WENIGER ALS EINE
WOCHE
BIS ZUM ERSTEN
VOLLMOND
G arreth und mir bleibt nichts anderes übrig, als uns ein paar weitere Tage in der Herberge einzuquartieren. Die Wunde meines Begleiters heilt zwar, aber nicht so schnell, wie wir beide es gern hätten. Hinzu kommt meine körperliche Schwäche, die mich zwei volle Tage ans Bett fesselt. Sogar mich hochzuquälen, um mich im Nachttopf zu erleichtern, stellt mich vor ungeahnte Herausforderungen.
Glücklicherweise hält Varyan sich mit Bemerkungen wie »Ich habe es dir ja gleich gesagt« zurück. Die könnte ich gerade nicht ertragen, und das scheint er zu merken. Allgemein redet er nicht viel, obwohl meine Hand nahezu unentwegt auf Caligram ruht, sobald wir unter uns sind.
Nur wenn ich mich mit Garreth im Gastraum im Erdgeschoss zu den Mahlzeiten treffe, lasse ich Caligram zurück in meiner Kammer. Jede Sekunde, die ich nicht das gewohnte Gewicht des Schwertes an meinem Gürtel oder die Beschaffenheit seiner schartigen Klinge unter meinen Fingern spüre, werde ich rastloser. Es ist, als würde mir ein lebenswichtiger Teil fehlen, ohne den ich nicht richtig funktionieren kann. Dabei ist das völliger Blödsinn.
Leider fallen auch Garreth meine Rastlosigkeit und die ständigen Blicke die Holztreppe hinauf auf, während ich ungeduldig darauf warte, dass er sein Mahl beendet.
»Wir sollten uns unterhalten, Mira«, sagt er, als er so langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, eine Scheibe Brot mit Honig bestreicht.
Es fehlt nicht viel und ich hätte ihm die Scheibe und das Messer aus den Händen gerissen, um es selbst – und zügiger – zu schmieren. Um dieses Vorhaben nicht in die Tat umzusetzen, ringe ich die Hände im Schoß und starre auf den Teller vor mir, den ich in Windeseile geleert habe, um zurück in meine Kammer zu können.
»Worüber?«, frage ich, obwohl ich die Antwort bereits kenne.
Varyan . All unsere Gespräche der letzten Tage drehten sich um ihn. Manchmal unterschwellig, manchmal sehr direkt. Keines davon habe ich genossen, denn Garreth hat ein unvergleichliches Gespür dafür, den Finger direkt auf die Wunde zu legen. Eine Wunde, von deren Existenz ich nichts wusste, bis er mehrmals zu nah an einer Erkenntnis gekratzt hat, vor der ich die Augen verschließe.
»Du weißt, worüber«, entgegnet Garreth.
Ich stoße den Atem aus. »Bist du es nicht leid, mir erzählen zu wollen, wie schädlich er für mich ist?«
Garreths Miene wirkt mit einem Mal traurig und resigniert zugleich. »Das wäre ich, würde ich mich nicht ständig selbst in dir sehen.«
Ich runzele die Stirn. »Was meinst du damit?«
Er wischt meine Frage mit einer Handbewegung beiseite. »Beantworte mir bloß eine Frage: Magst du Varyan?«
Ich verpasse den nächsten Atemzug, woraufhin mein Herz seltsame Kapriolen schlägt. »Was?«, wiederhole ich.
»Magst du ihn?«
Hastig presse ich ein gequältes Lachen hervor. »Wie kommst du auf die Idee? Ich meine, er hat uns den Hintern gerettet. Ohne seine Hilfe hätte ich nie gegen Korven und seine Männer bestehen können und wir beide wären jetzt Rabenfutter. Außerdem wüssten wir wahrscheinlich nichts von den Handwerkern, die es vielleicht im Herzholzhain gibt, und …«
»Das meine ich nicht, Mira, und das weißt du genau.«
Ich schlucke angestrengt und greife zeitgleich nach meinem Becher Wasser, weil sich mein Mund wie ausgedörrt anfühlt. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Kaum dass ich die Worte ausgestoßen habe, trinke ich derart hastig, dass ich mich verschlucke und husten muss.
Garreth wirft mir einen mitleidigen Blick zu. »Als ich meiner Familie gesagt habe, dass ich alles daransetzen werde, um Prinzessin Ragna zur Frau zu nehmen, haben sie mich bloß ausgelacht und sich von mir abgewandt. Keiner von ihnen wollte mir glauben, dass sie diejenige ist, die die Götter für mich bestimmt haben, aber das ist nicht wichtig. Das Einzige, was zählt, ist, dass ich es weiß.« Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Ich fühlte mich damals unverstanden und allein gelassen. Es liegt mir fern, jetzt selbst zu handeln wie meine Familie und dich diese Gefühle durchleiden zu lassen.«
»Ich durchleide gar nichts«, gebe ich grummelnd zurück.
Garreth übergeht meinen Einwurf. »Varyan schadet dir. Ich wünschte, du hättest dich vor ein paar Tagen nach dem Training sehen können. Du wirktest wie der Tod persönlich!«
»Das war nicht Varyans Schuld«, halte ich dagegen. »Er wollte bereits Stunden zuvor eine Pause einlegen oder das Training ganz beenden, doch ich habe ihn angefleht weiterzumachen. Er kann sich so viel besser bewegen als ich. Ich wollte von ihm lernen. Ihn beobachten.«
Garreth zieht die Augenbrauen zusammen. »Was meinst du damit?«
Ich versuche ihm zu erklären, wie es für mich ist, sobald Varyan die Kontrolle übernimmt. Zu welchen Leistungen mein Körper unter seiner Führung fähig ist. Doch selbst dabei gerate ich ins Stocken. Nicht nur weil ich es einem Außenstehenden unmöglich beschreiben kann, sondern …
… weil mir aufgeht, dass ich die Verbindung vielleicht noch aus einem anderen Grund als dem Training genossen habe.
Entschieden schüttele ich den Kopf, als könne ich den Gedanken dadurch vertreiben.
»Er ist ein Verbündeter«, sage ich bestimmt. »Ich würde ihn noch nicht mal als Freund bezeichnen.«
Garreth hebt eine Augenbraue. »Du bist eine schlechte Lügnerin.«
Ich knirsche mit den Zähnen und gebe anschließend ein Schnauben von mir. »Und du bist auf dem Holzweg. Wie sollte ich denn jemanden mögen, den ich noch nie gesehen habe?«
Garreth schweigt. Jeder Augenblick, den er mich mit einem Ausdruck von Missbilligung mustert, zieht sich ins Unendliche, bis ich mich unruhig auf meinem Schemel winde.
»Ich hätte dich nicht für derart oberflächlich gehalten«, sagt er schließlich.
Ich verdrehe die Augen. »Sagt derjenige, der sich auf den ersten Blick in eine Valencianerin verliebt und bisher kein einziges Wort mit ihr gewechselt hat. Sei mir nicht böse, aber ich werde mich von dir nicht als oberflächlich bezeichnen lassen.«
Garreth erhebt sich. »Manchmal«, murmelt er, als er sich bereits abwendet, »verlieben wir uns mit den Augen. Manchmal mit der Seele. Niemand kann sagen, welche Art die bessere ist.«
Ich verziehe den Mund. »Erspare mir deine Weisheiten.«
Ich weiß selbst nicht, warum ich derart gereizt reagiere. Es fühlt sich an, als würde Garreth zielsicher ein ums andere Mal Salz in eine offene Wunde streuen, die einfach nicht heilen will.
Dass er recht hat, glaube ich keine Sekunde.