre jedes Mal gescheitert.

Als ich meine Kammer nebenan betrete, nehme ich mir fest vor, Varyan direkt zu fragen.