Sol 3, NASA-Basis
Die Sonne hängt knapp über dem Horizont an einem rosafarbenen Himmel. Lance kneift die Augen zusammen. Sie ist zwar viel kleiner, als er es von der Erde kennt, aber trotzdem blendet ihr Licht, wenn er direkt hineinsieht. Tatsächlich, ein paar Bogenminuten um die Sonne herum wirkt der Himmel sogar blau. Sharon, die Pilotin, die auch Meteorologie studiert hat, hatte ihm das schon angekündigt, doch er hatte es nicht glauben wollen. Er wird sich entschuldigen müssen. Aber eigentlich sollten die anderen ja nun schon wissen, dass er alles mit eigenen Augen sehen muss.
»Alles okay?«, hört er Mikes Stimme über den Helmfunk.
»Ja, Commander. Es ist sehr romantisch.«
»Du hast zu tun.«
Danke, Mike, denkt er, als ob ich das nicht selbst wüsste. Lance lässt sich trotzdem Zeit. Es ist sein erster Schritt auf den neuen Planeten, der für ein halbes Jahr seine Heimat sein wird. Bisher hat er sich nur in der Druckkabine des Rovers über die Mars-Oberfläche bewegt, von der Landestelle der Endeavour bis zur Unterkunft, die er über einen Druckschlauch betreten hat. Er betrachtet die ferne Sonne. Weil sie weiß und nicht gelblich wirkt wie auf der Erde, scheint ihr die Wärme zu fehlen. In Wirklichkeit ist natürlich nicht die Farbe Schuld daran, sondern die Entfernung.
»Wir müssen den Ausstiegsprozess unbedingt optimieren«, sagt er, »wenn es immer sechs Stunden dauert, kommen wir gar nicht zum Arbeiten.«
»Keine Sorge«, antwortete Mike, »es wird auch nach Sonnenuntergang noch eine Weile hell bleiben. Der Staub in der Atmosphäre verteilt das Sonnenlicht, auch wenn sie schon unter dem Horizont ist.«
»Was du nicht sagst«, rutscht es Lance heraus. Die neunmalklugen Sprüche des Kommandanten gehen ihm immer wieder auf den Geist. Über den Tagesablauf auf dem Mars sind sie in der Ausbildung schließlich intensiv genug aufgeklärt worden. Aber es hilft nichts, sich aufzuregen, Mike ist auf diesem Kanal unempfindlich. Und dann gibt es doch immer wieder Gelegenheiten, wo außer Mike niemand eine Antwort parat hat. Der Mann hat ja nicht umsonst sein Physikstudium schon mit 19 abgeschlossen.
Er stützt sich auf dem Dach ihrer Unterkunft ab. Die Basis ist zu 90 Prozent im Marsboden versenkt, um ihre Bewohner besser vor Strahlung zu schützen. Als Dach dienen die nicht mehr benötigten Hitze-Schutzschilde der Robotersonden, die die Basis vor der Ankunft der Menschen konstruiert haben, darüber befindet sich eine dicke Schicht Marsboden. Lance schiebt sich ganz aus der Luke heraus. Er zieht die Beine nach, kniet sich auf das Dach und steht schließlich auf. Sein Atem geht schwer. Nach den vielen Monaten in der Schwerelosigkeit fällt ihm jede Aktivität erstaunlich schwer. Wozu hat er sich dann Tag für Tag auf dem Fahrrad abgestrampelt?
»Bin draußen«, sagt er.
»Sieht gut aus«, antwortet Mike. »Jedenfalls was ich von dir auf dem Monitor sehe. Aber der Puls! Du bist ganz schön außer Form, was?«
»Pass bloß auf, Junge, sonst beweise ich dir nachher meine Form im Armdrücken.«
Mike ist, und das ist nett formuliert, körperlich eher unauffällig. Ein Wunder, dass er es durch die Ausbildung geschafft hat. Vermutlich macht er alles mit seiner Intelligenz wett. Aber im Armdrücken hat er keine Chance. Lance macht einen vorsichtigen Schritt von der Luke weg in Richtung Sonnenuntergang. Er erwartet, beim Auftreten einen hohlen Ton zu hören, aber vermutlich ist die Luft zu dünn und die Empfindlichkeit der Außenmikrofone zu gering.
»Du weißt aber, dass du warten sollst?«, fragt Mike.
Natürlich weiß er das. Die Schleuse ist so eng, dass nur ein Mensch im Raumanzug hineinpasst. Draußen sollen sie sich aber immer zu zweit bewegen. Sarah, sein Buddy für diesen Spaziergang, wird deshalb erst in ein paar Minuten in der Luke auftauchen. Aber was spricht denn dagegen, dass er sich schon mal umsieht? Er geht bis zum Rand des Daches. Von hier aus sind es etwa zwanzig Zentimeter bis nach unten auf den Marsboden. Soll er? Bisher hat er nicht das Gefühl, wirklich auf dem Planeten zu stehen. Was kann schon passieren? Der Boden sieht trocken und fest aus. Direkt neben der Basis ist er bei deren Bau sicher verfestigt worden. Lance schaut sich um, aber von Sarah ist noch nichts zu sehen. Langsam hebt er das rechte Bein, bewegt es nach vorn und senkt es wieder. Vorsichtig setzt er die Sohle auf, mit der Ferse beginnend. Plötzlich muss er lachen. Die Situation ist überhaupt nicht witzig, das muss eine Überreaktion seines Unterbewusstseins sein. Er ist gerade der erste Mensch, der einen Fuß auf den Mars setzt! Aber ihm ist nicht feierlich zumute, sondern er lacht. Lance legt das Gewicht auf das rechte Bein, zieht das linke nach und steht und lacht.
»Alles gut bei dir?«, fragt Mike. »Ich stelle fest, dass du entgegen der Absprache nicht auf Sarah gewartet hast. Zum Glück sind wir unter uns. Wie sähe das denn aus, wenn du bei der Ausstiegszeremonie meine Befehle missachtet hättest?«
»Hätte ich nicht, Mike, versprochen«, antwortet er.
»Die Erde fragt, wie es mit dem Anzug läuft«, sagt Mike.
Inzwischen sind die ersten Bilder wohl zu Hause eingetroffen. Das heißt, es müssen schon vierzig Minuten vergangen sein, wenn die Erde bereits darauf reagiert hat. Lance sieht auf die Leuchtziffern an seinem Handgelenk. Es stimmt. Das heißt aber auch, dass von den maximal vier Stunden ihrer Schicht schon ein Sechstel vergangen ist. Es wird Zeit, dass Sarah kommt. Die Bordärztin soll mit ihm gemeinsam die Basis von Staub befreien, damit dann in der TV-Übertragung alles ordentlich aussieht. Mission Control überlässt nichts dem Zufall. Die internationale Mission war viel zu teuer, als dass man sich Kritik leisten könnte.
Lance sieht an sich herunter. Der Anzug ist sehr körperbetont und das sieht, darauf ist er stolz, bei ihm ziemlich gut aus. Aber das ist sicher nicht, was Mission Control hören will. Obwohl … vielleicht ja doch. Im Vergleich zu den alten Modellen, die sich ballonartig um die Körper der Astronauten legten, sind die neuen Anzüge sicher auch wesentlich fernsehtauglicher. Unter Druck steht jetzt nur noch das Innere des Helms, während das elastische Material des Anzugs seinen Körper fest umhüllt. Er hat schon beim Aussteigen gemerkt, wie gelenkig er dadurch ist. Im Training auf der Erde hat er die alten, steifen Raumanzüge zur Genüge kennen- und hassen gelernt.
»Ich bin sehr zufrieden, ein großes Kompliment an die Entwickler«, sagt er. Dann tippt er auf die Leuchtziffern an seinem Arm. Dadurch aktiviert sich das Projektionsdisplay in seinem Helm. Die Welt wird plötzlich von Informationen überlagert. Die Fülle erschlägt ihn. Orts- und Richtungsangaben, Temperatur, Druck, Windrichtung, die Zusammensetzung des Gesteins, auf das er sieht, das ist zu viel. Er tippt noch einmal auf seinen Arm, und schrittweise verschwinden die Ziffern und Pfeile. Mehr als die Himmelsrichtung, in die er sieht, braucht er im Moment nicht zu wissen.
»Die Informationsflut im Display ist etwas übertrieben«, sagt er.
»Oh, der Anzug merkt sich deine Einstellung, keine Sorge«, antwortet Mike.
»Lance?«
Er dreht sich um. Sarah hat ihn gerufen. Ihr Kopf schaut gerade aus dem runden Loch im Dach. Die untergehende Sonne spiegelt sich in ihrem Helm, sodass er ihr Gesicht nicht erkennen kann.
»Brauchst du Hilfe?«, fragt er.
»Es geht schon.«
Ihrem Englisch ist ein leichter Akzent anzuhören. Sarah kommt aus der Schweiz. Bisher hat es noch niemand an Bord geschafft, ihren Nachnamen korrekt auszusprechen. »Jaeggli« hört sich ein bisschen an wie »Jackleen«, aber aus Sarahs Mund dann doch ganz anders. Lance zieht sie gern damit auf, dass sie so gar nicht zu den Klischees über ihr Heimatland passt. Man stelle sich doch Schwedinnen immer groß und blond vor, sie aber ist klein und dunkelhaarig. Sie klärt ihn dann darüber auf, dass sie ja auch aus der Schweiz komme und nicht aus Schweden. Für einen Amerikaner sei das eben schwer zu verstehen.
Zur Sicherheit betritt er das Dach wieder. Wer weiß, wie gut Sarah mit der ungewohnten Schwerkraft zurechtkommt?
»Seid ihr so weit?«, fragt Mike von innen.
»Sieht so aus«, sagt Lance.
»Dann bitte. Ihr wisst, wo das Werkzeug liegt.«
Das haben sie zuvor durchgespielt. Es gibt eine Art Kiste am Nordrand des Gebäudes. Er lässt Sarah den Vortritt. Ihre Muskeln zeichnen sich unter dem elastischen Material des Anzugs ab. Sie sind wirklich TV-tauglich. Er muss sich zusammenreißen. Lance hat sich geschworen, nichts mit den Kolleginnen anzufangen. Schließlich wartet seine Freundin zu Hause auf ihn. Wenn er in einem Jahr zurück ist, wollen sie Kinder. Er hat vor dem Abflug wegen der möglichen Strahlenschäden extra Sperma einfrieren lassen.
»Öffne die Kiste«, sagt Sarah.
Die Schweizerin beugt sich nach vorn. Lance sieht ihr aus drei Metern Entfernung zu. Sie löst erst links, dann rechts einen Verschluss. Dann greift sie in die Mitte und hebt eine Klappe hoch.
»Huch«, sagt sie und springt zurück.
»Was ist los?«, ruft Mike aufgeregt.
Lance läuft mit großen Schritten zu Sarah, aber da ist nichts zu sehen.
»Reingelegt«, sagt sie und lacht. »Was habt ihr denn gedacht? Dass da eine Spinne in der Kiste ist?«
Sarah hat Humor, das muss er ihr lassen. Er betrachtet die Kiste. Sie ist bis zum Rand mit Objekten gefüllt, deren Zweck sich nicht sofort erschließt.
»Danke, Sarah, jetzt hätte ich mir beinahe in die Hose gemacht«, sagt Mike über den Helmfunk.
Die Ärztin beugt sich wieder über die Kiste. Es wirkt, als wüsste sie ganz genau, was sie vorhat. Aber wahrscheinlich folgt sie einfach nur den Anweisungen auf dem Display in ihrer Helmscheibe. Sarah entnimmt der Kiste ein etwa einen Meter langes Rohr.
»Halt mal«, sagt sie und drückt es Lance in die Hand. Dann greift sie an den rechten Rand der Kiste und befördert einen rundlichen Behälter zu Tage.
»Da ist er ja«, sagt sie. »Gib mal her.«
Lance gibt ihr das Rohr zurück und Sarah steckt es an das eine Ende des Behälters.
»Dreh dich mal um«, sagt sie. Er folgt ihrer Anweisung. Sie hantiert an seinem Rucksack. Er ahnt, was sie vorhat, und tatsächlich drückt sie ihm ein Kabel in die Hand.
»Die Steckdose ist an der Seite des Behälters.«
Er sucht den schmalen Schlitz und verbindet das Kabel damit. Der primitive Staubsauger, den er in der Hand hält, bekommt nun Strom aus dem Lebenserhaltungs-Rucksack auf seinem Rücken.
»Kannst anfangen«, sagt Sarah. »Ich kümmere mich um die Messungen.«
»Klar«, antwortet er und beginnt, den Staub vom Dach der Basis zu saugen.
»Wie wäre es mit ein bisschen Licht?«, fragt Lance über den Helmfunk. Die Dämmerung schreitet schneller voran als gedacht. Wahrscheinlich liegt das an der großen Staubdichte in der Atmosphäre. Wegen der geringen Schwerkraft und des fehlenden Regens bleibt der Staub nach einem Sturm viel länger dort.
Statt einer Antwort schalten sich mehrere Leuchtstreifen entlang der Dachkanten an. Das Licht wirkt gespenstisch. Rund um die Basis ist ein heller Korridor entstanden. Im Sonnenlicht war der Staub nicht in diesem Ausmaß zu sehen gewesen. Jetzt wirkt er beinahe wie Nebel.
»Seid ihr denn bald fertig da draußen?«, fragt Mike.
»Der Frühjahrsputz ist fast fertig«, antwortet Lance. Neben ihm steht ein Eimer Wasser. Er hat bis eben Bullaugen abgewischt, nur eines liegt noch vor ihm. Er öffnet den Deckel des Eimers und Dampf quillt ihm entgegen. In der dünnen Luft, die nur ein Tausendstel der Dichte der Erdatmosphäre hat, verdunstet das im Eimer mit einer Heizspirale erwärmte Wasser sehr schnell, darum auch der Deckel. Er taucht den Schwamm ein und muss sich beeilen, damit er die Feuchtigkeit nicht verliert. Die Nässe flieht so schnell, wie Alkohol auf der Erde verdampft. Zumindest muss er das Glas so nicht trockenwischen.
Wo ist eigentlich Sarah?
»Sarah?«, ruft er.
Die Ärztin meldet sich nicht.
»Habt ihr Sarah auf dem Schirm?«
»Ja, Lance, sie ist etwa zweihundert Meter südlich deiner Position.«
Er dreht sich um und sieht in die angegebene Richtung, aber da ist niemand zu erkennen. Das Licht reicht noch etwa fünfzig Meter weit.
»Sarah?«
Keine Antwort. Muss er sich Sorgen machen?
»Habt ihr ihre Werte?«
»Aus Datenschutzgründen kann ich nicht …«
»Mike, nun mach keinen Mist.«
»Okay. Es geht ihr prima. Ihr Herzschlag ist etwas beschleunigt, aber sonst ist alles gut.«
»Macht ihr euch keine Sorgen?«
»Wir würden doch sehen, wenn etwas passiert wäre.«
»Hm«, sagt Lance. »Ich schaue trotzdem mal nach.«
Er legt den Schwamm auf den Deckel des Eimers und steht auf. Dann lässt er sich im Helmdisplay Sarahs Position anzeigen. Nach zwanzig Metern wird es so dunkel, dass er von seinen Füßen nur noch Schemen erkennt.
Er versucht es noch einmal: »Sarah? Bist du da?«
Das ist eine blöde Frage. Die Instrumente sagen es ja ganz eindeutig. Er steigert sich da wohl gerade in etwas hinein. Wie sollte seine Kollegin denn hier verlorengehen? Selbst wenn ein Staubsturm auf sie zu käme, wäre das angesichts der dünnen Atmosphäre keine echte Gefahr. Hat er etwa Angst vor kleinen grünen Männchen? Lance sieht im Helmdisplay, dass er Sarah gleich erreicht haben muss. Plötzlich taucht dicht vor ihm ein schwarzer Schatten auf. Er erschrickt, stellt aber im selbem Moment fest, dass es sich bloß um einen Felsbrocken handelt. Er sieht wohl wirklich Gespenster. Er läuft um den Brocken herum und stolpert beinahe über etwas Weiches. Es ist Sarahs Bein. Sie zieht es zurück und springt auf, sagt aber immer noch nichts. Aber sie wirkt beinahe so erschrocken wie er selbst.
»… meinen Helmfunk ausgemacht«, sagt sie atemlos, »Was ist denn los? Was machst du hier?«
»Dich suchen?«
»Aber warum denn das? Die Basis hat doch meine Vitaldaten. Oder habe ich einen Herzinfarkt erlitten, ohne es zu merken?«
»Nein, ich dachte nur … egal.«
»Du hast dir Sorgen gemacht, das ist nett«, sagt die Ärztin. »Ich wollte einfach mal allein sein. Wir haben gerade sieben Monate gemeinsam auf 40 Quadratmetern verbracht und waren vorher eine noch längere Zeit zusammen im Training, da habe ich das wirklich gebraucht.«
»Verstehe. Ich wollte dich nicht stören.«
»Nächstes Mal sage ich Bescheid.«
»Hallo ihr Turteltäubchen«, meldet sich Mike aus der Basis.
Haha, von wegen Turteltäubchen. Sarah ist dreizehn Jahre älter als er, die wird sich kaum für einen Jungspund wie ihn interessieren.
»Was ist denn los?«, fragt sie.
»Ihr solltet euch dann mal auf den Weg in die Basis machen.«
»Wieso? Wir haben doch noch fast eine Stunde? Ist gerade eine tolle Stimmung hier.«
Jetzt übertreibt sie aber, denkt Lance. Gerade ist die Anzugheizung angesprungen. Die Außentemperatur liegt inzwischen bei minus 30 Grad.
»Es sieht so aus, als bräuchte ich euch hier.«
»Wurde die TV-Zeremonie vorverlegt?«, fragt Lance. Wahrscheinlich hat kurzfristig irgendein Präsident der Teilnehmerländer dieser Mission Sonderwünsche angemeldet.
»Nein, es gibt ein Problem. Ich habe hier ein Notsignal vorliegen«, antwortet Mike.
»Und was geht uns das an?«
»Jede Menge, Lance, denn es kommt ganz aus der Nähe.«
»Die Verrückten.«
»Du hast es erraten.«