WENIGER ALS EINE
WOCHE
BIS ZUM ERSTEN
VOLLMOND
A ls ich mich wieder in meiner Kammer verschanze, indem ich einen erneuten Schwächeanfall vortäusche, fühle ich mich schrecklich, wie immer, wenn ich mit Garreth aneinandergerate. Wir streiten nicht oft, aber falls doch, dreht es sich stets um unsere Schicksalsgebundenen.
Ich seufze. An Batur habe ich seit Tagen nicht gedacht. Diese Erkenntnis verschlechtert meine Laune noch weiter, bis es sich anfühlt, als würde ich in einem dunklen Loch sitzen. Genervt von mir selbst lasse ich mich auf die Pritsche sinken. Wann habe ich aufgehört, nach ihm zu suchen? Wann ging es mir nicht mehr darum, möglichst genug Geld zusammenzuhaben, um ihn zu finden?
Doch das sind nicht die einzigen Fragen, die mich plötzlich beschäftigen und die ich seit Tagen von mir wegschiebe.
Welchen Zweck hat meine Reise mit Garreth nun? Geht es mir bloß darum, einem Freund einen Dienst zu erweisen? Darum, auf jeden Fall mein Wort zu halten? Oder darum, dieses verdammte Zeichen an meinem Handgelenk loszuwerden, damit ich wieder ein normales Leben führen kann? Doch wieso habe ich Varyan dann nicht mit Vorwürfen überhäuft, als er zugab, uns nicht den richtigen Weg zu weisen?
»Das kann nicht sein«, wispere ich in die Stille meiner Kammer. »Es geht ganz sicher nicht darum, dass ich diese Reise genieße.«
Ich könnte mich damit herausreden, dass es ein Abenteuer ist. Dass ich noch nie so weit wie jetzt von zu Hause fort war, und wahrscheinlich auch nie so viel gesehen hätte, wäre ich Garreth nicht begegnet. Im Dienste meines Lehnsherrn hätte ich höchstens die Grenzen der anderen Länder aus der Ferne gesehen; ich hätte sie nie überquert, denn ich war zu gut, als dass er mich an die Front verkauft hätte. Und ich hatte keinen Grund, ihm den Rücken zu kehren. Denn die Sehnsucht nach Abenteuer füllt weder meinen Bauch noch verschafft sie mir ein Dach über dem Kopf.
Ich wünschte, ich hätte endlich eine Antwort auf all diese Fragen und Garreths Aussagen, die mich noch mehr verunsichert haben. Ich suche fieberhaft nach einer Erklärung für mein Verhalten. Jede, die ich finde, fühlt sich im ersten Moment gut an, verkommt jedoch schnell zu einer Oberflächlichkeit. Keine Erklärung ist gut genug. Keine beantwortet mir die Frage, warum ich tatsächlich hier bin und mich in dieser Kammer verkrieche, anstatt darauf zu drängen, endlich weiterzureiten. Wieso ich nicht fuchsteufelswild darüber bin, dass die Reise viel länger dauert als angenommen. Weshalb mein Schicksalsgebundener nicht mehr derjenige ist, um den sich meine Welt dreht.
Egal, wie die Erklärungen lauten, eines ist gewiss: Garreth liegt falsch. Zwar kenne ich die genaue Antwort nicht, aber seine kann unmöglich die Wahrheit sein. Ganz sicher hat es nichts damit zu tun, dass ich Varyan mag! Ich habe meinen Schicksalsgebundenen gefunden. Wieso sollte ich jemanden mögen, den ich weder sehen noch anfassen kann? Das ergibt überhaupt keinen Sinn!
Ohne dass ich ihnen bewusst den Befehl dazu gegeben habe, tasten meine Finger auf der Pritsche Richtung Wand, wo ich Caligram in meinem Umhang verborgen zurückgelassen habe, als ich die Kammer verließ.
Kaum dass sie sich durch den Stoff gewühlt haben, spüre ich Varyans Anwesenheit in meinem Kopf. Ich schwanke zwischen dem Bedürfnis, erleichtert den Atem auszustoßen oder die Hand zurückzuziehen, genervt über ihr verdammtes Eigenleben. Stattdessen gleiten meine Finger so lange über den unebenen Stahl, bis ich ein zufriedenes Seufzen in meinem Kopf höre, das mir ein Lächeln auf die Lippen zaubert. Schnell presse ich selbige zusammen, um es zu vertreiben.
Was ist bloß los mit mir?
Genau diese Frage stellt Varyan ebenfalls. ›Alles in Ordnung?‹
In den letzten Tagen war ich regelrecht stolz darauf, dass es Gedanken und Gefühle gab, die ich erfolgreich vor ihm verbergen konnte. Entweder stelle ich mich jetzt ungeschickter an oder Varyan ging bloß nicht auf alles ein, was ich ihm in letzter Zeit unfreiwillig mitteilte.
›Alles bestens‹ , antworte ich kurz angebunden.
Er glaubt mir kein Wort, das spüre ich deutlich. Ich glaube mir nicht einmal selbst. Ich scheine nur noch aus Gegensätzen und unbeantworteten Fragen zu bestehen. So habe ich mich zuletzt in meiner Jugend gefühlt, als ich nirgendwo dazugehörte. Nun, als erwachsene Frau, die ihren Platz im Leben gefunden hat, sollte ich mich nicht derart verwirrt fühlen.
›Rede mit mir, Mira.‹
Varyans Stimme klingt so sanft, dass mich ein wohliger Schauer durchfährt, der alle unbeantworteten Fragen verstummen lässt. Sosehr ich diesen besonderen Klang seiner Stimme mag, so froh bin ich darüber, dass er sich nicht ständig so anhört, sonst stünde ich komplett neben mir.
Genervt von mir selbst reibe ich mir mit der freien Hand übers Gesicht und rufe mich stumm zur Ordnung. Es kann doch nicht sein, dass mich der bloße raue Klang seiner Stimme derart aus der Fassung bringt!
Ich nehme einen tiefen Atemzug. ›Ich habe mich mit Garreth gestritten. Nun, gestritten ist vielleicht nicht das richtige Wort. Wir vertreten unterschiedliche Standpunkte.‹
›Unterschiedliche Standpunkte worüber?‹
Genau wie Garreth, findet auch Varyan zielsicher meine klaffende Wunde. Oder stelle ich mich zu ungeschickt an, sie vor ihnen zu verbergen? Können die beiden Männer mich besser einschätzen als je ein Mensch zuvor?
›Über … unsere Reise‹ , sage ich ausweichend.
›Ihr solltet euch sputen.‹
›Ach, auf einmal?‹ , entgegne ich.
›Die Schmiedemeister des Herzholzhains sind begnadet und vielleicht sogar von den Göttern gesegnet, aber auch sie können keine Wunder vollbringen‹ , erklärt Varyan. ›Caligrams Restauration wird einige Tage, wenn nicht gar Wochen in Anspruch nehmen.‹
Ohne die Finger der linken Hand vom Schwert zu nehmen, betrachte ich das Zeichen auf meinem Handgelenk. In weniger als einer Woche ist der erste Vollmond. Meine Zeit läuft ab, während ich mich in dieser verdammten Kammer verkrieche und mir über sinnlose Dinge den Kopf zerbreche.
›Du hast recht‹ , gebe ich zu. ›Wir sollten uns beeilen.‹
Trotzdem bleibe ich sitzen, anstatt meine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken und Garreth notfalls mit Gewalt auf seinen Gaul zu setzen, der gemeinsam mit meinem im Stall der Herberge steht.
›Aber das ist nicht alles, nicht wahr? Deine Gedanken sind … wirr. Was beschäftigt dich?‹
Ich drehe meine rechte Hand so, dass ich das Zeichen nicht mehr erkennen kann. ›Vielleicht bereitet mir die Reise mit Garreth und … dir mehr Freude, als sie sollte. Vielleicht geht es mir nicht mehr darum, alles schnellstmöglich hinter mich zu bringen und anschließend meiner Wege zu gehen.‹
Eine Weile schweigt Varyan. Zwar spüre ich deutlich seine Anwesenheit, aber seine Stille beunruhigt mich.
›Wohin wirst du gehen, wenn all das hier vorbei ist?‹ , fragt er schließlich.
Ich schlucke angestrengt. ›Ich weiß es nicht.‹
Es kostet mich schier unendlich viel Überwindung, dies zuzugeben.
Mein ganzes Leben lang hatte ich eine Perspektive – erst wollte ich eine Leibwächterin meines Lehnsherrn werden, dann wollte ich mit meinem Schicksalsgebundenen zusammen sein. Beide Ziele haben sich erfüllt, sind mir jedoch durch die Finger geglitten. Ich jagte ihnen nach, dabei scheine ich mich irgendwo auf dem Weg verlaufen zu haben. Nun stehe ich an einem Scheidepunkt, ahnungslos, wie ich hierhergelangt bin. Jage ich weiter meinen alten Zielen nach? Oder lasse ich mich auf neue ein, ohne sagen zu können, was mich erwartet?
Könnte ich mich – einem Ketzer gleich – gegen meine Weissagung wenden und Batur gar aufgeben?
Hastig schüttele ich den Kopf. Woher kam denn dieser Gedanke bloß? Ich könnte Batur niemals aufgeben! Er ist derjenige, dem mein Herz gehört. Der mich versteht und der von den Göttern für mich als mein perfekter Partner auserkoren wurde. Wie kann ich derart vermessen sein und mich gegen ihren Willen stellen? Allein darüber nachzudenken, grenzt an Frevel.
Ich reibe mir mit der freien Hand über die Stirn. ›Es tut mir offenbar nicht gut, nur untätig herumzusitzen. Dann beginne ich, Dinge zu zerdenken.‹
›Manchmal ist es klug, einen Schritt zurück zu machen und die Dinge in anderem Licht zu betrachten.‹
Ich muss mich davon abhalten, einen abschätzigen Laut von mir zu geben. ›Sagt der Feldherr, der eine Schlacht nach der anderen geschlagen hat.‹
›Ich habe dennoch nachgedacht, bevor ich mich in einen Kampf gestürzt habe.‹ Einen Moment ist es still. ›Meistens, jedenfalls.‹
Mein Unmut verraucht ein wenig, als ich über sein Geständnis schmunzeln muss. ›Vor welchem Kampf hast du nicht nachgedacht?‹
›Als ich gegen Krom ins Feld zog‹ , gibt Varyan eine Spur zögerlich zu, als fürchte er sich vor der Erinnerung an diese Zeit. ›Ich hatte zuvor die Hexe des Herzholzhains um ihre Magie gebeten, die sie mir jedoch verwehrt hat. Ohne sie war es alles andere als leicht, die kromschen Streitkräfte zu schlagen.‹
Ich ziehe die Beine nah an den Körper und suche eine bequeme Position auf dem Bett, während ich überlege, was ich ihn zuerst fragen soll. Seine Magie reizt mich so sehr, dass die Frage nach ihr beinahe gewinnt. Letztendlich ist es jedoch Varyans Vergangenheit, die mich noch neugieriger werden lässt.
›Ich bin bisher keinem Kromer begegnet‹ , gebe ich zu. ›Sind sie wirklich so furchtbar, wie sich die Leute erzählen?‹
›Furchtbarer‹ , sagt er düster. ›Die Bewohner Kroms … Ich würde sogar so weit gehen, sie nicht als Menschen zu bezeichnen.‹
Ein eisiger Schauer durchfährt mich. Wenn Reisende bei meinem Lehnsherrn zu Gast waren, erzählten sie oft von den anderen Völkern. Von den naturverbundenen, spitzohrigen Lerthauern, den schönen, aber unnahbaren Valencianern und den Furcht einflößenden Kromern, deren Haut mit einem dichten Fell überzogen sein soll, was sie mehr Ähnlichkeit mit einem wilden Tier haben lässt als mit einem Menschen.
Varyan scheint meinen Gedanken zu folgen. ›Sie haben tatsächlich ein Fell. Zottelig und dick. Und sie kommunizieren bloß mit Lauten. Eine Sprache, wie wir sie kennen, habe ich nie bei ihnen gehört. Sie kämpften genauso wild, wie sie aussahen. Manchmal versetzten sie sich in einen regelrechten Blutrausch. Dabei lief ihnen ihr eigenes Blut aus den Augen und der Nase, während sie einen Gegner nach dem anderen abschlachteten.‹
Mein Körper versteift sich. Blut aus Augen und Nase … Ich kenne eine Krankheit, die ähnliche Symptome hervorruft. ›Es heißt, der Rote Tod habe seinen Ursprung oben im Norden, im Reich der Kromer.‹
›Vom Roten Tod höre ich immer mal wieder, wenn wir irgendwo haltmachen‹ , sagt Varyan. ›Zu meinen Lebzeiten gab es ihn nicht. Was genau ist er?‹
Es fehlt nicht viel und ich hätte die Hand zurückgezogen. Hastig verschließe ich vor ihm meine Erinnerungen an den schlimmsten Tag meines Lebens und den größten Frevel, den ich hätte begehen können.
›Eine Seuche‹ , sage ich. ›Der Rote Tod ist eine verheerende Krankheit, die bereits unzählige Opfer gefordert und ganze Landstriche Bellvors unbewohnbar gemacht hat. Deshalb werden die Grenzen sehr streng bewacht. Garreth und ich hatten es nicht leicht, nach Lerthau zu gelangen. Hier soll die Seuche weniger wüten als bei uns in Bellvor.‹
›Und ein fähiges Kerlchen wie Garreth hat noch kein Heilmittel gegen diese Seuche gefunden?‹ , spöttelt Varyan.
›Das ist nichts, worüber du Witze machen solltest‹ , gebe ich zurück.
Seine neckische Art verfliegt augenblicklich. Dann fragt er in ungewöhnlich sanftem Tonfall: ›Was ist geschehen?‹
Ich atme tief durch. Noch immer ist mein gesamter Körper angespannt, als warte jeder Muskel in mir darauf, dass ich weglaufe, wie ich es am liebsten an jenem Tag getan hätte. Wie ich auch vor meiner Erinnerung daran davonlaufen will. Jedoch kann ich mich vor ihr nicht verstecken. Ich habe es oft genug versucht. Zu viel Alkohol vertrieb sie für eine Zeit, nur damit sie anschließend noch härter über mich hereinbrach. Auch wenn ich jetzt sagte, dass Varyan nichts davon etwas anginge, würde sich die Erinnerung an jene Zeit dennoch in mir festsetzen. Nicht einmal seine Stimme wäre dann noch in der Lage, sie zu vertreiben.
›Als ich jung war‹ , beginne ich zögerlich, ›lebten meine Eltern und ich im nördlichen Bellvor. Es war eine friedliche Zeit, zumindest kann ich mich an keine Übergriffe der Kromer erinnern. Meine Mutter hatte als einzige Tochter das Landgut ihres Vaters geerbt. Es war nicht groß – zwei kleine Dörfer und ein paar Weiler –, aber wir hatten es gut. Ich liebte es, am See zu spielen und mir vorzustellen, ich wäre diejenige, die Caligram aus dem Stein gezogen hätte.‹
›Wolltest du nicht – wie andere Mädchen – lieber die Prinzessin sein, die vom schneidigen Prinzen und Caligram gerettet wird?‹
Ich schüttele den Kopf. ›So war ich nie. Meine Mutter versuchte ihr Bestes, mich zu einem sittsamen Mädchen zu erziehen, doch sie merkte schnell, dass sie mich damit nur einengte. Meine Eltern waren … einfach wundervoll. Glaube ich. Vielleicht erinnere ich mich auch bloß an die schönen Zeiten und verdränge all die Streitereien, die ich zweifelsohne ausgelöst habe. Jedenfalls baten sie mich irgendwann darum, nicht mehr die Burgmauern zu verlassen. Ich verstand den Grund nicht und war wütend darüber, dass ich nicht mehr am See spielen durfte. Trotzdem versprach ich ihnen, nicht nach draußen zu gehen. Meine Eltern legten großen Wert auf Versprechen. Nie haben sie ihre gegenüber mir oder einem Pächter gebrochen. Ich erinnere mich noch daran, dass ich so werden wollte wie sie. Dass ich immer zu meinem Wort stehen wollte. Aber als es wirklich darauf ankam, tat ich es nicht.‹
Als ich nicht weiterspreche, sagt Varyan sanft: ›Du bist zu dem See gegangen, nicht wahr?‹
Ich kralle die freie Hand ins Laken. ›Ja‹ , gebe ich heiser zu.
›Und deine Eltern … waren erbost darüber, dass du dein Wort nicht gehalten hast?‹
›Ich habe es versprochen‹ , wispere ich. ›Ich hätte mich daran halten sollen, obwohl ich den Grund für das Verbot nicht kannte. Der Rote Tod grassierte jenseits der Burgmauern. Meine Eltern hatten all jene ohne Anzeichen hineingelassen, achteten allerdings strikt darauf, dass niemand nach draußen ging. Bloß ich tat es … Weil ich mich langweilte. Und ich schleppte die Seuche ein.‹
Eine Weile ist es still. ›Was meinst du damit?‹ , fragt Varyan schließlich.
›Ich schämte mich dafür, dass ich mein Versprechen gebrochen hatte, wusste ich doch, wie viel Wert meine Eltern darauf legten. Deshalb traute ich mich nicht, ihnen zu erzählen, dass ich am See war. Als ich sie am nächsten Morgen wecken wollte …‹
Ich öffne meine Erinnerungen für ihn. Fast augenblicklich zieht Varyan scharf die Luft ein.
›Das … hast du gesehen?‹
Ich zittere am ganzen Leib, als die Szene vor meinem inneren Auge erscheint, die sich mir ins Gedächtnis gebrannt hat und die ich seitdem nicht auslöschen kann. Meine Eltern – tot in ihrem Bett, das blutgetränkt ist, während die roten Schlieren, die ihnen aus Augen, Nase, Mund und Ohren liefen, bereits getrocknet waren. Beinahe muss ich würgen, als mich die Erinnerung an den Gestank nach Blut überkommt, der mir das Atmen fast unmöglich machte und so schwer in der Luft hing, dass ich ihn auf der Zunge schmecken konnte. Seitdem gerate ich jedes Mal in Panik, sobald ich Blut rieche.
›Wie alt warst du damals?‹
Varyan stößt einen Fluch aus. ›Einen solchen Anblick wünsche ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind … Ich wage kaum zu fragen, aber was ist danach geschehen?‹
Das Zittern wird schlimmer. ›Ich stand da wie erstarrt. Dann versuchte ich, meine Eltern zu wecken. Ich schrie und weinte, als sie nicht reagierten. Eine Magd wurde auf mich aufmerksam, spähte zur Tür herein und verschloss sie dann hastig – mit mir darin.‹
›Was?‹ , fragt Varyan schockiert.
›Wahrscheinlich hatte sie Angst, sich ebenfalls mit der Seuche anzustecken … Ich kann nicht sagen, wie lange ich im Schlafzimmer meiner Eltern zusammen mit ihren toten Körpern eingesperrt war. Tage vermutlich. Ich hämmerte so lange gegen die Tür, bis meine Hände bluteten. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Aber niemand scherte sich um mich. Alle, die Zuflucht in unserer Burg gefunden hatten, packten in Windeseile ihre Habseligkeiten und machten sich aus dem Staub. Bloß ich blieb zum Sterben zurück.‹
›Aber du … hast überlebt.‹
›Ja‹ , gebe ich leise zurück. ›Irgendwie. Als ein Fremder die Tür zum Schlafzimmer aufbrach, war ich mehr tot als lebendig. Es war mir völlig gleichgültig, wer er war oder was er wollte. Solange er nur einen Schluck Wasser für mich hatte, wäre ich zu allem bereit gewesen.‹
Erneut grummelt Varyan einen Fluch. ›Wenn die Seuche ganze Landstriche verwüstet hat, wurden sicherlich Räuber angezogen, die die verlassenen Häuser und Burgen um ihre Habseligkeiten erleichtern wollten.‹
Ich bin vor Jahren zu einem ähnlichen Schluss gelangt – damals, als ich aufhörte, meinen Lehnsherrn bloß mit dem verklärten Blick des geretteten und auf ewig dankbaren Mädchens zu betrachten. Ich kann mich nicht mehr richtig an den Moment erinnern, als er mich rausholte. Da sind nur dunkle Schemen, die Wärme seines Umhangs, in den er mich wickelte, und tiefe Stimmen, die dagegen protestierten, dass er mich mitnahm. Wahrscheinlich war er mit mehreren Männern unterwegs, um die verlassenen Gebäude zu plündern. Dass er dabei ein Mädchen rettete, das womöglich die Seuche in sich trug, stieß auf Ablehnung. Dennoch brachte er mich in sein Heim, wo seine kinderlose Frau sich hingebungsvoll um mich kümmerte und mich aufpäppelte.
Anfangs wohnte ich in einer verlassenen Hütte auf dem fremden Burggelände, und die Herrin trug stets ein Tuch vor dem Mund, wenn sie zu mir kam.
Doch der Rote Tod zeigte sich nicht. Die Burg des Lehnsherrn war sicher, und somit war ich es ebenfalls. Zumindest sagten das alle. Ich solle froh sein, dass ich noch lebte. Ich solle nach vorn sehen.
Aber wie mir das gelingen sollte, sagten sie nicht. Wie konnte ich weitermachen, wenn ich allen, die ich je geliebt hatte, den Tod gebracht habe?
Varyans ruhige Stimme bewahrt mich davor, die Fassung zu verlieren. ›Es war nicht deine Schuld.‹
›Ach nein?‹ , grolle ich. ›Hätte ich mich an mein Versprechen gehalten, wären meine Eltern heute vielleicht noch am Leben.‹
›Das weißt du nicht‹ , sagt er. ›Die Seuche lauerte bereits vor euren Burgmauern. Jeder hätte sie einschleppen können.‹
Vehement schüttele ich den Kopf. ›Es war meine Schuld, und ich werde bis an mein Ende mit ihr leben müssen. Aber eine Sache habe ich mir damals geschworen: Nie wieder werde ich mein Wort brechen. Ganz gleich wie banal mein Versprechen auch erscheinen mag, ich werde es halten – koste es, was es wolle.‹
Varyan schweigt. Keine Ahnung, ob ich froh oder frustriert darüber sein soll. Letztendlich siegt die Frustration.
›Sag etwas‹ , bitte ich ihn.
Hätte ich die Worte tatsächlich aussprechen müssen, hätte ich mir vermutlich auf die Zunge gebissen, doch sie zu denken, fällt mir leicht. So vieles fällt mir leicht, wenn er in meinem Kopf ist. Würde er mir gegenüberstehen, wäre es anders. Dann würde ich mich verhalten wie immer: unnahbar und abweisend. Niemals würde ich um etwas bitten. Das ließe mich bloß schwach erscheinen. Und ich will nie wieder schwach sein.
›Was willst du von mir hören?‹ , entgegnet Varyan.
›Irgendetwas. Erzähl mir, wie du Magie erlernen konntest.‹
›Wolltest du nicht deine Sachen packen und weiterreisen?‹
Ich knirsche mit den Zähnen. ›Ich dachte, darüber wären wir hinaus.‹
›Worüber?‹
Mit einem genervten Seufzen richte ich mich auf. ›Dass du … mich abblockst. Ich dachte, wir wären so was wie Freunde.‹
Das dachte ich tatsächlich, das wird mir nun, da ich es ausspreche, klar. Doch bereits in dem Moment, als die Worte meinen Mund verlassen, wünschte ich, ich könnte sie zurücknehmen.
›Wir sind keine Freunde, Mira.‹ Varyans Stimme hat sich um mehrere Grad abgekühlt. ›Du bist bloß dummerweise die Einzige, die mich hören kann. Und ich bin nichts weiter als ein armer Tropf, dessen Geist in einem Schwert gefangen ist.‹
Die fragile Illusion der Freundschaft, die ich dachte mit Varyan zu haben, zerspringt bei seinen Worten in unzählige Splitter. Ich mache mir nicht die Mühe, sie aufzusammeln, und ignoriere das Stechen, das sich daraufhin in meiner Brust ausbreitet.
›Fein‹ , sage ich mit gespielter Gleichgültigkeit. ›Du wirst bis ans Ende aller Tage in diesem verdammten Schwert gefangen bleiben, denn ich werde niemals mein Versprechen gegenüber der Hexe brechen. Von mir aus kannst du da drin verrotten!‹
Ehe er etwas erwidern kann, nehme ich die Finger von Caligram und schlage das Schwert wieder in meinen Umhang ein, ohne es dabei zu berühren. Die kalte und endlose Leere in meinem Kopf verlangsamt die Bewegungen meiner Hände, aber ich höre nicht auf, Caligram so fest einzuwickeln, dass nirgends ein Stück Stahl zwischen dem Stoff hervorspitzt. Dabei dränge ich mit zusammengebissenen Zähnen das verfluchte Stechen in meiner Brust so weit zurück, bis es heißer Wut weichen muss.
Mit Wut kann ich umgehen.
Wut kenne ich schon mein ganzes Leben. Ich erinnere mich kaum noch an die Zeit, als ich sorglos und fröhlich war. Und bis auf vorhin, als ich meine Erinnerung mit Varyan teilte, habe ich diese Zeit auch nicht vermisst.
Nie hätte ich gedacht, dass es mir leichtfallen könnte, mit jemandem über die schlimmste Erfahrung meines Lebens zu reden, aber bei Varyan war es fast so einfach wie atmen. Zumindest bis ich wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet bin.
Ich fühle mich so unsagbar dumm. Warum habe ich Varyan überhaupt davon erzählt?
Fest reibe ich mir mit der Hand über die Brust, dort, wo knapp über meinem Herzen der stechende Schmerz am schlimmsten ist. Er will jedoch nicht verschwinden.
Ich schnaube, wütend über mich selbst. Mein Leben lang bin ich bestens ohne Freunde klargekommen! Wieso kümmert es mich also, dass Varyan sich nicht als meinen Freund ansieht? Ich sollte froh über diese Erkenntnis sein, schließlich bin ich endlich wieder allein in meinem Kopf und muss mir keine Gedanken darüber machen, was er sehen oder hören könnte.
Doch ich bin nicht froh oder erleichtert. Ich bin verletzt. Und wütend. Zum Glück bin ich wütend, denn sonst würde ich mich selbst nicht mehr erkennen.
Was ist aus der Frau geworden, die mit Armdrücken und Wetttrinken die jämmerlichen Gestalten in einer heruntergekommenen Herberge um ihre letzte Habe erleichtert hat? Was ist mit der Frau geschehen, die alles darangesetzt hat, ihren Schicksalsgebundenen zu finden? Bin ich überhaupt noch diese Frau, oder habe ich sie – mich – irgendwo auf der Reise verloren?
Grummelnd packe ich meine Habe zusammen und stapfe ins Nachbarzimmer, um Garreth davon in Kenntnis zu setzen, dass wir sofort aufbrechen. Ich muss diese schreckliche Reise hinter mich bringen, damit ich erneut zu der Frau werden kann, die ich einst war. Die Frau, der eine taktlose Bemerkung irgendeines Kerls nichts ausgemacht hätte. Die nichts dabei gespürt hätte. Die Frau, die erst wieder glücklich ist, wenn sie erneut mit ihrem Schicksalsgebundenen vereint ist.
Und nicht das bemitleidenswerte Mädchen mit dem Stechen in der Brust und der Sehnsucht nach Freundschaft.
Und vielleicht nach mehr als bloß Freundschaft.