TAG DES ERSTEN VOLLMONDS
Z wei Tage sind wir noch in diesem Wald unterwegs, der mit jedem Schritt dichter zu werden scheint.
›Wir sind ganz nah‹ , sagt Varyan. ›Der Herzholzhain ist nicht mehr fern.‹
Ich kann nur hoffen, dass er recht behält, denn unsere Vorräte sind aufgebraucht. Die Kronen der Bäume sind derart dicht, dass kaum ein Lichtstrahl zu uns hinabfällt, wodurch es auch keine Sträucher mit Beeren gibt. Immerhin finden wir ein paar Pilze und mir gelingt es, ein Kaninchen zu erlegen, aber mein und Garreths Magenknurren übertönt mittlerweile jeden Zweig, der unter unserem Gewicht nachgibt.
Mehr Sorgen als um unseren Hunger mache ich mir allerdings um unseren Durst. Ich teile das wenige Wasser eisern ein, doch es wird trotzdem nicht mehr lange reichen. Um umzukehren ist es zu spät. Ich kann nichts anderes tun, als Varyan zu vertrauen.
Und das tue ich.
Garreth jedoch nicht. »Wir hätten gleich nach Valencia aufbrechen sollen«, murrt er nicht zum ersten Mal.
Er hat nicht unrecht. Unsere Reise wäre sehr viel schneller vorbei, wenn wir uns gleich zu seiner Prinzessin aufgemacht hätten. Aber ich bezweifle, dass sie einfacher gewesen wäre. Diese Diebe werden nicht die Letzten gewesen sein, die es auf Caligram abgesehen haben. Wenn ich ebenfalls hinter dem Schwert her wäre, würde ich mich irgendwo in der Nähe des Zielorts auf die Lauer legen. Daher gehe ich davon aus, dass uns in Valencia noch viel mehr Probleme begegnen werden als jetzt schon.
Doch damit will ich Garreth nicht belasten. Gemeinsam mit Varyan werde ich mir einen Plan zurechtlegen, wenn es so weit ist. Vielleicht gibt es eine geheime Route abseits der Hauptstraßen, an die er sich erinnert. Aber zunächst muss Caligram auch optisch wieder zu einem Schwert der Götter werden. Hoffentlich geht seine Restauration schnell vonstatten.
Seit ich heute Morgen aufgewacht bin, juckt das magische Symbol an meinem Handgelenk höllisch.
Wann immer ich darüberkratze, murrt Garreth: »Hör auf damit, das macht es nur noch schlimmer.«
Ich verdrehe die Augen. »Es hilft wenigstens für einen Moment.«
Wenn ich nicht befürchten müsste, den Zorn der Hexe auf mich zu ziehen, würde ich mir das verdammte Ding aus der Haut schaben. Doch wann immer der Drang, zu fest zu kratzen, überhandnimmt, bin ich dankbar für Garreths Ermahnungen. Hoffentlich klingt dieses Jucken und Brennen morgen wieder ab, sobald wir den ersten Vollmond hinter uns haben, sonst werde ich noch wahnsinnig!
Ich kann nur hoffen, dass …
Ein Zweigknacken rechts von mir lässt mich erstarren. Garreth, der sich links von mir hält, stoppt ebenfalls.
»Was war das?«, wispert er. »Ein Reh?«
Ich schüttele den Kopf. »Größer.«
Erneut knacken Zweige. Ein Reh würde niemals derart viel Lärm verursachen. Vielleicht ein Bär? Vorsorglich lasse ich meine rechte Hand an mein Schwert gleiten, während die linke auf Caligram ruht.
»Ich will, dass du auf einen Baum kletterst«, raune ich Garreth zu, ohne unsere Umgebung aus den Augen zu lassen. »Du wirst erst runterkommen, wenn die Gefahr vorbei ist.«
»Schon wieder? Aber –«
Ich unterbreche seinen Widerspruch im Keim. »Ich habe genug damit zu tun, inmitten dieses engen Gestrüpps zu kämpfen. Mach es mir nicht noch schwerer.«
Garreth nickt und eilt davon, um gekonnt mithilfe eines Seils auf einen nahe stehenden Baum zu klettern. Ich hätte weit länger dafür gebraucht und eine weniger elegante Figur abgegeben.
Das ist der letzte klare Gedanke, bevor ich mich voll und ganz auf einen bevorstehenden Kampf konzentriere. Ohne zu wissen, was gleich vor mir aus dem Unterholz hervorbrechen wird, setze ich für einen besseren Stand einen Fuß zurück und ziehe mein Schwert. Caligram lasse ich fürs Erste in meinem Gürtel, doch ich leite alle Eindrücke an Varyan weiter, der merklich still in meinem Kopf geworden ist. Was mich nicht beruhigt, ganz im Gegenteil. Ich weiß, dass er da und genauso konzentriert ist wie ich.
Schwere Schritte kommen näher. Nun habe ich das Gefühl, dass es mehr sind als einer. Ich habe noch nie davon gehört, dass Bären im Rudel jagen … Sind es etwa weitere Diebe, die uns bereits nah auf den Fersen sind?
Als schließlich der erste Angreifer aus dem Unterholz bricht, traue ich meinen Augen kaum. Beinahe reagiere ich zu spät, doch ich kann mich im letzten Moment mit einem Satz nach hinten retten.
›Was, bei allen Götter, ist das?‹ , frage ich mit einem leichten Anflug von Panik, während ich die Kreatur vor mir anstarre.
Sie ist riesig und hat definitiv Ähnlichkeit mit einem Bären. Das zottelige dunkle Fell erstreckt sich fast über den gesamten Körper – mit Ausnahme der sehr menschlich anmutenden Arme und Hände, die jedoch in spitzen Klauen enden. Auch das Gesicht hat entfernt menschliche Züge, wenn ich mir den dichten Haarwuchs wegdenke. In gebückter Haltung kauert die Kreatur einige Meter von mir entfernt und fletscht die nadelspitzen Zähne, während sie mich taxiert.
Varyan gibt in meinem Kopf ein Grollen von sich. ›Ein Kromer.‹ Er klingt alles andere als begeistert. ›Wo einer ist, sind auch mehrere. Wird sollten schleunigst –‹
Eine weitere Kreatur, bloß mit einer anderen Fellfarbe, bahnt sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp und geht mit aufgerissenem Maul auf mich los. Ich habe nicht genug Platz, um weiter auszuweichen, also hebe ich mein Schwert, um den Angriff umzuleiten. Ich erwische die Kreatur an der Seite, woraufhin sie mit einem schmerzerfüllten Jaulen auf Abstand geht. Aber an ihre Stelle tritt sofort der erste Angreifer.
›Du musst hier verschwinden!‹ , befiehlt Varyan.
Während ich auch diesen Angriff abwehre, werfe ich einen hastigen Blick nach hinten. Garreth ist noch immer im Baum. Dort ist er sicher. Aber wenn ich fliehe, werden sich die Kromer ihm zuwenden. Mit diesen Krallen können sie bestimmt besser klettern als ich. Garreth hätte keine Chance gegen sie.
›Ich kann nicht‹ , erwidere ich.
›Du musst!‹
Ich schüttele den Kopf, ohne die beiden Angreifer aus den Augen zu lassen. ›Jetzt wäre die perfekte Gelegenheit für ein paar Feuerzauber.‹
›Nicht gegen die.‹
Das ist nicht die Antwort, auf die ich gehofft habe. ›Wieso?‹
›Feuer wirkt nicht gegen Kromer.‹
Zu einer erneuten Nachfrage komme ich nicht. Den beiden Kreaturen ist offenbar aufgegangen, dass sie mich allein nicht überrumpeln können. Deshalb gehen sie nun gemeinsam auf mich los.
Varyans Bewusstsein reißt meines zurück und übernimmt die Kontrolle. Mit einem Windzauber stößt er die Angreifer ein Stück weit zurück. Doch anstatt verletzt zu sein, schütteln sie bloß die massigen pelzigen Körper und taxieren mich erneut.
›Warum macht ihnen das nichts aus?‹ , frage ich mit einer unüberhörbaren Spur Panik in der Stimme.
›Kromer reagieren nur auf eine Magieart empfindlich – Erdmagie.‹
›Wieso nutzt du sie dann nicht?‹
Varyan verzieht meinen Mund. ›Weil sie mir verweigert wurde.‹
Ich verstehe kein Wort, doch das ist nicht wichtig. ›Pass auf!‹
Varyan kann zwar einen Angreifer abwehren, doch die Attacke des zweiten trifft ihn am Rücken. Ich spüre die Schmerzen nicht, höre aber deutlich, wie die Krallen der Kreatur erst meine Kleidung und schließlich meine Haut zerfetzen.
›Wie schlimm ist es?‹ , frage ich, als Varyan meinen Körper wieder in eine aufrechte Position hievt, um mit beiden Schwertern nach dem Kromer hinter mir zu schlagen.
›Ziemlich schlimm‹ , sagt er. ›Ich spüre keine Schmerzen, doch dein Körper kommt meinen Befehlen nun langsamer nach. Er wehrt sich beinahe dagegen. Ich weiß nicht, wie lange ich noch …‹
Mein Körper sackt in die Knie. Als Varyan zur Seite schaut, entdecke ich ein Blutrinnsal, das mein Bein hinabläuft.
›Verdammt‹ , grollt er.
Die beiden Kromer recken die Nasen in die Luft und schnuppern. Offenbar angeregt durch den Geruch meines Blutes lecken sie sich hungrig über die Lippen.
›Ich kann nicht fliehen‹ , sage ich hastig, als Varyan im Bergiff ist, meinen Körper herumzuwirbeln. ›Ich kann Garreth nicht seinem Schicksal überlassen.‹
›Wir können nicht gegen sie gewinnen‹ , hält Varyan dagegen. ›Auch nicht gemeinsam.‹
Mein Herz schlägt mir panisch bis zum Hals, abgesehen davon bin ich innerlich überraschenderweise ganz ruhig. Womöglich weil Varyan die schlimmsten Auswirkungen von mir fernhält. Dank seiner Hilfe gelingt es mir, mich sogar in dieser Situation auf das Wesentliche zu konzentrieren. ›Dann halten wir sie so lange hin, bis Garreth fliehen konnte.‹
Sogleich schlägt mir Varyans Unverständnis entgegen. ›Du willst dein Leben für ihn opfern?‹
›Wenn ich fliehe, finden sie uns sowieso, weil sie meiner Blutspur folgen‹ , sage ich, während Varyan weniger behände als zuvor einen Angriff pariert. ›So überlebt wenigstens einer von uns.‹
Varyan stößt ein Knurren aus. ›Ich werde dich nicht sterben lassen!‹
Ich stelle mir vor, wie ich eine Hand ausstrecke und ihm über den Arm streichele. Ich spüre diese Berührung nicht, habe aber trotzdem das Gefühl, dass sie ihn erreicht.
Ich stand noch nicht häufig an der Schwelle des Todes. Zwar wurde ich mehrfach in Gefechte verwickelt, tatsächliche Todesangst verspürte ich dabei jedoch nicht. Diese empfinde ich auch jetzt nicht. Nicht weil ich hoffe, dass Varyan ein Wunder vollbringt und ich irgendwie heil aus der Sache herauskomme.
Sondern weil er bei mir ist. Das wird mir in dem Moment klar, als ich über den Grund meiner fehlenden Angst nachdenke.
›Ich bin froh, dass du da bist‹, sage ich mit einem Lächeln.
Schon während meiner Knappenausbildung wurde uns jeder Anflug von Todesangst ausgetrieben. Bei einem Kampf mussten wir in jeder Situation einen ruhigen Kopf behalten. Dem einen Knappen gelang es besser als dem anderen. Ich konnte ruhig bleiben, solange ich kein Blut roch oder schmeckte.
Nun spielt jedoch ein weiterer Grund eine Rolle: Ich bin nicht allein. Ich habe mich in den Jahren meiner Ausbildung damit abgefunden, irgendwann einsam auf einem Schlachtfeld oder während eines Hinterhalts zu sterben. Doch gerade ist mir das Glück vergönnt, nicht allein meinem Schicksal entgegenblicken zu müssen. Auch wenn Varyan sich nie als meinen Freund bezeichnen würde, ist er es doch und steht mir bei.
Mein Körper wird ruhiger. Noch immer ist er angespannt und bereit, sich zu verteidigen, aber die unterschwellige Panik, die mir bis eben die Luft abgeschnürt hat, fällt von mir ab.
»Garreth, verschwinde von hier!«, brüllt Varyan mit meiner Stimme, ehe er einem Angriff ausweicht.
Wieder erwischt mich der Kromer irgendwo; ich höre das Reißen von Stoff und spüre meinen Körper straucheln. Mit einem Windangriff stößt Varyan den zweiten Angreifer zurück. Einer von ihnen prallt hart gegen einen Baumstamm, rappelt sich jedoch schnell wieder auf. Beide schütteln die pelzigen Leiber, als wollten sie ein lästiges Insekt vertreiben.
›Wenn ich weiter Magie nutze, wird das dein Körper nicht mehr lange mitmachen.‹
Er spricht es nicht aus, aber ich verstehe auch so, was er meint. Selbst er ist mit all seinem Können zwei Kromern unterlegen. Ich bin bereits an einem gescheitert.
Unsere Angreifer beginnen, uns zu umkreisen. Und mir ist klar, dass dies mein Ende ist.
›Es ist in Ordnung‹ , wispere ich.
Varyans Haltung versteift sich. ›Ist es nicht. Ich habe versprochen, auf dich aufzupassen.‹
Ich muss lächeln. ›Dafür bin ich dir dankbar. Du warst mein Held, seit ich ein kleines Kind war. Hab ich dir das je gesagt?‹
›Mira.‹ Seine Stimme klingt flehend und gebrochen. Ein Klang, den ich noch nie bei ihm gehört habe. ›Bitte sag mir das nicht jetzt. Nachher, wenn wir beide heil aus der Sache rausgekommen sind, will ich jedes noch so kleine Detail darüber hören, wie du mich bereits als Kind vergöttert hast. Aber nicht jetzt. Bitte nicht jetzt.‹
Mein Lächeln wird breiter. ›Dann lass mich dir wenigstens sagen, wie froh ich bin, dir begegnet zu sein. Und wie gern ich dich ein einziges Mal mit eigenen Augen gesehen hätte.‹
In letzter Sekunde wehrt Varyan einen Angriff ab, doch der zweite Kromer reagiert schnell. Seine krallenbewehrte Tatze trifft mich derart wuchtig an der Seite, dass ich den Halt verliere und weggeschleudert werde.
›Mi-!‹
Varyans angsterfüllter Aufschrei verstummt in dem Moment, als ich gegen einen Baumstamm pralle, mir dabei Caligram aus den schweißnassen Fingern gleitet und ich zu Boden gehe. Ich spüre, wie in meinem Körper etwas zerschmettert wird. Meine Rippen?
Sofort, als sein Bewusstsein aus mir verschwindet, wird mir vor Schmerzen schwarz vor Augen. Ich will schreien, doch selbst dazu fehlt mir die Kraft. Mein gesamter Körper pocht und pulsiert vor Qualen, die ich noch nie zuvor verspürt habe. Der Geruch meines eigenen Blutes tut sein Übriges, um mich würgen zu lassen.
Nur undeutlich nehme ich den heißen Atem der herannahenden Kromer im Nacken wahr. Es gelingt mir nicht, mich aufzurichten und ihren Angriff abzuwehren. Kraftlos kauere ich im trockenen Laub und warte auf mein Ende. Aus den Augenwin keln sehe ich Caligram knapp außerhalb meiner Reichweite liegen. Ich wünschte, ich könnte den Arm danach ausstrecken und ein letztes Mal den schartigen Stahl berühren.
Ich wünschte, ich müsste nicht allein sterben.
Aber offenbar ist dies mein Schicksal.
Ich kneife fest die Augen zu, um den Angriff der Kromer nicht kommen sehen zu müssen.
Doch zu meiner Verwunderung bleibt er aus. Stattdessen höre ich Glas zerspringen.
»Bleibt weg von ihr!«, schreit Garreth. Seine Stimme dringt wie aus weiter Entfernung zu mir durch. Oder ich bin bereits weggetretener, als ich dachte.
Als es mir gelingt, die Augen zu öffnen, entdecke ich ihn einige Meter entfernt. Ohne Unterlass bewirft er die beiden Angreifer mit Phiolen und Tiegeln aus seiner Umhängetasche. Die Kromer schütteln sich unter den übel riechenden und brennenden Tinkturen, die nun in ihrem Fell kleben.
»Haut endlich ab!«
Eine weitere Phiole fliegt durch die Luft und trifft einen Kromer an der Schläfe. Dieser gibt ein hohes Jaulen von sich und versucht verzweifelt, die Flüssigkeit abzuwischen, die ihm in die Augen rinnt. Garreth setzt nach und kämpft sich Meter um Meter vor, bis er auf meiner Höhe steht. Ohne seine Wurfattacken zu unterbrechen, schiebt er Caligram in meine Richtung, bis ich die Finger an das Schwert legen kann.
›Mira!‹
Noch bevor ich Varyans Bewusstsein gänzlich in mir spüre, vernehme ich seine ängstliche Stimme, gefolgt von einem erleichterten Seufzen, als er merkt, dass ich noch nicht tot bin. In Windeseile breitet er sich in mir aus. Ich gebe ein zufriedenes Wimmern von mir, als die Schmerzen endlich aufhören.
›Bei allen verdammten Göttern …‹
Mehr als diesen leisen Fluch muss ich nicht hören, um zu wissen, dass es ziemlich schlecht um meinen Körper steht.
»Kannst du aufstehen?«, fragt Garreth. »Mir gehen langsam die Geschosse aus.«
»Du solltest verschwinden«, knurrt Varyan, während er meinen Körper nach oben hievt, sich jedoch gleich mit der Schulter gegen den nächsten Baumstamm lehnt.
»Und euch beide hier zurücklassen?«, erwidert Garreth. »So etwas tun Freunde nicht.«
Trotz der Gefahr, der wir uns gegenübersehen, ist meine Brust erfüllt von einer Wärme und Dankbarkeit, die ich nie zuvor gefühlt habe. Jahrelang gab es nur mich. Ich musste allein zurechtkommen, mir mit Gewalt meinen Platz erkämpfen. Nie hat sich jemand auf meine Seite gestellt.
Nun habe ich gleich zwei Freunde bei mir, die mir jedwede Angst nehmen.
Dafür bin ich von ganzem Herzen dankbar.
Selbst bei Batur hatte ich nie dieses Gefühl von Geborgenheit.
Garreth wirft eine weitere Phiole, doch der Kromer bringt sich mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit.
»Verdammt«, presst mein Begleiter hervor. »Das war die letzte.«
»Nicht weiter schlimm«, entgegnet Varyan. Er stellt die Beine auseinander und umfasst Caligram mit beiden Händen. Garreth hebt unterdessen mein Schwert vom Boden auf. »So oder so werden wir nicht kampflos sterben.«
›Und nicht allein‹ , füge ich hinzu.
›Niemals allein‹ , erwidert Varyan und bringt damit für einen flüchtigen Moment mein Herz zum Flattern.
Dieses fremde Gefühl in meiner Brust verschwindet auch nicht, als sich die beiden Kromer mit aufgerissenen Mäulern gleichzeitig auf uns stürzen.
Bevor sie uns erreichen, vernehme ich eine Art sachtes Streicheln über meine Wange. ›Ich bin auch froh, dass ich dir begegnet bin‹ , flüstert Varyan.
Mit einem Lächeln wappne ich mich für den letzten Schlag, der meinen Körper zerfetzen wird.
Plötzlich bebt die Erde unter meinen Füßen. Die Kromer sind zwar nach ihrem Sprung noch in der Luft, doch unter ihnen bricht der Waldboden auseinander und spitze, erdige Stacheln stoßen hervor. Einer der Angreifer wird so schnell durchbohrt, dass er nicht mehr ausweichen kann. Der andere schafft es in letzter Sekunde.
»Kreaturen wie euch«, grollt die Stimme einer Frau ganz in der Nähe, »dulde ich nicht in meinem Wald.«
Der verbliebene Kromer fletscht die Zähne und wirbelt herum.
»Hinfort!«, befiehlt die Stimme.
Davon lässt sich der Kromer jedoch nicht beeindrucken. Er setzt zu einem weiteren Angriff an, als die Erde sich unter ihm auftut. Unvermittelt sackt er hinab, verschwindet in der Erdspalte, die sich sogleich schließt. Das Knirschen seiner Knochen und seine Schreie verursachen mir eine Gänsehaut. Doch sie verstummen so schnell, wie sie aufgekommen sind.
Eine gespenstische Stille breitet sich aus, lediglich unterbrochen von meiner und Garreths schneller Atmung.
»Was … war das?«, fragt Garreth.
Kaum dass er fertig gesprochen hat, tritt eine Frau zwischen den Bäumen hervor. Sie muss sich nicht durch den dichten Wuchs hindurchzwängen; es ist, als würden die Bäume ihr Platz machen.
Offenbar hat auch mein Kopf etwas abgekriegt.
›Nein‹ , grummelt Varyan. ›Du siehst das schon richtig.‹
Die Frau trägt ein langes hellgrünes Gewand, das sich um ihre zierliche Gestalt bauscht. Ihr Haar ist von einem dunklen Blond; spitze Ohren lugen daraus hervor. Eine Lerthauerin?
Ich revidiere den letzten Gedanken, als sie gut einen Meter vor mir stehen bleibt und ich in ihre Augen sehen kann. Sie sind genauso schneeweiß wie die Augen der Seehexe.
Die Frau, die die hiesige Hexe sein muss, neigt mit einem belustigten Schmunzeln den Kopf, ehe sie die Hand ausstreckt und mein Kinn mit ihren kalten Fingern umfasst.
»Varyan«, schnurrt sie. »Ich hätte nicht gedacht, dich je wiederzusehen. Aber ein solch außergewöhnliches Paar Augen vergisst man nicht. Nur der Rest von dir hat sich ein wenig verändert.«
»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Karli«, sagt Varyan. Jedes Wort ist eine neue Lüge.
Die Hexe scheint dies ebenfalls zu bemerken, was sie allerdings noch mehr erheitert. »Wie hast du das Kunststück vollbracht, meiner Schwester zu entkommen? Ich bezweifle, dass sie ihren wertvollsten Besitz einfach hat gehen lassen. Oder bist du –«
»Verzeih«, unterbricht Varyan sie.
Seitdem ich der Seehexe begegnet bin und ihre erdrückende Präsenz am eigenen Leib gespürt habe, hätte ich niemals den Schneid, eine Hexe mitten im Satz zu unterbrechen.
Aber Varyan kümmert diese Furcht nicht. »Meine Trägerin und unser Begleiter sind ziemlich … mitgenommen vom Kampf gegen die Kromer. Ich kann ihren Körper kaum noch aufrecht halten. Wenn es dir nichts ausmacht, werde ich deine Fragen später gern beantworten. Doch jetzt bitte ich dich um eine Kostprobe deiner Magie.«
›Trägerin?‹ , frage ich, doch Varyan ignoriert mich.
Sie neigt den Kopf zur anderen Seite. »Ich habe dir bereits ein Mal meine Magie verwehrt.«
Varyan nickt. »Ich will auch nicht deine Kraft für mich, sondern bitte dich, meine Freunde zu heilen.«
Wenn ich auf der Höhe wäre, würde ich vielleicht vor Freude kichern, weil Varyan Garreth und mich gerade als seine Freunde bezeichnet hat.
Der Blick aus den milchig weißen Augen der Hexe richtet sich zuerst auf Garreth, der sie so staunend anstarrt, als hätte er eine fleischgewordene Göttin vor sich, und dann auf mich, ehe sie seufzt. »Einverstanden. Ich komme deiner Bitte ausnahmsweise nach. Aber nur, weil du meinen Wald verteidigt hast.« Sie wendet sich um. »Folgt mir. Bis zu meinem Hain sind es nur wenige Schritte.«
›Halte ich bis dahin durch?‹ , frage ich.
›Ich werde dafür sorgen‹ , sagt Varyan. ›Und dank Karlis Magie wirst du dich schnell besser fühlen.‹
›Sie ist eine Heilerin?‹
›So in etwa‹ , antwortet Varyan, während er meinen Körper hinter der Waldhexe herschleppt. Hinter uns höre ich Garreths Schritte. ›Ihr magisches Element ist die Erde. Sie kann sie nach ihrem Willen formen, wie du es eben gegen die Kromer erlebt hast. Aber sie kann auch Pflanzen erblühen lassen und Wunden heilen.‹
›Und sie hat dir ihre Magie verwehrt, weil …?‹ , hake ich nach.
Varyan seufzt. ›Sie war der Meinung, dass ich ihrer nicht würdig war. Dass mein Vorhaben nichts mit ihrer heilenden Magie zu tun hätte. Im Grunde hat sie recht, aber Erdmagie ist die einzige Magieart, die gegen die Kreaturen Kroms etwas ausrichten kann.‹
›Wie hast du Krom damals erobern können?‹
Varyan zögert mit einer Antwort. ›Indem ich viele gute Männer geopfert habe. Ich konnte Krom lediglich überrennen. Es gab ohne die Erdmagie keinen anderen Weg.‹
Ich möchte ihn noch so vieles fragen, doch jede Frage verstummt, als Varyan meinen Körper zwischen den letzten Bäumen hindurchtreten lässt.
»Willkommen im Herzholzhain«, sagt die Hexe, ohne sich zu uns umzudrehen.
Wenn ich könnte, würde ich mit offenem Mund starren. Es ist unmöglich, dass wir uns noch im selben Wald befinden wie eben. Die Bäume hier sind höher, besitzen aber ein magisches Glühen in Grün und Gelb, das die Umgebung erhellt. Zwischen den dicken Stämmen plätschern mehrere Bachläufe; das Wasser glitzert in einem beinahe unnatürlich hellen Blau. Unzählige Blumen wachsen an den Ufern und klettern sogar die Stämme empor.
Doch am meisten fesselt mich der Anblick der Gebäude. Mehrere Hütten sind hoch oben in den Baumkronen oder unten nah an den Wurzeln gebaut – stets so, dass sie das natürliche Wachstum der Bäume kaum beeinträchtigen.
Im Zentrum des Hains, dort wo alle Bäche zusammenlaufen, befindet sich eine Art Tempel, der anstatt von steinernen Säulen von Hecken und Ästen gestützt wird.
»Ihr bringt Besucher, Herrin?«
Eine Lerthauerin ist zu uns getreten, ohne dass ich es bemerkt habe. Sie überragt mich um einige Zentimeter. Ihr Gesicht ist rußverschmiert, und ich zucke fast unter ihrem berechnenden Blick zusammen. Lässig hat sie sich einen Schmiedehammer auf die Schulter gelegt, den ich wahrscheinlich gerade so anheben könnte. Ihre Statur ist athletisch, wie ich es von den meisten Lerthauern gewohnt bin, trotzdem verströmt sie eine Stärke, die ich bei einer anderen Frau noch nie erlebt habe.
Die Hexe nickt ihr zu. »Ich gehe davon aus, dass du noch genügend Gelegenheit haben wirst, dich mit unseren Besuchern auszutauschen, Colette.« Die Lerthauerin, Colette, schnaubt unfein durch die Nase. Hätte die Frau meines Lehnsherrn dieses Verhalten bei mir gesehen, hätte sie mich ohne Abendbrot ins Bett geschickt, als ich noch jünger war.
Doch die Hexe scheint sich nicht daran zu stören. »Zunächst werde ich mich um eure Wunden kümmern. Folgt mir in meinen Tempel.«
Colette trollt sich, nicht ohne mir einen letzten abschätzigen Blick zuzuwerfen.
Das Innere des Tempels ist nicht reich verziert, wie ich es erwartet habe, sondern einfach eingerichtet. Einige Möbel aus Holz sind alles, was ich entdecken kann, zusammen mit einer Hecke in voller Blüte, die sich wie eine Art Wandteppich über eine Innenseite des Tempels erstreckt. Die Blumen geben einen schummrigen Lichtschein ab, der den einzigen Raum erhellt. Eine Fackel oder andere Lichtquelle entdecke ich nirgends.
»Setzt euch«, weist uns die Hexe an, nachdem die hölzerne Tür hinter uns ins Schloss gefallen ist.
Mit einer erhaben wirkenden Handbewegung deutet sie auf mehrere Kissen, die um eine schwebende Lichtkugel gruppiert sind.
Obwohl ich dank Varyans Anwesenheit keine Schmerzen spüre, bemerke ich, dass mein Körper sich seinen Befehlen verwehrt. Nur langsam sinkt er in die Knie, bis er sich umständlich auf das Kissen setzt.
Die Hexe verzieht den Mund. »Du siehst ziemlich ramponiert aus.«
Innerlich kann ich ihr bloß zustimmen. Auch ohne dass ich das genaue Ausmaß meiner Verletzungen kenne, ist mir klar, dass es nicht gut um mich steht.
›Sie kriegt dich wieder hin‹ , sagt Varyan bestimmt.
›Und wenn nicht? Wenn sie mir ihre Magie ebenso verwehrt wie dir?‹
Eine düstere Wut schwappt über mich, die ihren Ursprung nicht in mir hat. ›Dann werde ich sie dazu zwingen, dich zu heilen.‹
Die Frage, wie er das anstellen will, verkneife ich mir. Sie ist nicht wichtig. Viel wichtiger ist mir die Gewissheit, dass Varyan alles dafür tun wird, dass es mir wieder besser geht.
›Danke‹ , wispere ich.
Er gibt ein Brummen von sich, das eine Spur ertappt klingt. ›Ich will schließlich jedes noch so kleine Detail darüber hören, wieso ich dein Kindheitsheld war. Da kann ich dich nicht einfach sterben lassen.‹
Ein unerwartetes Gefühl flattert in meiner Brust, als ich lächele. Vor ein paar Wochen hätte mich seine Spitze genervt und zu einer nicht minder spitzen Erwiderung veranlasst. Doch heute höre ich die Worte dahinter, die er nicht aussprechen kann oder will. Aber sie sind da; ich höre sie zwischen jeder Silbe. Dass er mich beschützt. Dass er notfalls den Zorn einer zweiten Hexe auf sich ziehen wird, um mich vor Schaden zu bewahren. Dass er sich auf unsere Gespräche freut.
Dass er froh ist, mir begegnet zu sein.
Das hat er mir während des Kampfes verraten. Mit dem sicheren Tod vor Augen konnte ich diese Worte nicht richtig würdigen. Jetzt kann ich es. Sie machen mich glücklich und lassen mich für eine Weile all das vergessen, was noch vor uns liegt.
»Ich kann deine Wunden heilen«, sagt die Hexe, nachdem sie fertig ist, mich zu mustern. »Du wirst noch ein paar Tage Schmerzen haben, vor allem, nachdem die erste Wirkung meiner Magie abgeklungen ist, da sich deine Knochen erst neu verbinden müssen, aber du wirst dich bewegen können. Und die offenen Wunden werden sich nicht entzünden können.«
»Das könnt Ihr?«, platzt es aus Garreth heraus, der sich auf seinem Kissen interessiert vorgelehnt hat.
Die Hexe blinzelt ihn überrascht an. »Nun … ja.«
»Darf ich Euch dabei zusehen?«, fragt mein Begleiter.
»Meinetwegen«, sagt die Hexe schulterzuckend.
Garreth rutscht zu mir heran und hebt vorsichtig mein zerfetztes Hemd an, um die Wunden an meiner Seite genauer zu betrachten.
»Könntest du das lassen?«, grummelt Varyan.
Ohne aufzublicken, erwidert Garreth: »Wenn einer von uns beiden ihren Körper ohne Hintergedanken anschaut, dann bin das ja wohl ich.«
›Punkt für Garreth‹ , sage ich. Wäre die Situation nicht dermaßen ernst, würde ich wahrscheinlich über Varyans angefressenes Brummen lachen.
»Die Wunde ist sehr tief«, murmelt Garreth, als er meine Verletzungen inspiziert. »Alle Hautschichten sind durchdrungen. Eine Menge Schmutz hat sich bereits darin angesammelt.« Er lehnt sich zurück. Seine Miene wirkt düster. »Wäre es an mir, diese Wunde zu behandeln, könnte ich nicht viel mehr tun, als sie gründlich auszuwaschen und eine schmerzstillende Salbe aufzutragen. Gegen den hohen Blutverlust und eine mögliche Entzündung wäre ich jedoch machtlos.«
»Du bist ein Heiler?«, fragt die Hexe interessiert.
Garreth widmet sich wieder ihr. »Ich entstamme der Familie Eslinger.«
»Ah, die sind mir durchaus ein Begriff, obwohl sie in Bellvor leben.« Ihr Lächeln wirkt angespannt. »Ich habe den ersten Eslinger – Kornelius Eslinger – persönlich ausgebildet und ihm einen Teil meiner Magie gegeben. Es freut mich, dass seine Nachkommen sich noch immer der Heilung der Kranken verschrieben haben.«
Garreths Augen werden groß. »Wir verdanken Euch … unsere Gabe?«
»Ähm, Entschuldigung«, mischt Varyan sich ein. »Aber könnten wir auf die Behandlung meiner Trägerin zurückkommen, ehe sie auf deinen Kissen verblutet, Karli?«
Die Hexe, Karli, verdreht die Augen, bevor sie die Hand bewegt. Aus dem Boden sprießen mehrere Ranken, die sich zielsicher auf mich zubewegen.
›Keine Angst‹ , sagt Varyan. ›Ich bin bei dir. Du wirst nichts spüren.‹
Die Ranken beginnen, an meinem knienden Körper emporzuklettern, und umschließen ihn fest. Als dies geschafft ist, geben sie ein helles Glühen von sich. In mir rumort es, als würde etwas gewaltsam zurück an seinen Platz geschoben werden.
»Drei gebrochene Rippen«, sinniert Karli. »Zwei weitere angeknackst. Ein durchstochener Lungenflügel. Mehrere tiefe Kratzer. Prellungen an Armen und Hüfte. Platzwunde an der Stirn.«
Garreth wird bei dieser Aufzählung merklich blass, während mein Körper sich unter der Prozedur windet, ohne dass Varyan etwas dagegen tun kann.
»Es ist gleich geschafft«, versichert Karli mir.
»Ich hätte ihr nicht helfen können«, wispert Garreth unterdessen zu sich. »Ich hätte bloß danebenstehen und ihre Schmerzen erträglich machen können.«
»Gräme dich nicht, junger Eslinger«, sagt Karli. »Nachdem meine göttlichen Eltern euch mein magisches Geschenk nahmen, seid ihr lediglich gewöhnliche Menschen. Auch wenn dein Vorfahre einst von mir unterrichtet wurde, könnt ihr trotzdem keine Wunder vollbringen. Mir jedoch ist dies möglich.«
Er rutscht hinüber zur Hexe und neigt den Kopf vor mir. »Ich verstehe, dass ich nur ein Mensch bin. Aber ich flehe Euch dennoch an, mich zu unterrichten wie einst meinen Vorfahren. Sicherlich gibt es noch viel, was ich von Euch lernen kann.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragt Karli.
Garreth hebt den Kopf, um sie anzusehen. »Weil ich mich nie wieder derart hilflos fühlen will wie jetzt. Ich habe akzeptiert, dass ich nie ein herausragender Schwertkämpfer werde wie Varyan oder Delmira. Aber es gibt etwas, worin ich gut bin. Und darin will ich noch besser sein. Meine Heilkünste sind das Einzige, was ich in unserer Gruppe beitragen kann.«
Karlis Blick huscht zu mir. »Hast du zugehört, ehemaliger Prinz aller Reiche? Hättest du mir damals gesagt, dass es dir darum ginge, andere zu beschützen, hätte ich dir meine Magie vermutlich gewährt. Aber dir ging es einzig und allein um Macht und Eroberungen. Du und deine Armeen brachten Tod und Verwüstung, wohin es euch verschlug. Ein solches Verhalten konnte ich nicht unterstützen.«
»Ich … weiß«, bringt Varyan stockend hervor.
Mit einem Wink lässt Karli die Ranken verschwinden, die bis eben meinen Körper in einem unerbittlichen Klammergriff hielten. Er sackt nach vorn, doch Varyan fängt ihn mit den Händen ab.
»Ich glaube nicht an das Wunder, dass deine Verbannung dich geläutert hat«, fährt die Hexe in eisigem Tonfall fort. »Aber ich werde diese beiden Menschen nicht für deine Vergehen in der Vergangenheit verantwortlich machen.« Ihr Blick richtet sich auf mich. Es kommt mir tatsächlich vor, als könne sie in mich hineinsehen und mein Bewusstsein entdecken. »Ihr seid wegen Caligram hier, nicht wahr?«
Ich nicke.
»Colette, meine Meisterschmiedin, habt ihr bereits kurz kennengelernt. Sie wird sich ab morgen um das Götterrelikt kümmern. Es wird eine Weile dauern. Solange könnt ihr in meinem Hain bleiben. Ihr müsst euch hier weder vor Dieben noch anderen Gefahren fürchten. Allerdings erwarte ich, dass ihr euch nützlich macht.« Karli erhebt sich von ihrem Kissen und streicht ihr hellgrünes Gewand glatt. »Ich habe keinen Platz für Schmarotzer. Du, junger Eslinger, kannst meinen anderen Heilern zur Hand gehen und ihnen über die Schulter schauen. Und du, Trägerin Caligrams, wirst dich ein paar Tage ausruhen. Ich konnte zwar deine Verletzungen heilen, dein Körper ist dennoch geschwächt. Danach finden wir eine Arbeit für dich.« Sie verengt die weißen Augen. »Und der dritte eurer Gruppe wird sich notgedrungen der Arbeit anpassen müssen, die ich für dich finde.«
Varyan neigt den Kopf. »Keine Sorge, das werde ich.«
Karli stößt ein Schnauben aus. »Ich habe nie verstanden, was meine Schwester an dir findet, aber ich mache keinen Hehl daraus, dass ich froh sein werde, wenn du meinen Hain wieder verlassen hast, Prinz. So gern ich auch in deine beeindruckenden Augen schaue, stehst du doch für alles, was ich verabscheue. Wenn du mich fragst, ist der Fluch, den meine Schwester dir auferlegt hat, noch zu milde.«
Varyan ballt meine Hände zu Fäusten und knirscht mit den Zähnen, erwidert jedoch nichts auf die Vorwürfe der Hexe, die ich nicht einmal zur Hälfte verstanden habe.
»Und jetzt geht!« Karli entlässt uns mit einem Wink. »Einer meiner Anhänger wird euch einen Schlafplatz zuweisen. Du, Trägerin Caligrams, kannst dich in einem der Seen am Rande des Hains waschen. Du starrst vor Blut und Schmutz. Wir sehen uns bei Morgengrauen wieder. Bis dahin werde ich die Sauerei beseitigen, die ihr in meinem Heim angerichtet habt.«
»Lasst mich Euch helfen«, bietet Garreth sofort an. »Und dabei könntet Ihr mir erklären, wie Ihr Miras Heilung vollbracht habt.«
Varyan wartet nicht die Antwort der Hexe ab, sondern flüchtet aus dem Tempel.
Erst als wir draußen im schummrigen Licht des Hains stehen, frage ich: ›Was hat sie damit gemeint, dass dein Fluch noch zu milde sei? Meint sie damit deine Verbannung in Caligram?‹
Varyan versteift sich. ›Die Verbannung und mein Dasein eingesperrt in das Schwert sind nur ein Teil meines Fluchs.‹
›Es gibt noch mehr?‹ , frage ich perplex. Sofort liegt mir die nächste Frage auf der Zunge. ›Welches Vergehen ist so schlimm, dass es diese Bestrafung rechtfertigt?‹
›Den Stolz einer Hexe mit Füßen zu treten‹ , murmelt Varyan, ›ist in den Augen dieser unsterblichen Wesen das furchtbarste Vergehen, das ein Sterblicher begehen kann.‹
›Ich verstehe nicht …‹
Varyan schüttelt den Kopf. ›Ich kann es dir nicht erzählen. Nicht jetzt. Du musst dich waschen und ausruhen.‹
Anstatt von seiner Zurückweisung gekränkt zu sein, strecke ich die Hand aus. ›Mir ist klar, dass es dir vorhin wahrscheinlich nur herausgerutscht ist, dass wir Freunde seien, aber ich bin hier, wenn du reden willst.‹
Es fühlt sich an, als würde er meine Hand ergreifen. ›Ich weiß.‹