KAPITEL 29

Varyan

I ch habe mich seit Wochen dagegen gesträubt, ihr von den Details meines Handels mit der Seehexe zu erzählen. Warum die Worte mir nun so leicht über die Lippen kommen, kann ich nicht erklären. Vielleicht liegt es an der Art, wie sie neben mir sitzt und mich ansieht – voller Vertrauen und Wissbegierde. Ich wünschte, ich wüsste den genauen Grund und müsste nicht spekulieren. Das musste ich bereits die letzten Wochen: über ihr Aussehen, ihre Absichten, die Wahrheiten, die sie hinter zu vielen Informationen vor mir verbirgt.

Ich habe es satt zu spekulieren.

Die Erwähnung meines Fluchs hält mich davon ab, mir weiter Dinge zu wünschen, die niemals in Erfüllung gehen werden. Genau wie mein größter Wunsch.

»Ich kann unmöglich zurück zur Hexe des Sees«, presse ich undeutlich hervor, ehe ich den Kopf in den Nacken lege und nach oben in den Himmel starre.

Weitere Jahrhunderte, in denen sie mich quält und für meinen Eidbruch foltert und benutzt, werde ich nicht überstehen, ohne vollends daran zu zerbrechen. Den größten Teil von mir – meinen Stolz und meine Ehre – hat sie bereits zerstört. Sie hielten weit weniger lang durch, als ich dachte. Selbst mir gegenüber will ich kaum eingestehen, wie sehr ich mich vor jedem Vollmond gefürchtet habe. Wie sehr ich mir gewünscht habe, dass es einfach vorbei wäre …

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal den Anblick des vollen Mondes genossen habe. Habe ich das je – damals, als ich noch ein Mensch und am Leben war? Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich hatte ich dafür keine Zeit, schließlich musste ich neue Belagerungen und Angriffe planen.

Jetzt neben Mira zu sitzen, mit ihr zu reden und die Spiegelung des Mondes im See zu genießen, schenkt mir ein winziges Stück Frieden und vertreibt die Furcht vor meiner Zukunft. Beinahe angstfrei kann ich mich neben ihr ausstrecken und mir vorstellen, dass dies der erste von unzähligen Vollmonden ist, vor denen ich mich nicht fürchten muss und ich Mira zumindest auf diese Weise nahe sein kann – nicht der erste von dreien.

Auch als ich sie vorhin im See entdeckte … Ich dachte, die Hexe hätte über all die Jahre jegliches Begehren in mir vernichtet. Doch als ich Mira sah, flammte es in mir auf – ein fast vergessenes Gefühl, dem ich in der Vergangenheit nur allzu gern nachgab. Aber diesmal mischte sich noch ein anderes Gefühl mit ein: Sehnsucht. Ich weiß nicht mehr, wie es sich anfühlt, einen anderen Menschen zu berühren. Oder wohlwollend berührt zu werden.

Diese Erinnerungen wurden von all den unablässigen Händen ausgelöscht, die sich tagein, tagaus um Caligrams Griff legten.

Mit Abstand am schlimmsten waren allerdings die Vollmondnächte, in denen mich die Hexe jedes Mal aufs Neue daran erinnerte, wer die Mächtigere von uns war.

»Du … solltest sie heiraten?«, fragt Mira mit verwunderter Miene.

Ich nehme mir einen Moment, um sie zu betrachten. Obwohl sie nur gut einen halben Meter von mir entfernt sitzt, wünschte ich, sie wäre mir näher. Ich wünschte, ich besäße einen Körper, mit dem ich die Wärme spüren könnte, die sie abstrahlt. Mit dem ich sie spüren und riechen könnte. Ihr rostrotes Haar ist noch feucht und dadurch sicher dunkler als gewöhnlich; fast so dunkel, wie wenn sie mir die Kontrolle überlässt. Zum ersten Mal sehe ich neben der Farbe ihres Haars auch die Farbe ihrer Augen, die mich in einem satten Grün wissbegierig anfunkeln. An der Art, wie ihr Blick hin und her huscht, merke ich, dass sie Schwierigkeiten hat, mich zu erkennen. Es ist lange her, seit ich in meiner Geistgestalt war. Die Hexe hat nie zugelassen, dass ich eigenständig Caligram entsteige.

Nein, sie zwang mich dazu … Und selbst dann durfte ich nicht umherwandeln, wie es mir beliebte.

»Ja«, sage ich auf Miras Frage hin. »Als die Hexe mir Caligram in Aussicht stellte, wäre ich wohl jeden Handel eingegangen. Ich wusste, dass ich mit dem Schwert das Unmögliche erreichen konnte. Und das wollte ich. Ich wollte den Krieg gewinnen, ohne dafür alles zu opfern, was mir lieb und teuer war.« Bei der Erinnerung an den Moment, als ich am Ufer des Sees stand und mit der Hexe sprach, schließe ich die Augen. »Als sie mir ihre Bedingung mitteilte, hätte ich sie am liebsten ausgelacht. Mir war damals schon klar, dass ich sie niemals zur Frau nehmen würde. Schließlich ist sie eine Hexe und entsprach so gar nicht dem Typ Frau, den ich bevorzugte.«

Als ich einen Seitenblick zu Mira wage, merke ich ihr deutlich an, dass sie mit sich ringt, ob sie die nächste Frage stellen soll. Doch sie schweigt, und ich respektiere das. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich ihr hätte antworten sollen, ohne mich in Schwierigkeiten zu bringen.

Die Götter müssen mich wahrlich hassen.

Anders kann ich mir nicht erklären, warum sie ausgerechnet Delmira gestattet haben, das Schwert herauszuziehen. Bereits in dem winzigen Moment, als ihr Finger das erste Mal über Cali gram strich, noch ehe sie das Schwert aus dem Stein zog, spürte ich, dass etwas anders war. Ihre Berührung unterschied sich grundlegend von all jenen, die ich zuvor ertragen musste. Unsere Gespräche und Neckereien wurden schnell zum Inbegriff meines Daseins. Unsere Trainingsstunden, in denen sie ihren Körper mit meinem Geist teilte, mauserten sich zu einem Lichtblick in meinem dunklen Leben. Durch ihre Augen diese mir fremd gewordene Welt sehen zu dürfen, wurde meine einzige Möglichkeit, etwas abseits der finsteren Einsamkeit meines Gefängnisses zu erkennen.

Und nun, da ich sie zum ersten Mal wahrhaftig vor mir sehe, weiß ich mit absoluter Gewissheit, dass die Götter mich abgrundtief hassen.

Wäre Mira mir begegnet, als ich noch lebte, hätte ich alles daran gesetzt, um sie zu bekommen. Wahrscheinlich hätte ich ihr sogar den Hof gemacht, obwohl ich mich inmitten all meiner Kämpfe nie sonderlich für meine familiäre Zukunft interessierte. Aber Mira hätte dieses Interesse geweckt, da bin ich mir sicher.

Eine begnadete Schwertkämpferin, die es locker mit dem Großteil meiner Soldaten hätte aufnehmen können. Ehrgeizig. Mutig. Loyal. Gewitzt und nicht auf den Mund gefallen, ohne Scheu vor den derben Späßen, mit denen ich früher meine Männer zu unterhalten wusste. Und wunderschön in meinen Augen obendrein.

Aus ihren Gedanken weiß ich, dass sie ihre Rundungen hasst, ebenso wie ihre Sommersprossen, aber für mich könnte sie nicht perfekter sein.

Und das ist ein Problem.

Vielleicht war es doch keine so gute Idee, Caligram zu entsteigen … Ich hätte mich weiter mit ihrem Abbild zufriedengeben und mir einreden sollen, dass es garantiert nicht der Wirk lichkeit entspricht. Ich hätte gleich zu Beginn nicht auf ihre spitzen Bemerkungen eingehen sollen. Dann wären unsere Neckereien gar nicht erst entstanden und mir derart wichtig geworden. Mir hat es noch nie Freude bereitet, eine Frau so zu necken wie sie. Und nun weiß ich, wie hinreißend rot ihre Wangen werden, wenn ich sie aufziehe. Dieses Bild werde ich nie wieder aus meinem Kopf kriegen, ebenso wenig wie das von ihr im See. Nackt .

Ich räuspere mich und gebe mir Mühe, diese und ähnliche Gedanken zu vertreiben. »Jedenfalls war mir bereits im Moment unseres Handels klar, dass ich meinen Teil der Abmachung nicht halten würde. Aber was wollte sie denn dagegen tun? Sie konnte mich ja nicht zwingen, sie zu heiraten.«

Mira runzelt die Stirn, während sie mich nachdenklich mustert. »Sie hat dich in das Schwert verbannt, weil du sie nicht ehelichen wolltest?«

Ich schlucke angestrengt. »Glaub mir, die Verbannung in Caligram ist noch das kleinere Übel.«

Miras Augen werden groß. »Was kann denn noch schlimmer sein, als körperlos in ein Schwert verbannt zu werden?«

Es wurmt mich, dass sie immer wieder darauf anspielt, dass ich keinen Körper habe. Hätte ich einen, würde sie nicht derart vorlaut sein, da bin ich mir sicher. Aber insgeheim mag ich ihre spitze Zunge. Die Frauen, mit denen ich zu tun hatte, als ich noch lebte, beteten den Boden an, über den ich wandelte, da sie dachten, ich würde eine unterwürfige Frau als Ehefrau in Betracht ziehen.

Wie falsch sie doch lagen.

Ich hatte von klein auf ausschließlich mit starken weiblichen Persönlichkeiten zu tun, allen voran meiner Mutter. Sie übernahm die Regierung Lerthaus, nachdem mein Vater einem Fie ber erlag, als ich noch ein junger Bursche war. Sie wurde zu meiner Leitfigur, der ich nacheifern wollte.

Ich hätte mich nie länger als eine Nacht mit einer Frau eingelassen, die mir nicht Kontra hätte geben können. Bereits nach wenigen Tagen hätte ich mich zu Tode gelangweilt und ihre Unterwürfigkeit hätte mich aufgeregt.

Doch zu meiner Zeit entsprach dieses Verhalten der Norm. Junge Frauen wurden darauf getrimmt, Männern niemals Widerworte zu geben und sich ihnen gegenüber devot zu verhalten. Ich weiß nicht, ob es immer noch so ist.

Oder ob Mira glücklicherweise eine solche Erziehung nie genossen hat.

Ihrer Frage, was noch schlimmer als die Verbannung in Caligram sein kann, weiche ich aus. Das ist eine Wahrheit, der sie niemals auf den Grund gehen darf, denn dann würde sie mich nicht mehr so ansehen wie jetzt – so voller Neugier und Wohlwollen. Abscheu und Mitleid würden sich in ihren Blick mischen und das helle Grün ihrer Iriden trüben. Das will ich auf keinen Fall.

»Ich weiß, wie heimtückisch ein Handel mit einer Hexe sein kann«, sage ich. »Ich habe es am eigenen Leib erfahren. Deshalb wäre es für dich besser, wenn du Caligram und meinetwegen auch Garreth nimmst und so viel Strecke wie möglich zwischen dich und die Seehexe bringst. Das südliche Valencia soll um diese Jahreszeit ganz nett sein.«

Miras Miene verfinstert sich. Im leichten Schein des Mondes haben ihre Iriden nun die Farbe von Fichtennadeln. »Im Gegensatz zu dir«, knurrt sie, und dieser Tonfall geht mir auf eine seltsam angenehme Weise durch und durch, »werde ich meinen Teil des Handels nicht brechen. Dazu habe ich keinen Grund.«

»Tatsächlich nicht?« Ich rutsche näher zu ihr, bis unsere Hän de im Gras des Ufers sich beinahe berühren. Ich wünschte, das könnten sie, doch ich spüre nicht einmal die Grashalme unter mir oder den lauen Nachtwind, der die Zweige über uns rascheln lässt. »Mit meinem Können und Caligrams Magie könntest du zu einer Herrscherin werden. Du könntest mein Vorhaben fortsetzen und die vier Reiche einen.«

Mira blinzelt verwirrt. »Warum sollte ich das tun wollen?«

Nun bin ich derjenige, der verwirrt dreinschaut. »Willst du mir etwa sagen, dass dich Ruhm und Macht nicht interessieren?«

»Ganz genau. Ich bin zufrieden mit meinem Leben, wie es war, bevor Garreth mir den Auftrag gab, das Schwert aus dem Stein zu ziehen. Und wenn ich es zurück zum See gebracht habe, werde ich in mein altes Leben zurückkehren – mit einer saftigen Belohnung hoffentlich, damit ich nicht wieder in schäbigen Absteigen hausen muss. Aber Schlachten und Intrigen und Komplotte und Regierungsangelegenheiten sind nichts, was mich auch bloß im Entferntesten interessiert.«

»Du könntest … eine Königin sein.«

Mira zuckt mit den Schultern. »Und müsste jede Nacht damit rechnen, mit einem Dolch im Rücken aufzuwachen. Nein, danke.«

»Aber …« Verzweifelt suche ich nach einem anderen Grund, weshalb sie Caligram keinesfalls zurückbringen sollte. Wieso sie mich nicht erneut in ein Leben voller Qualen bei der Seehexe verdammen sollte. Doch die Wahrheit kann ich ihr unmöglich sagen. Dadurch würde ich in ihren Augen nur schwach erscheinen.

Außerdem hält mich noch ein weiterer Grund davon ab, erneut auf sie einzureden. Als ich sie und Garreth auf die falschen Pfade geführt und durch Lerthau habe irren lassen, habe ich ihr bereits genug Schwierigkeiten bereitet. Meinetwegen musste sie ihren ehemaligen Kameraden töten. Hätte ich sie schnurstracks zum Herzholzhain geführt, hätte dieser Korven wahrscheinlich nicht genug Zeit gehabt, um neue, diesmal stärkere Männer anzuheuern. Dass die Entscheidung über seinen Tod sie noch immer belastet, spüre ich jede Nacht, wenn sie mich darum bittet, ihr irgendetwas zu erzählen.

Nicht nur ein Mal habe ich mir vorgestellt, ich könnte sie tatsächlich im Arm halten und dadurch alle Albträume und Vorwürfe von ihr fernhalten – nicht bloß mittels meiner Stimme.

Selbst wenn es mir gelänge, Mira davon zu überzeugen, das Schwert nicht zurück zum See zu bringen, würde ich ihr nur weitere Probleme bereiten. Sie würde daran zugrunde gehen, dass sie mit ihrem Eidbruch Unglück über all jene gebracht hätte, die ihr wichtig sind. Während eines Kampfes mag Mira kalt und berechnend sein, aber ich habe sie in den letzten Wochen wahrscheinlich besser kennengelernt als irgendwer sonst. Ich kenne nicht bloß die starke Söldnerin, sondern durfte bereits die verletzliche junge Frau erleben, die sich des Nachts davor fürchtet, die Augen zu schließen. Und das, weil sie jemanden töten musste, der andernfalls sie getötet hätte.

»Schon gut«, murmele ich. »Ich habe verstanden.«

»Das bedeutet nicht, dass ich dir nicht helfen will«, beteuert Mira.

Ich glaube ihr, aber das ändert nichts an meiner Situation. »Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das.«

Sie lehnt sich zu mir und streckt die Hand nach mir aus. Ich halte unwillkürlich die Luft an, auch wenn ich nicht mehr atmen muss. Ihre Finger gleiten ohne Widerstand durch meine Erscheinung hindurch. Ich fühle nicht einmal das kleinste Anzeichen einer Berührung. Obwohl ich damit gerechnet habe, sacke ich enttäuscht zusammen, während Mira ungläubig auf ihre Hand schaut.

»Wie kannst du überhaupt hier sein?«, fragt sie.

Diese Frage hat sie bereits vorhin gestellt, doch ich bin ihr ausgewichen. Mir wäre es tausendmal lieber, ich könnte sie weiter damit aufziehen, indem ich Teile ihres Körpers oder ihr Aussehen allgemein erwähne. Ich sehne mich nach dieser Leichtigkeit zwischen uns, die alles und nichts bedeuten muss. Es ist diese Leichtigkeit, die mir weiterhin das Gefühl geben könnte, dies sei einer von unzähligen Vollmonden.

Aber Mira hat eine Erklärung verdient. Eine, die sie versteht – keine Ausflüchte oder Halbwahrheiten.

»Als die Hexe mich für meinen Eidbruch bestraft hat«, sage ich stockend, »hat sie eine Hintertür in ihren Fluch eingebaut. Sobald das Licht des Vollmonds sich in einer Wasseroberfläche spiegelt und diese Spiegelung anschließend auf Caligrams Klinge fällt, kann mein Geist in dieser Form dem Schwert entsteigen.«

Miras Blick huscht zu Caligram, das an ihrer Seite liegt, die Klinge leicht schräg, sodass sie die Spiegelung des Vollmonds einfangen kann.

»Wenn ich das Schwert bewege«, murmelt sie, »oder sich der Mond nicht mehr im Wasser spiegelt, was dann?«

»Dann verschwinde ich. Genauso als würdest du Caligram nicht mehr berühren. Ich falle dann zurück in mein Gefängnis und muss auf die nächste hoffentlich wolkenlose Vollmondnacht warten.«

Mira runzelt die Stirn, als sie mich erneut betrachtet. »Warum sollte die Hexe eine solche Hintertür einbauen?«

Vor dieser Frage habe ich mich gefürchtet. Aber gleichzeitig habe ich mit ihr gerechnet, denn Mira ist alles andere als auf den Kopf gefallen.

»Um mich zu quälen«, antworte ich heiser.

»Inwiefern?«, hakt sie nach. »Indem sie dir das zeigt, was du nicht mehr haben kannst?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich kann darüber nicht reden, Mira. Nicht einmal mit dir.«

»Wieso?«

Wieder streckt sie die Hand aus, diesmal um sie auf meine zu legen. Es ist, als verspürte sie genau wie ich das brennende Bedürfnis nach einer Berührung. Doch erneut gleitet ihre Hand durch meine hindurch.

Ich wünschte, ich würde irgendetwas spüren. Der kleinste Lufthauch, die winzigste Ahnung ihrer Berührung würden mir genügen. Aber da ist nichts. Verdammt noch mal nichts. Nichts womit ich die schrecklichen Erinnerungen an die vergangenen Vollmonde und die Angst vor den kommenden bekämpfen könnte.

Ich kann nicht sagen, ob mein Gesichtsausdruck Bände gesprochen hat, weshalb Miras Stirnrunzeln sich vertieft.

»Was tut sie dir an?«, fragt sie.

Mein Hals fühlt sich an wie zugeschnürt. Auch das ist nichts weiter als eine Erinnerung daran, wie mein Körper sich in dieser Situation verhalten würde, trotzdem erscheint es mir echt, wie nahezu alles, was mit Mira zu tun hat. Wenn er sich doch bloß auch an Berührungen erinnern könnte …

»Ich kann es dir nicht sagen«, beharre ich. »Bitte, lass mich meine Zeit in Freiheit nicht mit Gesprächen über die Hexe vergeuden.«

»Was möchtest du stattdessen tun?«

Ich lächele. »Hier mit dir zu sitzen, ist bereits ein guter Anfang.«

Ich mustere ihr Gesicht, das ich mir bisher vorstellen musste. Sie wirkt müde, das fällt mir als Erstes auf. Kein Wunder nach ihrem Kampf gegen die Kromer, meiner Übernahme und der Magie, die ich wirken musste, und nicht zuletzt nach all den Verletzungen, die sie sich zugezogen hat. Karli konnte zwar die schlimmsten Leiden eindämmen, aber das bedeutet nicht, dass ihr Körper wiederhergestellt ist. Dazu wird Mira Zeit brauchen. Und Ruhe.

Obwohl es mir widerstrebt, schaue ich zur Seite und sage: »Du solltest dich ausruhen.«

»Ich bin nicht müde.«

Ich wusste, dass sie etwas Ähnliches entgegnen würde. »Doch, das bist du.« Nun strecke ich meinerseits die Hand aus und lasse den Daumen knapp unter ihrem Auge entlangstreichen. Zumindest ist es das, was ich mir vorstelle. Weder sie noch ich spüren diese leichte Berührung, dennoch erschaudert ihr Körper sichtlich. Und meiner ebenso. »Du musst schlafen, Mira.«

»Aber ich …« Sie schluckt angestrengt. »Du wirst nicht mehr da sein, wenn ich aufwache.«

»Ich bin immer da«, erwidere ich. »Du musst bloß Caligram berühren und ich bin bei dir.«

»Du wärst aber nicht auf diese Weise bei mir.« Ihr Blick gleitet über mich. Ich spüre ihn mehr als die versuchten Berührungen. »Ich könnte dich nicht sehen. Ich müsste einen Monat warten und dann hoffen, dass es nicht regnet.« Mit einem verbissenen Ausdruck um den Mund schüttelt sie den Kopf. »Ich werde nicht schlafen. Nicht heute Nacht.«

Ich seufze. »Du bist nur knapp dem Tod entkommen. Dein Körper –«

»Wir beide wissen, was wir meinem Körper zutrauen können«, unterbricht sie mich. »Er wird es mir verzeihen, wenn er eine Nacht auf Schlaf verzichten muss. Wahrscheinlich ist das das kleinere Übel nach allem, was er heute durchmachen musste.«

Ich sollte ihr widersprechen. Ich sollte freiwillig zurück in Caligram verschwinden und sie dadurch dazu bringen, sich auszuruhen. Doch dieser Anflug von Vernunft verflüchtigt sich, als ich ihren unnachgiebigen Blick erwidere. Mir ist – mit Ausnahme meiner Mutter – noch nie eine Frau begegnet, die so viel Entschlossenheit allein dadurch ausdrücken kann, dass sie jemanden ansieht. Sie überzeugt sogar mich davon, dass ihr Körper eine Weile auf Schlaf verzichten kann.

»Na schön«, murmele ich mit einem Schmunzeln, als ich mich ein Stück zu ihr lehne. »Dann erzähl mir von deinem Kindheitshelden.«

Sofort nehmen ihre Wangen wieder diese niedliche rote Färbung an, die seltsame Dinge mit mir anstellt. Heilfroh darüber, dass ich gerade nicht in ihrem Kopf bin und sie teilweise meine Gedanken und Gefühle mitkriegen könnte, wenn ich nicht aufpasse, stelle ich mir vor, in welch anderen Situationen ihre Wangen sich auf ähnliche Weise färben könnten. Was ich tun müsste, um diesen Rosaton hervorzurufen – außer sie in Verlegenheit zu bringen. Würde es einfach sein? Oder müsste ich mich anstrengen?

Mira verdreht die Augen. »Du weißt ganz genau, dass du mein Kindheitsheld warst.« Sie seufzt. »Ich hätte dir das nicht erzählen dürfen.«

»Wieso? Ich fühle mich geschmeichelt. Und ich will unbedingt wissen, wie es dazu gekommen ist.«

Sie ziert sich noch eine Weile, ehe sie mit der Sprache herausrückt. Ich kann förmlich das kleine Mädchen mit dem Flammenhaar und dem Holzschwert in der Hand vor mir sehen, wie es nach weiteren Geschichten lechzt, die für ihre Kinderohren angepasst werden. Gut möglich, dass weniger als die Hälfte von dem, was ihr Vater erzählt hat, der Wahrheit entspricht.

Aber das kümmert mich nicht. Es hätte jeder sein können – jeder Eroberer, jeder König, jeder Prinz. Jeder, der irgendeine Tat vollbracht hat. Doch ich bin derjenige, dem sie als Kind und auch später nachgeeifert hat. Es macht mich glücklich und traurig zugleich. Natürlich bin ich geschmeichelt über ihre damals kindliche Ehrerbietung. Gleichzeitig grämt es mich, dass ich nicht mehr tun konnte. Dass Mira nach allem, was sie durchmachen musste, bloß die Erzählungen an den Namenlosen Prinzen hatte, die sie aufrichteten. Dass da niemand war, der sich für sie interessierte – abseits ihres Talents im Umgang mit dem Schwert.

Auch jetzt habe ich das Gefühl, nicht genug zu tun. Nicht genug zu sein.

War ich das je – genug ?

Meine Taten haben niemandem geholfen, denn letztendlich habe ich sie eigenhändig durch meinen Stolz und Hochmut zerstört. Ich war nicht da, als meine Mutter Hilfe bei den Regierungsangelegenheiten brauchte, weil ich lieber andere Reiche eroberte und mit Hexen um Artefakte feilschte. Ich schickte meine Männer, die zu mir aufsahen, in sinnlosen Schlachten in den Tod, weil ich nicht würdig war, das Geschenk der Magie zu erhalten.

Und trotzdem bezeichnet mich jemand wie Mira als ihren Helden. Zwar wird sie mich heute, als erwachsene Frau, nicht mehr mit dem verklärten Blick eines Kindes betrachten, dennoch bedeutet es mir mehr, als sie ahnt.

»Ich wünschte, ich hätte mehr tun können«, sage ich rau, als sie geendet hat.

»Du warst tot«, entgegnet Mira, pragmatisch wie immer. »Für einen Toten hast du ziemlich viel für mich getan.« Sie zieht die Beine nah an den Körper und schlingt die Arme darum. »Ich wollte aufgeben. Gerade am Anfang meiner Ausbildung, und dann später, als ich bemerkte, wie viel von meinem alten Leben ich langsam vergaß. Ich war allein, gehörte nirgends dazu. Ich hatte nur mich. Ich war die Einzige, auf die ich mich verlassen konnte. Wann immer ich kurz davor war, alles hinzuwerfen, sagte ich mir, dass der Namenlose Prinz auch nicht aufgegeben hat, und rappelte mich wieder hoch. Ich sagte mir, dass er unzähligen feindlichen Heeren gegenübergestanden hat. Da würde ich doch wohl einen Gegner im Übungsring schaffen!« Kopfschüttelnd zuckt sie mit den Schultern, ehe sie die Beine wieder ausstreckt. »Die dummen Überlegungen eines jungen Mädchens.«

»Denkst du heute anders?«

Sie schaut ins Leere, während sie nachdenkt. »Nein«, gibt Mira schließlich zu. »Ich habe mir vorgestellt, dass du da wärst, wenn ich strauchelte. Das hat mir geholfen, deshalb schäme ich mich nicht dafür. Heute allerdings …« Sie sieht wieder zu mir, und sie schenkt mir ein solch bezauberndes Lächeln, dass mein Herz schneller schlägt. Viel zu schnell. »… bist du tatsächlich bei mir. Das ist so verdammt besser, als meine Vorstellung es hätte sein können.«

»Bei dir zu sein«, murmele ich, »ist auch für mich so verdammt besser als alles, was mir seit sehr langer Zeit widerfahren ist.«

Wahrscheinlich sogar zeit meines Lebens , aber das sage ich nicht laut.

Mira überbrückt die paar Zentimeter, die uns noch getrennt haben, indem sie zu mir heranrutscht. »Es ist anders, auf diese Weise mit dir zu reden. Nicht bloß in meinen Gedanken.«

Ich lehne mich zu ihr und stelle mir vor, dass ich nicht nur ihre Wärme spüren, sondern sie auch riechen könnte. Bestimmt wird ihr Duft gerade überlagert von den Gerüchen des Waldes und des Sees, in dem sie vorhin gebadet hat, aber ich würde ihn dennoch ausfindig machen. Und ich würde ihren Duft lieben, da bin ich mir sicher.

»Auf gute Weise anders?«, hake ich nach.

Als würde sie sich erst jetzt unserer Nähe bewusst werden, beißt sie sich auf die Unterlippe. Ihr Blick wirkt unfokussiert, was wahrscheinlich daran liegen wird, dass meine Astralgestalt alles andere als gut sichtbar ist.

Ihre Mundwinkel zucken. »Ich könnte mich daran gewöhnen. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich nicht damit gerechnet, dass ich auch … auf beinahe normale Weise mit dir reden könnte. Mit dir in meinen Gedanken zu kommunizieren, ist mittlerweile fast so einfach wie atmen für mich. Ich dachte immer, dass es mir schwerfallen würde, mich mit dir zu unterhalten, während wir uns gegenüberstehen.« Sie runzelt die Stirn. »Aber das ist es nicht. Es ist beinahe genauso einfach.«

»Nur beinahe?«, will ich wissen.

Ihre Stirn glättet sich, der Anflug eines Lächelns bleibt bestehen. »Ich gebe zu, dass ich leicht abgelenkt bin von dem, was ich vor mir sehe.«

Auch ich muss lächeln. »Stimmt, ich erinnere mich. Du hattest von Anfang an eine blühende Vorstellungskraft. Allerdings sah ich in deiner schmutzigen Fantasie anders aus.«

Diesmal zieht sich die Röte ihrer Wangen bis zu den Ohren. »War ja klar, dass du dich daran erinnerst und mir das unter die Nase reiben musst.«

Ich zucke entschuldigend mit den Schultern. »Es war deine Fantasie, nicht meine. Aber soll ich dir ein Geheimnis verraten?«

Sie nickt zögerlich.

»In meiner sahst du auch anders aus.«

Mira gibt ein niedliches Schnaufen von sich, um ihre Verlegenheit zu überspielen. »Na toll.«

»Aber weißt du, was das Gute ist?«

Sie wirft mir einen lauernden Seitenblick zu. »Du wirst es mir sicherlich gleich verraten.«

Mein Lächeln wird breiter. »In den kommenden Fantasien müssen wir nicht mehr unsere Vorstellungskraft bemühen.«

Götter, sie ist dermaßen hinreißend, selbst wenn sie so schockiert dreinschaut wie jetzt.

»Wer sagt, dass es kommende Fantasien geben wird?«, fragt sie eine Spur pikiert, bevor sie das Kinn reckt. »Du hast eine viel zu hohe Meinung von dir.«

Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. »Du vergisst, dass ich deine Schwachstelle kenne. Und ich bin mir sicher, dich mit diesem Wissen von weiteren Fantasien überzeugen zu können.«

Sie verengt die Augen. »Und welche Schwachstelle soll das sein?«

Ich überbrücke die letzte winzige Kluft zwischen uns. Hätte ich einen Körper, könnte ich mit der Nasenspitze an ihrem Ohr entlangstreichen. Mira bleibt sitzen, doch ich spüre, wie angespannt sie ist. Das ist nichts Schlechtes, aber unter ihrer Anspannung erkenne ich einen Hauch Zurückhaltung. Mal sehen, wie lange diese Zurückhaltung noch anhalten wird …

Zielsicher finde ich die Stimmlage, auf die sie in der Vergangenheit bereits reagiert hat – eine tiefes, etwas kratziges Raunen, mit dem ich ihr direkt ins Ohr flüstere: »Meine Stimme ist deine Schwachstelle.«

Schon bei der ersten Silbe rauscht ein sichtbarer Schauer durch sie hindurch und sie schnappt hörbar nach Luft. Ohne auch nur ein Stück zur Seite zu rutschen, kneift sie die Augen zu und beißt sich erneut auf die Lippe, während ein weiterer Schauer ihren Körper erzittern lässt. Ich gäbe nahezu alles dafür, um zu erfahren, was gerade in ihrem Kopf vorgeht.

»Soll ich weitermachen?«, frage ich in genau derselben Stimmlage.

»Untersteh dich!«, zischt sie. Der zarte Rosaton auf ihren Wangen und das leichte Schimmern in ihren Augen strafen ihre harschen Worte Lügen. Sie reckt das Kinn. »Du vergisst, dass ich ebenfalls deine Schwachstelle kenne. Und ich werde nicht zögern, von diesem Wissen Gebrauch zu machen.«

Ich neige den Kopf. »Von welcher Schwachstelle sprichst du?«

Ein süßliches Lächeln umspielt ihren Mund. »Das zeige ich dir, sobald du wieder in Caligram steckst.«

Ich grinse, denn ich weiß genau, was sie meint. »Ich freue mich darauf.«

Und das tue ich wirklich, sind es doch ihre Berührungen, die meine Gefangenschaft erträglich machen. Würde ich es nicht so sehr genießen, mit ihr hier zu sitzen und sie ansehen zu können, würde ich mich freiwillig in das verdammte Schwert zurückziehen, bloß um – anders als hier – ihre Berührungen spüren zu dürfen.