WENIGER ALS EINE
WOCHE
BIS ZUR ZWEITEN
VOLLMONDNACHT
N achdem ich die letzten Tränenspuren beseitigt habe, schnappe ich mir meine wenigen Habseligkeiten und schlendere hinüber zum Mittelpunkt des Hains, wo Garreth und Karli bereits auf mich warten. Beide betrachten mich mit einer Mischung aus Nachsicht und Mitleid, als könnten sie mir genau ansehen, was ich eben erfahren habe. Ob sie es bereits wussten? Karli vielleicht, weil sie ihre Schwester besser kennt als wir alle zusammen.
Als ich sie erreiche, streckt Garreth die Hand aus, um mir mein Bündel mit Wechselkleidung abzunehmen, das mir die Hainbewohner vermacht haben. Auch er ist in ein Hemd und eine Hose gewandet, die die typischen Farben der hiesigen Bewohner aufweisen: ein gesättigtes Dunkelgrün und ein erdiges Braun. Würde ich mehr Wert auf meine Erscheinung legen, würde ich mich vermutlich darüber beschweren, dass sich das Grün meiner Tunika mit dem Rostrot meiner Haare beißt. Stattdessen bin ich dankbar, etwas Sauberes am Leib zu tragen.
Die Hainschreiter sind größer als all die Hirsche, die ich je in den Wäldern Bellvors zu sehen gekriegt habe. Größer sogar als die Pferde, mit denen Garreth und ich hergeritten sind. Stehend kann ich kaum über ihren Rücken schauen, auf dem nun eine Art Sattel, gefertigt aus Leder und biegsamen Ästen, liegt.
Ich halte mich für eine gute Reiterin, doch beim Gedanken, diese Tiere zu reiten, wird mir etwas mulmig.
Der Schreiter, der offenbar für mich vorgesehen ist, stapft mit dem gespaltenen Vorderhuf auf, als ich mich ihm nähere.
»Es sind zahme Tiere«, versichert Karli mir, als sie mein Zögern bemerkt.
»Aha«, murmele ich, während der Schreiter mir direkt ins Gesicht schnaubt.
Würden wir nicht heillos hinter unserem Zeitplan liegen, hätte ich freiwillig ein Pferd genommen. Der dunkle Blick des Schreiters, der jede meiner Bewegungen beäugt, macht mich nervös.
Karli streicht dem Tier über das grünlich schimmernde Fell an seiner Stirn. »Du wirst dich schnell daran gewöhnen.«
Ich seufze. »Mir bleibt ja keine andere Wahl.«
Ohne mir mein Zögern weiter anmerken zu lassen, befestige ich mein Bündel am Sattel. Garreths Schreiter ist durch die geschenkten Tränke und Salben schwerer beladen. Ich freue mich für ihn, dass zumindest er hier Freunde gefunden hat.
»Wir sollten aufbrechen«, sagt Garreth.
Ich nicke und schwinge mich auf meinen Schreiter. Sofort beginnt das Tier unter mir zu tänzeln, ich bringe es jedoch mit einem leichten Ziehen am Halfter zur Räson. Nachdem es sich beruhigt hat, tätschele ich ihm den muskulösen Hals. Tatsächlich fallen mir nun, da ich im Sattel sitze, kaum Unterschiede zu einem Pferd auf und ich gewöhne mich schnell an den Schreiter. Auch Garreth scheint keine Probleme mit seinem zu haben. Ob er während der letzten Wochen heimlich geübt hat? Ich habe ihm zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, um die Antwort auf diese Frage zu kennen.
Karli begleitet uns bis zum Rand des Hains. »Ich wünsche euch von Herzen gutes Gelingen.«
Garreth neigt den Kopf. »Wir sind Euch zutiefst dankbar, Lady Karli.«
Auch ich neige den Kopf vor der Hexe. Ohne ihre Hilfe wäre ich tot und unser Vorhaben wäre zum Scheitern verdammt. Obendrein hat sie mir einen Teil ihrer Magie überlassen. Ich habe nicht verstanden, warum sie so großmütig ist, während ihre Schwester, die Seehexe, ein solches Miststück ist.
Zwischen die Erleichterung, diesen perfekten Hain endlich hinter mir zu lassen, mischt sich nun, da es so weit ist, ein wenig Melancholie. Hätte ich Varyan die ganze Zeit über bei mir gehabt, wäre mir die Zeit hier wahrscheinlich nicht derart erdrückend erschienen. Selbst jetzt beruhigt mich das Gewicht Caligrams an meinem Gürtel, auch ohne dass ich die Hand danach ausstrecken muss.
Fast zeitgleich drücken Garreth und ich unseren Schreitern leicht die Fersen in die Flanken. Mehr brauchen diese sensiblen Tiere nicht, um in den angrenzenden Wald davonzupreschen.
Karli hat nicht übertrieben: Die Geschwindigkeit ihrer Schreiter ist nicht von dieser Welt. Wo wir früher Wochen brauchten, benötigen wir nun lediglich Tage.
Die Tiere bewegen sich derart behände durch den Wald, dass wir die Erschütterungen ihrer Schritte kaum spüren und dadurch weniger Pausen benötigen als zuvor. Zwei der drei Nächte reiten wir durch, während ich mit wachsender Sorge den nahezu vollen Mond durch die Zweige betrachte.
»Wir schaffen es bis zur Grenze«, versichert Garreth mir, als er meinem Blick folgt. »Direkt hinter der valencianischen Grenze gibt es Seen und Gewässer, so weit das Auge reicht. Dort werden wir rasten.«
Seine Worte erleichtern mich. Ich werde Varyan wiedersehen. Zum vorletzten Mal.
Mit den Fingern fahre ich über den Stahl Caligrams und lausche seinem Seufzen. Wir haben kaum gesprochen, seit wir aufgebrochen sind, da ich bei der atemberaubenden Geschwindigkeit des Schreiters meist lieber beide Hände an den Zügeln lasse. Doch jetzt brauche ich das Gefühl, dass er da ist. Wenn ich mir deswegen den Hals breche, soll es eben so sein.
›Freust du dich darauf, dem Schwert für eine Nacht zu entkommen?‹ , frage ich.
›Ich freue mich darauf, dich zu sehen.‹
Damit entlockt er mir ein Lächeln. ›Hoffen wir, dass wir es wirklich bis zu einem See schaffen und dass das Wetter bis dahin hält.‹
Varyan gibt ein Brummen von sich. ›Wehe, wenn nicht!‹