KAPITEL 22

Varyan

D er Eintopf schmeckt scheußlich. Und doch ist er das Beste, was ich seit einer Ewigkeit gegessen habe. Deshalb schaufele ich Löffel um Löffel hinein, während ich innerlich von Schuldgefühlen zerfressen werde, die ich nicht haben dürfte.

Bisher hielt ich diesen Garreth für einfältig, vielleicht sogar dumm. Damit, dass er mich durchschauen könnte, hätte ich nie gerechnet. Hätte ich meinen wahren Körper, wäre ich vermutlich auf ihn losgegangen, damit er keine weitere wahre Anschuldigung hätte vorbringen können. Ich hätte ihn zum Schweigen gebracht. Doch Miras Körper hätte das unmöglich durchgestanden. Selbst den Löffel zu halten, stellt ihre Hand vor eine Herausforderung. Mira benötigt dringend Schlaf, auch deshalb beeile ich mich mit dem Essen.

Immer wieder muss ich überprüfen, ob sie noch wach ist. Sollte ihr Bewusstsein einschlafen, wäre das fatal. Sie könnte verschwinden, und sobald ich die linke Hand von Caligram nehme, wäre ihr Körper nichts weiter als eine seelenlose Hülle.

Der Gedanke, dass ich ihren Körper komplett übernehmen könnte, kommt mir zwar flüchtig, doch ich schiebe ihn schnell beiseite. Nicht bloß weil ich keinen weiblichen Körper haben will, sondern auch wegen des magischen Zeichens an ihrem Handgelenk. Der erste der drei Monde ist beinahe voll. Wäre ich in ihrem Körper, würde mich die Strafe der Hexe dennoch ereilen. Drei Monate sind es mir nicht wert, dafür Miras Leben aufs Spiel zu setzen, denn es würde mein Problem nicht lösen.

Nachdem ich die Schale mit dem scheußlichen Eintopf geleert habe, schleppe ich mich die Holzstufen hinauf in den ersten Stock. Mira weist mir den Weg zu ihrer Kammer.

Ich stoße die Tür auf und schaue auf die schmale Pritsche. ›Da drin haben wir zusammen gelegen?‹ , witzele ich.

Ich spüre die leichte Hitze, die bei meinen Worten von ihr ausgeht, und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es ist zu einfach, sie zu ärgern, trotzdem bereitet es mir diebische Freude. Aber nicht nur das: Mit einer Frau im Bett zu liegen – und sei es nur in meiner Vorstellung –, ist ein weiterer Lichtstrahl in meinem dunklen Gefängnis. Ein Lichtstrahl, von dessen Erinnerung ich zehren kann, sollte Mira Caligram gerade nicht berühren. Wie meine sonstigen Erinnerungen an mein früheres Leben bewahrt mich auch diese davor, mich völlig zu verlieren.

›Diese Pritsche ist verdammt unbequem‹ , murrt Mira, ›aber gerade lockt sie mich mehr, als jede valencianische Sirene es vermag.‹

Ich verkneife mir den Einwurf, dass die sagenumwobenen valencianischen Sirenen bloß Männer in die Fluten locken, und setze mich stattdessen auf die Pritsche, um Mira die Stiefel auszuziehen.

Als das geschafft ist, halte ich inne: ›Was soll ich noch ausziehen?‹

Ich höre sie angestrengt schlucken. So kalt und berechnend sie während eines Kampfes auch erscheinen mag, so unsicher wirkt Mira in solchen Situationen. Ich frage mich, warum das so ist. Zwar war ich nicht dabei, als dieser Korven sie bedrängte, aber in ihren Erinnerungen, die sie mit mir teilte, wirkte sie ruhig und wartete auf den richtigen Zeitpunkt zum Gegenangriff. Ich gehe also nicht davon aus, dass sie in derartigen Situationen den Kopf verliert. Doch warum scheint es gerade so?

›Es genügt, wenn du den Gürtel öffnest‹ , teilt sie mir mit. ›Den Rest lasse ich an.‹

Ich zögere. ›Deine Kleidung starrt vor Schmutz von der Reise und dem Training.‹

›Daran kann ich im Augenblick nichts ändern.‹

Ihr Bewusstsein wird schwächer, deshalb verstricke ich sie in keine Diskussion, sondern öffne bloß die Gürtelschnalle. Ihr Geist zuckt kurz zusammen, als ich dabei mit den Fingern über ihren Bauch streiche. Sobald ich diese Bewegung wiederhole, zuckt sie erneut.

Ich schmunzele. Ob es sich für sie ebenso anfühlt, wenn ich eine Reaktion auf ihr Streicheln nicht unterdrücken kann? Lächelt sie dann ebenfalls, wenn sie versucht, mir eine weitere zu entlocken?

Ich ziehe die Hand zurück, positioniere ihren Körper irgendwie so, dass der Großteil auf die Pritsche passt, und lege Caligram auf den Boden daneben.

Bevor ich Mira wieder die volle Kontrolle über ihren Körper geben kann, fragt sie: ›Was machst du da?‹

›Dich schlafen lassen‹ , antworte ich.

›Gab es nicht noch ein paar Anekdoten, die du mir erzählen wolltest?‹

Verstohlen atme ich auf und beginne zu erzählen, nachdem ich ihrem Bewusstsein Platz gemacht habe. Zwar dauert es nur wenige Herzschläge, bis Mira in einen tiefen Schlaf fällt, aber das hindert mich nicht daran weiterzureden. Mit jedem Wort halte ich die dunklen Erinnerungen und finsteren Albträume von ihr fern.