ERSTE VOLLMONDNACHT
D ie Zeit vergeht viel zu schnell. Ich wünschte, sie würde einfach stehen bleiben. Stumm flehe ich den vollen Mond am Himmel an, sich nicht weiterzubewegen und dort zu verweilen, wo er ist.
Für immer.
Doch die Stunden zerrinnen mir zwischen den Fingern, ebenso wie das schwindende Mondlicht.
Zwischen ernsten Gesprächen und viel mehr Neckereien, als gut für meinen Herzschlag und meine Vorstellungskraft sind, vergesse ich die Strapazen, die mein Körper überstehen musste. Ich vergesse den Hauch des Todes, den ich vor wenigen Stunden im Nacken spürte.
Ich vergesse alles – bis auf den Mann neben mir.
Zu keiner Zeit gerät unsere Unterhaltung ins Stocken, ganz gleich welche Richtung sie gerade nimmt. Es ist, als wären wir alte Freunde, die sich seit Ewigkeiten wiedersehen und sich endlos viel zu erzählen haben.
Einen solchen Zustand kenne ich nicht. Dennoch bewegt sich mein Mund ohne Unterlass; entweder um eine spitze Bemerkung Varyans zu kontern oder um auf meiner Unterlippe zu kauen, weil er etwas gesagt hat, was meinen Verstand dazu veranlasst, sich völlig abstruse Dinge vorzustellen. Ausreichend für Letzteres ist eine winzige Änderung seiner Stimmlage.
Über die Mägde meines Lehnsherrn habe ich ein ums ande re Mal den Kopf geschüttelt, wenn sie wie verliebte Hühner kicherten, weil ihnen ein Stallbursche einen flüchtigen Blick zugeworfen hatte. Mir war es stets egal, wie mich wer auch immer ansah.
Nun sitze ich hier und bekomme weiche Knie wegen dieses leicht rauen Timbres in Varyans Stimme. Ich bin keinen Deut besser als die Mägde , huscht es mir für einen flüchtigen Moment durch den Sinn. In einer anderen Situation würde mich diese Erkenntnis ängstigen. Ich täte alles dafür, um wieder einen kühlen Kopf zu erlangen. Doch im Augenblick ist es mir gleichgültig. Ich weigere mich, auch nur eine Sekunde länger mit solch einem Quatsch zu vergeuden.
Denn die Nacht neigt sich dem Ende entgegen.
Varyans Erscheinung verschwimmt zusehends. Hat es mir von Anfang an Probleme bereitet, ihn klar wahrnehmen zu können, ist es mir nun fast unmöglich. Gerade so kann ich noch die Kontur seines Gesichts ausmachen.
»Musst du wirklich gehen?«, frage ich mit dünner Stimme.
Ich meine, ein trauriges Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen, aber ich bin mir nicht sicher.
»Mir bleibt keine Wahl.« Auch Varyan klingt alles andere als glücklich darüber.
Ich schaue hinauf zu den Baumkronen, hinter denen ich bereits die Morgendämmerung erahnen kann. Die Sterne, die vor Kurzem noch das endlose Schwarz des Himmels bevölkert haben, sind verschwunden. Nur der volle Mond hält sich am heller werdenden Firmament fest, wohl wissend, dass auch er sich alsbald dem Licht geschlagen geben muss. Ich will ihn anflehen weiterzukämpfen und seinen Platz zu verteidigen.
Ich kann mich nicht erinnern, ob ich je einen dämmernden Morgen verflucht habe. Vermutlich nicht, war ich doch diejeni ge, die noch vor dem ersten Hahnenschrei auf den Beinen war. Jeder neue Morgen bedeutete für mich, dass ich etwas Neues lernen und mich beweisen konnte.
Doch jetzt will ich keinen neuen Morgen. Nichts Neues. Ich will die Nacht. Unsere Gespräche und Neckereien, die meine wildesten Gedanken befeuern.
»Ich bin froh«, sagt Varyan und wartet, bis ich mich wieder auf ihn konzentriere, »dass wir auf diese Weise miteinander reden konnten.«
Ich schlucke angestrengt, dennoch habe ich das Gefühl, keine Luft zu kriegen. »Ich bin auch froh. Ich wünschte, wir könnten das öfter tun.«
»Das wünschte ich auch.«
Flüchtig gleitet auch sein Blick hinauf zum heller werdenden Himmel, ehe er sich zu mir vorlehnt. Mein Herz rast, obwohl ich nichts spüre. Aber wenn ich es könnte, wären da jetzt seine Lippen, die leicht über meine Wange streichen. So stelle ich es mir zumindest vor.
»Danke für diese unvergessliche Nacht«, murmelt er sanft, ohne sich zurückzuziehen.
Seine Nähe, gepaart mit seiner Stimme verursachen mir ein warmes Kribbeln im Bauch.
»Gern geschehen«, wispere ich.
»Versprich mir, dass du gleich schlafen gehst, Mira. Die Schatten unter deinen Augen machen mir Sorgen.«
Ich könnte ihm versichern, dass es mir gut geht, doch er würde die Lüge sofort durchschauen, auch ohne in meinem Kopf zu sein.
»Das tue ich«, sage ich, »wenn du mir versprichst, bei mir zu bleiben, wenn ich schlafe.«
Er schmunzelt. »Ich habe nichts dagegen, wieder mit dir in einem Bett zu liegen. Obwohl es bloß in meiner Vorstellung ist.«
Ich lächele ebenfalls. »Sagtest du nicht, dass wir nun unsere Vorstellungskraft besser bemühen können?«
»Ich bin schon ganz gespannt, was du –«
Von einem Moment auf den anderen ist Varyan verschwunden, als wäre er nie da und bloß die Ausgeburt meiner Fantasie gewesen. Die letzte Silbe seines Satzes hängt für eine flüchtige Sekunde in der Luft, dann löst auch sie sich auf und lässt mich allein.
Meine Augen brennen. Ich reibe mir mit dem Handrücken darüber, um das Gefühl zu dämpfen. Verdammter Schlafmangel. Dabei habe ich nie sonderlich unter Schlafentzug gelitten. Doch nun wollen meine Augen gar nicht aufhören zu kribbeln. Zusammen mit dem Kloß, der sich in meinem Hals bildet, bleibe ich im Gras sitzen und verfluche die Sonne, die ihre Strahlen nun über die Baumkronen schickt.
Erst als das Brennen in meinen Augen und das Engegefühl im Hals verschwunden sind, greife ich nach Caligram. Die Klinge ist feucht vom Gras und fühlt sich kühl unter meinen Fingern an.
Sogleich nehme ich Varyan in meinem Kopf wahr und atme erleichtert auf.
›Du warst wirklich hier, nicht wahr?‹ , frage ich, als ich aufstehe, um zurück in den Hain zu gehen. ›Das habe ich mir nicht vorgestellt, während ich in einem Fieberwahn wegen meiner Verletzungen ans Bett gefesselt war, oder?‹
Sein Lachen brandet über meinen Geist und beruhigt mich. ›Ich war wirklich da. Und damit du nicht doch noch einen Fieberwahn erleidest, solltest du schlafen gehen.‹
›Wirst du bei mir sein, wenn ich aufwache?‹
›Ich werde immer bei dir sein, wenn du es willst. Nicht auf die Art wie eben, aber ich werde dich nicht allein lassen, solange du meine Anwesenheit schätzt.‹
Vor ein paar Wochen hätte ich alles dafür gegeben, wenn ich diese verfluchte, freche Stimme nicht mehr hören müsste. Heute will ich keine Sekunde mehr ohne ihren Klang sein, der mich erdet und gleichermaßen aufwühlt. Ich frage nicht nach dem Grund. Ich denke nicht weiter als weitere zwei Monate und drei Tage. Zu gewichtige Wahrheiten blocke ich ab. Ich werde mich irgendwann damit beschäftigen, wenn ich alles andere erfüllt habe.
Und bis dahin werde ich jeden Augenblick genießen, den ich nicht allein sein muss.