KAPITEL 34

Garreth

M ira weigert sich zwar, sich etwas anmerken zu lassen, trotzdem spüre ich es: Sie leidet unter dem Verlust von Caligram. Nicht bloß körperlich. Ihre Schmerzen kriegen Lady Karli und ich ganz gut in den Griff.

Es ist ihr Geist, der mir Sorgen bereitet. Nacht für Nacht schreckt sie aus dem Schlaf hoch. Nicht schreiend oder gepeinigt, doch ich höre ihre abgehackte Atmung, da ihr Bett bloß knapp zwei Meter von meinem entfernt steht. Ich registriere ihre Unruhe, mit der sie sich anschließend umherwälzt, als suche sie verzweifelt nach etwas, was nicht da ist.

Natürlich streitet sie all dies mit einem aufgesetzten Lächeln und einem Wedeln ihrer Hand ab, als ich sie am Morgen darauf anspreche.

»Es ist nichts«, sagt sie leichthin. »Ich habe bloß schlecht geträumt. Das kommt vor.«

Ich kann ihre Worte nicht widerlegen, da ich nicht weiß, ob sie nicht auch vorher schon schlecht geschlafen hat. Unsere Zimmer befanden sich in den Herbergen zwar nebeneinander, aber mehr nicht. Und meistens war ich selbst zu müde von der Reise und den ungewohnten Strapazen, als dass ich mehr als nötig auf Mira hätte achten können.

Doch jetzt tue ich es. Seit wir im Herzholzhain angekommen sind, herrscht in mir wieder diese innere Ruhe, die ich beinahe vergessen hätte. Ich kenne sie noch aus meiner Zeit, als ich ein fach nur ein Gehilfe war. Die Zeit, bevor ich mit der Aufsicht über die drei bellvorschen Prinzessinnen beauftragt wurde.

Obgleich ich in eine einflussreiche Familie hineingeboren wurde, war ich doch nie mehr als ein unbedeutender Handlanger. In einer Familie wie der meinen herrschen ähnliche Hierarchien wie in einer Monarchie. Es gibt jene, deren Blutlinie direkt auf den ersten Eslinger zurückzuführen ist – derjenige, der einst von Lady Karli persönlich unterrichtet wurde. Doch mit der Zeit hat sich dieses Blut so weit verwässert, dass ich bloß noch auf dem Papier den gleichen Namen mit meinem Ahnen teile.

Der Familienzweig, aus dem ich stamme, gehörte nie zum inneren Kreis. Meine Eltern waren ganz aus dem Häuschen, als ich ihnen mitteilte, dass ich einen wichtigen Posten, wie die Versorgung der Prinzessinnen, übernehmen würde. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass diese Aufgabe eher eine Strafe denn eine Belohnung war.

Als ich dann auch noch meine Weissagung erhielt und sogleich Rückschlüsse auf die gemeinen Mädchen schloss, die mir jeden Tag das Leben schwer machten, dachte ich, alles sei vorbei.

»Hast du deine Medizin genommen?«, frage ich Mira, nachdem sie sich angezogen hat und aus unserer Hütte nach draußen getreten ist.

Sie verzieht den Mund. »Du und Karli seid doch so gute Heiler. Warum könnt ihr nicht etwas erschaffen, was hilft und dabei nicht so widerlich schmeckt?«

Ich lächele, froh darüber, dass sie wenigstens nach außen hin ihre Schlagfertigkeit nicht verloren hat. Aber mir entgeht weder ihr gehetzter Blick noch die Bewegung ihrer Hand, die kaum merklich zu ihrer Hüfte gleitet, dort jedoch ins Leere greift.

Ihre Verletzungen mögen dank der Medizin und dem leich ten Training, zu dem ich sie jeden Tag anhalte, schnell verheilen, trotzdem schwärt in ihrem Inneren eine Wunde, für die es keine Hilfe gibt.

Manchmal erinnert sie mich an einen Soldaten, den ich mit versorgt habe, als ich jünger war. Während eines Kampfes verlor er einen Arm, hatte aber stets das Gefühl, er wäre noch da. Und so wie der Soldat, der mehrmals mit dem fehlenden Arm aus purer Gewohnheit nach einem Glas Wasser greifen wollte, erscheint mir auch Mira.

Jemandem, der sie nicht kennt, würde es vermutlich nicht auffallen. Doch ich sehe sie: die kleinen Bewegungen ihrer Hand, ehe sie sich wieder daran erinnert, dass bloß ihr eigenes Schwert an ihrem Gürtel hängt. Ich sehe außerdem die Blicke, mit denen sie die Schmiede bedenkt, wann immer wir in ihrer Nähe sind, und auch das stechende Starren, wenn Colette während der Mahlzeiten anwesend ist. Beinahe bin ich verwundert darüber, dass Mira die Meisterschmiedin noch nicht angeschrien hat, sie solle weniger essen und dafür schneller an Caligram arbeiten. Aber das wäre unter Miras Würde.

Sie ist mit Abstand die stolzeste Person, die mir je untergekommen ist. Sogar an die Einnahme ihrer Medizin muss ich sie jeden Tag erinnern. Nicht weil sie sie vergessen würde, sondern weil sie der Meinung ist, sie bräuchte sie nicht und könnte aus eigener Kraft genesen.

Als wir hier ankamen, hat Lady Karli deutlich gemacht, dass sie keine Schmarotzer in ihrer Mitte duldet. Zwar bezog sich ihre Warnung eher auf Varyan, trotzdem packen Mira und ich mit an, wo es uns möglich ist. Ich versorge die Alten und Kranken und schaue den hiesigen Heilern über die Schulter, während Mira, nachdem sie sich ausgeruht hat, eine Gruppe Jungspunde in der Führung eines Schwertes unterrichtet.

Nicht nur ein Mal haben Lady Karli und ich sie ermahnt, sich noch zu schonen, doch Mira winkte ab. Auch wenn sie den Grund nie laut ausgesprochen hat, verstehe ich, warum sie sich dermaßen in körperliche Arbeit stürzt, dass sie abends todmüde in ihr Bett fällt.

Dennoch schreckt sie jedes Mal aufs Neue hoch. Auch in dieser Nacht gibt sie, abgesehen von ihrem abgehackten Atem, keinen Laut von sich.

»Wieder schlecht geträumt?«, flüstere ich in die Dunkelheit unserer Hütte.

»Verzeih, ich wollte dich nicht wecken«, wispert sie zurück.

»Hattest du schon immer Albträume?«, frage ich.

Ich höre ihre Decke rascheln, als sie sich vermutlich aufsetzt. »Nein«, gibt Mira zu. »Sie begannen nach dem Vorfall mit Korven. Als du … verletzt wurdest.«

»Meinetwegen musst du nicht –«

»Es ist nicht deinetwegen«, fällt sie mir ins Wort. »Nicht nur, jedenfalls.« Geräuschvoll stößt sie den Atem aus. »Ich musste noch nie jemanden töten, den ich kannte. Auf meinen Lehnsherrn wurde mehrmals ein Attentatsversuch verübt, und zweimal musste ich gegen Aufständische kämpfen. Dabei gab es natürlich Tote, aber es kümmerte mich nicht. Hätte ich sie nicht getötet, hätten sie mich getötet oder jemanden, der mir nahestand. Aber sie waren … Unbekannte. Namenlose Niemande, deren Schicksal mich während eines Kampfes nicht berührte.«

Ich runzele die Stirn. »Das klingt, als hieltest du dich für rücksichtslos. Das bist du nicht, Mira. Du hast den Bauern eine Münze und somit eine Chance gegeben und –«

»Ich habe sie verdammt.« Ihre Stimme ist kaum mehr als ein heiseres Flüstern. »Es ist alles meine Schuld.«

Ich dränge sie zu nichts, sondern warte geduldig darauf, dass sie mir erklärt, was sie meint. Als sie es schließlich tut, frage ich: »Was hat Varyan dazu gemeint?«

Varyans Namen auch nur zu nennen, war in den letzten Tagen tabu. Wir haben zwar nicht darüber gesprochen, aber ich hielt es für das Beste, ihn nicht zu erwähnen und ihr Leid dadurch zu vergrößern. Doch jetzt geht es nicht anders.

»Er hat gesagt, dass ich Blödsinn rede«, gibt sie zu. »Dass es nicht meine, sondern Korvens Schuld war.«

»Varyan und ich sind selten einer Meinung, doch diesmal stimme ich ihm zu. Verschwanden deine Albträume, nachdem du mit Varyan darüber gesprochen hast?«

»Nicht direkt. Aber er hielt sie von mir fern.«

Stockend erklärt sie mir, dass es Varyans Stimme war, die sie Nacht für Nacht durch den Schlaf geleitet und alle schlechten Träume abgewendet hat.

Als ich Varyan das erste Mal begegnete, verspürte ich sofort einen unerklärlichen Hass auf ihn, sah ich doch Miras völlig fertigen Körper nach ihrem ersten Training vor mir. Die ganze Zeit zuvor trieb er Mira durch seine Bemerkungen, die nur sie hören konnte, in den Wahnsinn. Er tat ihr offensichtlich nicht gut. Wie sollte ich ihn da nicht hassen?

Aber schlimmer war meine Wut auf mich selbst, schließlich war ich derjenige, weshalb Mira all das durchmachen musste. Zwar änderte sich ihre Beziehung nach und nach, ohne dass ich den Grund dafür kannte, doch mein Hass auf Varyan verschwand nie völlig. Er wurde lediglich zu offenkundiger Abneigung.

Nun zu hören, dass Varyan mehr für Mira getan hat, als meine Salben und Pülverchen es wohl je können, lässt auch meine Abneigung ein Stück weit verrauchen. Doch bereits vorher habe ich geglaubt, dass etwas anders zwischen ihnen war.

»Als wir gegen die Kromer gekämpft haben«, beginne ich vorsichtig, »wurde dir das Schwert aus den Händen geschlagen, erinnerst du dich?«

»Ja«, sagt sie zögernd.

»Selbst aus einiger Entfernung konnte ich erkennen, dass du schwer verletzt warst und dich kaum bewegen konntest. Trotzdem hast du alles versucht, um die Hand wieder um Caligram legen zu können. Warum? Hatte Varyan noch einen Trick auf Lager?«

»Varyan wollte von Anfang an, dass ich weglaufe«, gibt sie zu. »Gegen Kromer, sagte er, könnte all seine Magie nichts ausrichten. Er verlangte, dass ich mich in Sicherheit bringe, doch ich konnte nicht verschwinden. Nicht, bis du ein sicheres Versteck gefunden hattest. Also musste ich die Kromer hinhalten. Sogar mit Varyan zusammen war ich ihnen nicht gewachsen. Mir war schneller als ihm klar, dass ich sterben würde. Aber das machte mir in jenem Moment nichts aus. Ich wusste, dass ich dich habe retten können. Und ich war nicht allein. Es gibt schlimmere Arten zu sterben.«

Die Ruhe, mit der sie über den schrecklichen Kampf spricht, in dem sie dem Tod ins Auge sah, lässt mir das Herz schwer werden.

Ich stoße den Atem aus. »Ich will nicht hören, dass du bereit warst zu sterben, um mir die Flucht zu ermöglichen.«

»Ist es nicht das, wofür du mich angeheuert hast?«, entgegnet sie. »Dass ich auf dich aufpasse und dich verteidige?«

»Ich hatte gehofft, dass wir darüber hinaus wären.«

»Du hast recht«, murmelt sie. »Das sind wir. Trotzdem hat jeder von uns in unserer kleinen Gruppe seine Aufgabe. Auch Varyan hat eine. Obwohl er die Kontrolle über meinen Körper und ich deshalb keine Schmerzen hatte, wusste ich, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Doch erst als mir das Schwert aus den Fingern glitt, überkam mich Panik.«

»Das habe ich gesehen«, murmele ich.

»Ich kann dir nicht sagen, worüber ich dankbarer war. Dass du deine Fläschchen auf die Kromer geworfen oder mir mit der Fußspitze das Schwert zugeschoben hast.«

»Er ist dir wichtig, nicht wahr?«

Mira seufzt. »Dieses Gespräch haben wir bereits geführt. Er ist eine Stimme, mehr nicht.«

»Du hast ihn getroffen. Am See. Den du seitdem meidest, obwohl Lady Karli und ich dir zu Schwimmtraining geraten haben. Denk nicht, das wäre mir nicht aufgefallen.«

»Würde es etwas nützen, wenn ich euch beiden sage, dass ihr euch um euren eigenen Kram kümmern sollt?«, grummelt sie.

Nun weiß ich mit Sicherheit, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe. »Du kannst mit mir darüber reden.«

»Worüber denn?«, fragt sie spitz. »Dass ich die Nächte nur durchschlafe, wenn eine Stimme mit mir redet, die bloß ich hören kann? Oder doch darüber, dass ich trotz Schmerzen eine ganze Nacht mit dem Geist eines Mannes verbracht habe, der seit wer weiß wie vielen Jahrhunderten tot ist? Oder doch lieber über die Tatsache, dass es sich noch nie so gut angefühlt hat, von einem Mann berührt zu werden, als er mir beim Anziehen geholfen hat, obwohl er überhaupt nicht physisch anwesend war?«

Hitze steigt mir in die Wangen. »Ähm …«

»Dachte ich mir.« Wieder höre ich das Rascheln ihrer Decke. »Danke für das Gespräch. Gute Nacht.«

»Mira … Ich möchte dir helfen. Du leidest.«

»Niemand kann mir helfen«, wispert sie.

Da ich nicht wusste, was ich darauf erwidern soll, schwieg ich und schlief irgendwann wieder ein.

Als ich am nächsten Morgen erwache, ist Mira bereits verschwunden. Auch ohne dass ich unsere Unterkunft verlasse und nach ihr suche, weiß ich, dass ich sie in der Nähe der Schmiede finden würde.

Stattdessen suche ich Lady Karli auf. Wenn jemand etwas über göttliche Artefakte und vielleicht auch Varyans Geschichte weiß, dann eine Hexe wie sie.

Ich muss mich bei einigen Bewohnern nach Lady Karli durchfragen. Um diese frühe Tageszeit, sagt man mir, schreitet sie stets die Grenzen des Hains ab, um Ausschau nach Eindringlingen zu halten. Mit einem mulmigen Gefühl mache ich mich auf die Suche, während ich inständig hoffe, nicht wieder einem Kromer in die Arme zu laufen.

Tatsächlich entdecke ich Lady Karli in einem Waldstück, das nördlich an den Herzholzhain grenzt. Der Geruch hier ist nicht der eines Waldes, sondern es riecht nach Moder, Verwesung und Tod.

»Was führt dich her, junger Eslinger?«, fragt sie, ohne sich zu mir umzudrehen.

Als ich neben sie trete, erkenne ich den Grund für den seltsamen Geruch: Direkt hinter dem Waldstück erstreckt sich die Ödnis. Ich kenne diesen Teil der Welt lediglich aus Geschichten oder Karten. Ein verwaister Landstrich, in dem jedes Leben durch den Roten Tod ausgelöscht wurde. Die Ödnis nun mit eigenen Augen zu sehen, ist jedoch etwas völlig anderes, als ihre Beschreibung aus dem Mund eines weit gereisten Wanderers zu hören.

Vor mir erstreckt sich eine völlig karge Ebene, so weit mein Blick reicht. Nicht ein Grashalm spitzt aus der trockenen Erde hervor. Verwesende Kadaver – unmöglich zu sagen, ob Mensch oder Tier – verbreiten einen fürchterlichen Gestank, während die Knochen von Skeletten im Wind gegeneinanderklappern.

Ich spüre, dass Lady Karli mich beobachtet. »Siehst du zum ersten Mal die Ödnis?«

Ich nicke.

»Sie breitet sich aus«, murmelt die Hexe. »Und lange werde ich sie nicht mehr zurückdrängen können.«

Ich reiße meinen Blick von dem toten Land los und schaue zu Lady Karli. Ihre Hand, von der ein leichtes Glühen ausgeht, ruht auf einem Baum, dessen Wurzeln direkt an die Ödnis grenzen und eine fast schwarz-faulige Färbung angenommen haben. Ausgehend von ihrer Berührung kehrt neues Leben in den Baum ein, der bereits dem Tod geweiht war, und auch die Grenze der Ödnis verschiebt sich ein Stück. Zwar bloß wenige Zentimeter, aber das ist besser als nichts.

»Ihr könnt die Ödnis zurückdrängen?«, frage ich.

Lady Karli schüttelt den Kopf. »Ich kann lediglich das retten, was noch lebt. Erde, die bereits der Ödnis anheimgefallen ist, ist unwiederbringlich verloren. Aber ich tue alles dafür, dass sie sich nicht weiter ausbreitet. Die Grenzen meines Hains zu schützen, ist meine oberste Priorität. Sollte der Herzholzhain fallen, wird sich die Ödnis in ganz Lerthau ausbreiten.«

Ich runzele die Stirn. Natürlich kenne ich die Erzählungen, dass die Ödnis einst ein fruchtbares Land war.

»Ich dachte, die Ödnis hängt mit dem Roten Tod zusammen«, sage ich.

»Das ist richtig. Stirbt ein Lebewesen am Roten Tod, verursacht sein verseuchtes Blut eine weitere Ödnis. Oft ist sie so klein, dass das umliegende Land sich darum kümmern kann. Aber sollte ein ganzer Landstrich oder ein größerer Ort von der Seuche dahingerafft werden, gibt es keine Rettung mehr. So entstand die Ödnis. In einige Richtungen, vor allem nach Bellvor hin, breitete sie sich anfangs ungehindert aus und raffte mit der Seuche immer neue Orte dahin, ehe reagiert wurde.«

»Ist das der Grund, warum wir an den Grenzen scharf kontrolliert wurden?«

Lady Karli schreitet zum nächsten befallenen Baum und heilt ihn auf die gleiche Weise wie den ersten. »Ja. Wie gesagt, eine einzelne infizierte Person ist kein Problem für das Land. Aber ein ganzes Dorf könnte zu einem werden. Ich kann meinen Hain nicht verlassen, und es gibt niemanden, dem ich meine Magie anvertraut habe.«

Ich erinnere mich an das Gespräch zwischen ihr und Varyan, als wir im Hain ankamen. »Varyan hat damals um Eure Magie gebeten, nicht wahr? Aber Ihr habt sie ihm verwehrt.«

»Meine Magie«, sie legt ihre Hand auf den nächsten Baum, »heilt und erschafft und beschützt. Ich könnte sie nie einem Eroberer anvertrauen, dessen einziges Ziel das Blutvergießen ist.«

»War er so?«, frage ich. »Varyan, meine ich.«

Lady Karli wendet sich mir zu und betrachtet mich von oben bis unten. »Nein. Er war ambitioniert und gewillt, für die Erfüllung seiner Ziele jeden Weg zu beschreiten. Er war nicht blutrünstig, aber er scheute auch keinen Kampf. Wie ich es drehe und wende, meine Magie wäre in seinen Händen nicht gut aufgehoben gewesen. Er besaß zur damaligen Zeit nichts, was er beschützen wollte.«

Ihr Wortlaut lässt mich aufhorchen. »Und jetzt? Wenn er jetzt etwas … jemanden hat, den er beschützen will, würdet Ihr ihm Eure Magie anvertrauen?«

»Varyans Zeiten sind vorbei«, sagt sie. »Sein Geist existiert lediglich zur Belustigung meiner Schwester. Selbst wenn er nun bereit wäre, meine Magie zu empfangen, würde sie ihm nichts nützen.«

Zur Belustigung meiner Schwester. Ich habe nie nachgefragt, warum Varyans Geist in das Schwert gebannt wurde. Ich ging davon aus, dass er etwas Schreckliches getan haben muss und seine Strafe verdient hat. Doch diese Aussage klingt nicht danach.

»Du wärst ein geeigneter Kandidat für meine Magie«, sagt Lady Karli unvermittelt. »Aber du besitzt kein Artefakt. Ich würde dir auch nie raten, dir eines zu besorgen. Menschen neigen dazu, eine starke Abhängigkeit von den göttlichen Artefakten zu entwickeln.«

Ich verziehe den Mund. »Das habe ich gesehen.«

»Du sprichst von Delmira.« Sie neigt den Kopf. »Aber du täuschst dich. Mir ist noch nie ein Mensch begegnet, der so wenig abhängig von einem Artefakt war wie sie.«

Nun verstehe ich gar nichts mehr. »Ihr müsst Euch irren. Mira ist abhängig von Caligram. Sie schläft kaum noch und schleicht ständig in der Nähe der Schmiede herum. Sie benimmt sich wie …«

»Ich kann dir versichern, junger Eslinger, dass sie nicht abhängig ist. Menschen sind nicht dafür gemacht, göttliche Artefakte zu führen. Deshalb wurden sie uns Hexen, den direkten Nachfahren der Götter, gegeben. Selbst unsere Kinder, die Priesterinnen und Priester, die das Wort der Götter als Weissagung unter die Menschen bringen, wüssten ein Artefakt nicht auf Dauer zu benutzen. Es würde ihnen die Lebenskraft entziehen. Ein Artefakt nährt sich von seinem Träger, bis er bloß noch der Schatten seiner selbst ist. Mir ist kein Träger bekannt, der länger als ein paar Wochen ein Artefakt führen konnte, ohne daran zugrunde zu gehen. Bis auf den Prinzen, der sich anschickte, alle Reiche zu vereinen.«

»Aber Mira –«

»Du hattest recht«, fällt mir Lady Karli ins Wort. »Er hat mittlerweile etwas gefunden, was er beschützen will.«

»Varyan«, murmele ich.

Lady Karli nickt. »Er ist es noch immer, der Caligram führt. Ihm kann das Schwert nichts mehr anhaben, und durch seine Anwesenheit schützt er Delmira vor den Auswirkungen, die sie bereits verzehrt haben müssten.« Ein flüchtiges Lächeln huscht über ihre Lippen. »Ich hätte gern das Gesicht meiner Schwester gesehen, als Delmira das Schwert herausgezogen hat. Hast du dich je gefragt, warum es ausgerechnet ihr gelungen ist?«

»Ja«, gebe ich zu. »Aber ich bin zu keiner Antwort gelangt.«

»Nun, Varyan wird die Antwort mittlerweile kennen. Und meine Schwester ebenso. Sie hat ihren wertvollsten Besitz lediglich weggegeben, um ihren Gefangenen weiter zu quälen.«

»Ist die Seehexe derart grausam?«

Jeglicher Anflug von Freude verschwindet aus Lady Karlis Gesicht. »Es ist kein Geheimnis, dass meine Schwester, die Hexe des Sees, und ich uns nicht ausstehen können. Dennoch bin ich von ihrer Gunst abhängig, deshalb werde ich mich hüten, schlecht von ihr zu sprechen. Einst lebte ich im südlichen Krom, doch als dort die Seuche ausbrach, musste ich das Reich verlassen. Meine Schwester war alles andere als begeistert, dass ich ausgerechnet in ihrem Land Zuflucht suchte. Sie hätte mich wegschicken können, denn laut den uralten Gesetzen unserer Eltern ist bloß eine Hexe je Reich erlaubt. Aber ich durfte bleiben – im nördlichsten Gebiet am Rande der Ödnis, die ich seitdem eindämme, und im Austausch gegen Caligram, das einst mein Artefakt war.« Sie lehnt sich mit der Schulter gegen einen Baumstamm und lässt den Blick schweifen. »Mit diesem – meinem ehemaligen – Artefakt, kam vor einigen Jahrhunderten ein junger Prinz in meinen Hain und bat um meine Magie. Ich verwehrte sie ihm allein schon aus dem Grund, weil er offensichtlich gemeinsame Sache mit der Seehexe machte. Und damit war es für mich erledigt. Erst später erfuhr ich, dass der Prinz seinen Teil der Abmachung nicht erfüllt hatte und daraufhin von meiner Schwester bestraft wurde.«

»Sie verbannte seine Seele ins Schwert«, sage ich.

Lady Karli nickt. »Der Tod wäre gnädiger gewesen. Beantwortet das deine Frage über meine Schwester?«

Ihre Bemerkung von vorhin lässt mich nicht los, und auch ihre Aussage, dass der Tod gnädiger gewesen sei, macht mich stutzig. »Was meintet Ihr damit, dass Eure Schwester Varyan … zur Belustigung hält?«

Lady Karli zögert mit einer Antwort. »Wie ich schon sagte, auch wenn meine Schwester und ich uns nicht leiden können, ziemt es sich nicht, schlecht über sie zu reden.«

»Ich möchte wirklich nicht respektlos erscheinen. Kennt Mira den Grund?«

»Das bezweifle ich. Ich hatte nie die Gelegenheit, Varyan näher kennenzulernen, aber ich denke nicht, dass er seine Folter jedem auf die Nase bindet.«

»Folter?«, hake ich nach.

Die Hexe seufzt. »Dass er während des Vollmonds unter gewissen Voraussetzungen als Geist dem Schwert entsteigen kann, weißt du?«

»Ja, Mira hat es mir erzählt.«

»Diese kleine Hintertür hat meine Schwester absichtlich in den Fluch eingebaut, um Varyan zu quälen.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich verstehe leider immer noch nicht …«

»Einmal im Monat«, sagt Lady Karli mit eiskalter Stimme, »benutzt sie ihn auf die abscheulichste Weise.«

Mehr bekomme ich leider nicht aus Lady Karli heraus, doch es genügt, um mir eine Gänsehaut zu verursachen. Wenn es das ist, was ich denke …

Sosehr ich mich auch dagegen sträube, beginne ich, Varyan in einem neuen Licht zu sehen. Nicht bloß wegen dem, was er offenbar erdulden muss, sondern auch wegen Mira. Sie mag meinen Fragen diesbezüglich zwar jedes Mal ausweichen, dennoch spüre ich, dass etwas zwischen ihnen ist. Etwas, was sie sich nicht eingestehen wollen.

Auch die Tatsache, dass sie ihren Schicksalsgebundenen seit gefühlten Wochen nicht mehr erwähnt hat, spricht Bände.

Nachdem ich ein paar älteren Bewohnern des Hains ihre Medizin gebracht und einige Wunden versorgt habe, mache ich mich kurz vor dem Mittagessen auf den Weg zur Schmiede. Ich bin erleichtert, dass die dortigen Handwerker offenbar bereits zum Essensplatz aufgebrochen sind.

Caligram ist nicht schwer zu finden; es ist das einzige Schwert, an dem gerade gearbeitet wird. Das ist mein Glück, denn ansonsten hätte ich das halb verwitterte Ding nicht wiedererkannt. Die Klinge erstrahlt nun in einem hellen Stahlgrau, in der ich keine einzige Kerbe mehr ausmache, und es besitzt jetzt einen reich verzierten Griff.

Allein die Erinnerung an den damaligen Schmerz müsste mich von der Dummheit abhalten, die ich gleich begehen werde.

Dennoch strecke ich die Hand aus und halte dabei die Luft an.

›Varyan.‹ Ich klammere mich an meine Gedanken und blende den gleißend-eisigen Schmerz, der sich ausgehend von meiner Hand den Arm hinauffrisst, kurzzeitig aus. ›Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber ich will dir einen Vorschlag unterbreiten.‹