23. Mai 2042, MfA-Schiff Santa Maria
»Wirst – du – wohl – starten!«
Henrik schreit so laut, dass Ewa sich die Ohren zuhält, und schlägt dazu auf das silbern lackierte Pult vor ihm ein. Das ist schon das zweite Mal, dass dem Navigator die Nerven durchgehen. Ewa schüttelt missbilligend den Kopf, sagt aber nichts. So etwas darf normalerweise nicht passieren. Aber was ist schon normal auf diesem Flug, der von Anfang an unter keinem guten Stern stand. Dass nun bei einigen die Nerven blank liegen, ist verständlich, vor allem, weil sie gerade mal noch drei oder vier Tage Zeit haben, den Antrieb zu reparieren. Gelingt ihnen das nicht, werden sie den Mars-Orbit nicht erreichen und noch eine komplette Runde um die Sonne drehen müssen.
»Nun beruhige dich doch mal«, sagt Chuck. Der Brite, ein ehemaliger Bomberpilot, ist ihr Kommandeur. Er stellt sich hinter Henrik und legt ihm die Arme auf die Schultern. Für Ewa ist das ein seltsames Bild, denn sie kennt die beiden noch aus dem Auswahlverfahren, in dem sie sich gegen hunderte Bewerber aus aller Welt durchsetzen mussten. Henrik, der schmale, intellektuelle Holländer, hatte die Gruppe mit seiner ruhigen, überlegten Art durch viele Prüfungen gebracht. Chuck hingegen war immer wieder vorgeprescht, hatte versucht, Probleme mit der Haudrauf-Methode zu lösen und war dabei gescheitert. Aber nun ist er es, der die Mannschaft beieinander hält. Wie man sich in den Menschen doch täuschen kann! Wäre es damals nach der Gruppe gegangen, hätte Chuck den Startplatz nicht erhalten. Aber diese Entscheidung hat ein Freiwilligen-Team aus Psychologen getroffen, so wie für jeden anderen Aspekt dieser Reise Freiwillige zuständig gewesen waren.
Und das erweist sich nun mehr und mehr als Problem.
»Dieser Scheiß-Antrieb, wer hat uns den gleich aufgeschwatzt?« Henrik hat sich in seinem Sessel zu Chuck umgedreht. Aus dem Augenwinkel bemerkt Ewa, dass Piotr ebenfalls aufgestanden ist, der in dieser Schicht dritte Mann in der Kommandokapsel. Piotr stammt aus einer einflussreichen russischen Familie und hat dem Mars-für-alle-Projekt mit Hilfe von Beziehungen das Triebwerk besorgt, das sie in den Orbit und auf die Oberfläche des Mars bringen soll.
»Das bekommen wir schon noch hin«, sagt Chuck. Ewa bemerkt, dass er Piotr intensive Blicke zuwirft. Lass es gut sein, soll das wohl heißen, aber der Russe ist kein Mann, der es gut sein lässt, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt.
Piotr kommt näher. »Der Antrieb ist grundsolide«, sagt er leise. »Der Typ ist über viele Jahre erprobt. Und wir haben ihn für ein Taschengeld bekommen. Was uns die privaten Hersteller angeboten haben, hätten wir uns gar nicht leisten können. Du säßest nicht hier, wenn mein Onkel nicht jemanden gekannt hätte, der …«
»Wäre ja vielleicht besser, wenn ich nicht hier säße«, antwortet Henrik.
»Willst du zurück zu deiner Mama?«, fragt Piotr, »Klein-Henrik möchte gern im Bällebad abgeholt werden? Kaum gibt es mal ein paar Probleme, fangt ihr Westler an zu weinen. Hab ich nicht Recht, Ewa?«
Ewa sagt nichts. Sie tritt ein paar Schritte zurück, denn sie hat das Gefühl, dass es gleich zu einer Prügelei kommen wird. Wenn ihr vorher jemand gesagt hätte, dass Henrik mal die Hand gegen einen der Mitreisenden erheben würde, hätte sie nur gelacht, aber jetzt plustert sich der Holländer auf, als wolle er gleich zuschlagen. Irgendwie muss sie Piotr ja Recht geben, es scheint eine deutliche Grenze innerhalb der Crew zu verlaufen, die etwas mit dem ehemaligen Eisernen Vorhang zu tun hat. Dabei ist der nun schon seit über fünfzig Jahren Geschichte. Die Begeisterung für das spendenfinanzierte Projekt der Mars-Kolonisierung hatte diese Grenze übertüncht, aber jetzt blättert die Farbe ab und sie ist wieder erkennbar.
»Ich …«, sagt Henrik und ballt die Fäuste.
»Du? Mehr kannst du nicht?« Piotr legt es wohl wirklich drauf an.
»Aus«, mischt sich Chuck mit schneidendem Ton ein, als habe er es mit zwei kläffenden Hunden zu tun. Fehlt nur noch, dass er sie am Schlafittchen packt.
»Aus«, sagt er noch einmal.
Zu Ewas Überraschung funktioniert der Befehl.
»Blödmann!«, sagt Henrik und setzt sich wieder. Er beugt sich über die Steuerkonsole, als müsse er etwas überprüfen. Damit hat Piotr wohl nicht gerechnet. Er öffnet ein paarmal den Mund, doch ihm fällt anscheinend nichts ein. Dann dreht er sich um. Als Springer, der den Piloten oder den Kommandeur in deren Abwesenheit vertritt, ist sein Platz in der Ecke des Kommandomoduls.
»Bleibt ganz ruhig. Die Techniker haben mir hoch und heilig versprochen, dass sie den Antrieb in Gang bekommen werden«, sagt Chuck.
Nun ja. Nach Ewas bisherigen Erfahrungen sind solche Versprechen nicht allzuviel wert. Anscheinend hat das Triebwerk doch etwas zu lange in dieser alten Raumschiffwerft herumgelegen, wo es Piotrs Onkel gefunden haben will.
»Außerdem habe ich gestern die Endeavour-Expedition auf dem Mars kontaktiert. Sie wollen sich überlegen, ob und wie sie uns helfen können«, sagt Chuck. Sofort drehen sich Piotr und Henrik zu ihm um, als habe der Commander gerade eine Bombe platzen lassen.
»Du hast was?«, fragt Henrik.
»Das hast du schon richtig verstanden. Ich kommandiere dieses Schiff, also habe ich die Verantwortung.«
»Du hättest uns fragen müssen«, sagt Piotr, der wieder aufgestanden ist. »Entscheidungen, die über das Alltagsgeschäft hinausgehen, treffen wir gemeinsam, das steht in den Statuten der Stiftung.«
»Wir sind nicht mehr auf der Erde. Ihr hättet mir die Kontaktaufnahme vielleicht verboten.«
Ewa versucht, sich eine Teambesprechung vorzustellen. Wahrscheinlich hat Chuck Recht. Unter den zwanzig Menschen an Bord gibt es einige, die sehr großen Wert auf die Unabhängigkeit des MfA-Projekts legen. Das ist nicht überraschend, schließlich sind hier alle verrückt genug, die sichere Heimaterde ohne Rückflugticket zu verlassen. Manche unter ihnen haben nicht nur alle Verbindungen abgebrochen, sie haben wirklich genug von der alten Menschheit, deren Stellvertreter die internationale Marsexpedition mit der Endeavour ist. Und dann kommt dieses »wir da unten, ihr da oben« hinzu. MfA, Mars für Alle, hat sich mühsam aus Spenden finanziert, während die vier Astronauten, die vor ihnen den ersten Schritt auf den Mars gesetzt haben, aus Steuergeldern bezahlt werden.
»Das hättest du nicht tun dürfen«, sagt Piotr.
»Er hat es aber getan«, sagt Ewa. »Und was ist denn schon dabei? Es ist eine Option. Wir müssen deren Hilfe nicht annehmen. Wir können ja weiter die Sonne umkreisen und in einem Jahr erneut versuchen, in den Mars-Orbit zu kommen.«
Chuck sieht sie dankbar an. Die Bahn um die Sonne fortzusetzen, ist allerdings keine echte Alternative. Für ein weiteres Jahr reichen die Vorräte nicht.
»Und was sagen die da unten?«, fragt Henrik.
»Sie müssen erst prüfen, welche Möglichkeiten es gibt. Und es besteht ja auch noch die Chance, dass die Techniker das Triebwerk in Gang bekommen.«
Ewa hat genug gehört. Außerdem hat ihre Uhr gerade vibriert. Es ist Zeit, die Tiere zu füttern. Eigentlich ist sie zwar Chemikerin, aber bei diesem Projekt hat jeder mindestens zwei Berufe, und sie hat sich schon immer für Landwirtschaft interessiert.
»Bis nachher, Jungs«, verabschiedet sie sich. Dann schwebt sie zu der Luke, die die Kommandokapsel mit dem Rest des Raumschiffs verbindet. Ein großes Schiff wie das der NASA oder auch das Kolonieschiff von SpaceX, das ihnen folgt, konnte sich die MfA-Initiative nicht leisten. Stattdessen hat man zwei recycelte Dragon-Kapseln gekauft und als Nebenfracht ins All schießen lassen – praktischerweise bereits mit den Bauarbeitern für das finale Design an Bord. Ewa hat das damals, es muss jetzt fast drei Jahre her sein, im Fernsehen verfolgt. Die Medien hatten sie nur »die Verrückten« genannt, weil sie mit einem Minimal-Budget auf eine Reise ohne Wiederkehr gehen wollten. Aber waren dann die Siedler, die mit Mann und Maus und einer Pferdekutsche in den damals noch Wilden Westen der USA zogen, nicht ebenso verrückt? Das war den meisten ihrer Mitreisenden wie eine konstruktive Form der Verrücktheit erschienen, und die meisten denken wohl noch immer so. Immerhin hat das Schiff es nun fast bis zum Mars geschafft!
Irgendetwas sagt ihr, dass sie genug gesehen und gehört hat. Sie geht jetzt besser. Ewa öffnet die Luke zum Innenraum. Gestank schlägt ihr entgegenschlägt und verursacht eine leichte Übelkeit. Natürlich gibt es für alles einen Grund. Es stinkt nicht, weil die Crew sich nicht waschen würde. Aber sie leben seit über fünf Monaten in einer Art Ballon, der mit feuchter Luft gefüllt ist und von außen mit Weltraumkälte gekühlt wird. Zwischen den beiden kegelförmigen Dragon-Kapseln haben sie im Weltraum ein Gerüst aus einer Titanlegierung errichtet, der teuersten, die sie bezahlen konnten. Dann haben sie Stoffbahnen drum herum gelegt, wie man eine Zeltplane auf der Innenkonstruktion befestigt. Und schließlich haben sie das Ganze mit atembarer Luft aufgepumpt. Die Santa Maria ist ein riesiger Ballon, nur dass die Konstruktion nicht gleich platzt, wenn mal ein Loch entsteht. Das liegt daran, dass die flexiblen Wände wie bei einem Anorak in Kammern unterteilt sind, in die man Wasser gefüllt hat. Wasser isoliert gut vor der interplanetaren Strahlung, und bei der im All herrschenden Kälte sorgt es für Stabilität.
Auch wegen dieser abenteuerlich anmutenden Konstruktion hatten die meisten Menschen auf der Welt das Projekt für zum Scheitern verurteilt gehalten. Doch die Realität ist: Sie sind hier. Ewa schwebt durch die Luke und schließt sie hinter sich. Eine dschungelartige, heiß-feuchte Atmosphäre empfängt sie. Es ist wichtig, dass nicht zu viel von der feuchten Luft in die Kommandokapsel dringt, wo die Elektronik Schaden nehmen könnte. Auf dem langen Weg hat sich gezeigt, dass den Erbauern einiges an gebäudetechnischer Praxis fehlte. Die Lebenserhaltung ist zwar ausreichend dimensioniert, um das ausgeatmete Kohlendioxid zu Sauerstoff zu verarbeiten und das Schmutzwasser zu reinigen, doch an die großen Mengen Schwitzwasser hat niemand gedacht. Sie setzen sich als Tropfen an den Wänden ab, doch da die Schwerkraft fehlt, lösen sie sich nicht von selbst, um nach unten zu rollen und sich in Pfützen zu sammeln, wo man sie leicht aufwischen könnte. Stattdessen bilden sie mit der Zeit einen Film, der sich ausbreitet und dicker wird. Beizukommen ist ihm nur, wenn man ständig wischt, doch es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Die Freischicht, die jedes der zwanzig Crewmitglieder nach der Hauptschicht hat, ist komplett mit Putzen und Sport gefüllt. Das heißt, der Alltag besteht aus einer Hälfte Arbeit, einem Sechstel Sport und dem Rest Schlaf.
Ewa betrachtet ihre Mitreisenden. Die Psychologen haben offenbar gute Arbeit geleistet, denn obwohl es keine Privatsphäre gibt, ist es noch nicht zu Mord und Totschlag gekommen. Natürlich gibt es regelmäßig Streit. Kurz nach dem Start hatten sich schnell drei Paare zusammengefunden. Dass zehn Frauen und zehn Männer mitfliegen, ist Teil des Planes: »Mars für Alle« stellt sich vor, dass die Kolonie auf dem Roten Planeten auf natürliche Weise wächst. Aber die Beziehungen hatten nicht einmal einen Monat gehalten. Die Santa Maria ist für Pärchen nicht der beste Ort. Ob sich das in der harten Mars-Realität ändern wird?
Sie schwebt an den Kolleginnen und Kollegen vorbei nach unten; ab und zu grüßt sie. Die eine Schicht steckt in ihren Schlafsäcken, die wie dicke Fledermäuse an den Seitenwänden herunterhängen. Die anderen treiben Sport oder wischen Kondenswasser. Sie unterhalten sich leise, um die Schlafenden nicht zu stören. Die beste Erfindung, da sind sich alle einig, sind die superleichten, jeden Schall von außen absorbierenden Kopfhörer, die ein Elektronikhersteller gesponsert hat. Ein Vorteil der Schwerelosigkeit ist, dass sie kaum drücken, egal in welcher Lage man schläft – und sie funktionieren prima.
Die Tiere sind in der allerletzten Etage untergebracht, in der zweiten Raumkapsel, die den Abschluss des Ballons bildet, seinen Abfluss-Stöpsel gewissermaßen. So tragen sie zumindest nicht noch zusätzlich zu den Gerüchen in ihrem raumfahrenden Zelt bei. Tatsächlich freut sich Ewa immer auf ihre Zeit in der Kapsel. Dabei geht es ihr weniger um die Tiere, die sie mehr als ihre Aufgabe denn als ihre Lieblinge betrachtet. Aber die Klimaanlage der Kapsel hat genau die richtige Kapazität. Dadurch ist die Luft hier unten so frisch wie sonst nur in der Kommandokapsel, und gleichzeitig hat sie etwas, was an Bord sehr wertvoll ist: ihre Ruhe.
Ewa schlüpft durch die Luke in das Zoo-Modul, wie es scherzhaft genannt wird. Man hat ihnen Tiere mitgegeben, die sich leicht vermehren und die wertvolle Nahrung liefern. Dazu gehören eine Meerschweinchen-Familie, ein paar Kaninchen und Zwerghühner, die überraschend große Eier legen. Die größten Hoffnungen setzt man allerdings in die Insekten, die in eigenen Kisten wohnen. Ewa hat noch nie Angst vor den kleinen Krabblern gehabt, deshalb macht es ihr auch nichts aus, sich um die Heuschrecken und Käfer zu kümmern. Ewa öffnet die erste Kiste. Vor ihren Augen herrscht das große Krabbeln. Goldfarbene Mehlwürmer, die viel wertvolles Eiweiß enthalten, wühlen sich durch Weizenkleie. Sie muss die bereits verpuppten Tiere heraussuchen und in eine andere Kiste befördern, denn aus diesen werden schließlich Mehlkäfer, die dann wieder neue Eier für neue Würmer legen. Nach dem Start hatte es zunächst noch Beschwerden gegeben, dass ihrem Zoo die ganze Kapsel gehört. Doch als sie davor gewarnt hatte, dass ab und zu auch mal ein paar Käfer die Flucht antreten könnten, waren die Proteste verstummt. Danach war sie nicht ein einziges Mal bei ihrer Arbeit gestört worden. Ewa war überrascht gewesen, wie wenig die Schwerelosigkeit die Insekten irritierte. Ihre Produktion hätte bisher sogar schon für die ein oder andere Mahlzeit gereicht, doch niemand hatte Bedarf angemeldet. Wenigstens hatten sich die Hühner über die frische Nahrung gefreut. Sie klappt die Kiste wieder zu. Danach kümmert sie sich um die Buffalowürmer – die Larven des Getreideschimmelkäfers – und schließlich um die Heuschrecken, gern »Wüstengarnelen« genannt. Tatsächlich schmecken sie eher ein bisschen nach Huhn.
Den Hühnern geht es wie immer prima. Es gibt fast immer frische Würmer für sie, entsprechend fleißig legen sie Eier. Diese Art ist auf der Erde eher ein Bodenbewohner, aber hier flattern die Tiere fröhlich umher – die räumliche Navigationsfähigkeit scheint tief in ihnen verankert.
Für den Schluss hebt sie sich immer ihre Meerschweinchen und Kaninchen auf. Sie haben sich mit der Schwerelosigkeit nicht so gut arrangiert und purzeln manchmal als hilflose Fellbälle durch ihre Behälter. Ewa hat deshalb in ihre Terrarien mehrere niedrige Decken eingezogen, sodass eine höhlenartige Struktur entstanden ist. Seitdem hat sich der Appetit der Tiere merklich erhöht. Vorsichtig nimmt sie eines der Kaninchen auf den Arm. Es schnuppert sie freundlich an, und sie streichelt es.
»Na, wie geht es dir heute?«
Sein Fell ist glatt und glänzt und es atmet ganz ruhig. Es ist das erste Kaninchen, das an Bord geboren wurde. Sie ist gespannt, wie es nach der Landung die Schwerkraft überstehen wird.
Ein tiefes Wummern geht durch das Schiff. Das Geräusch kommt von oben, aber sie spürt es auch im Zwischenboden der Kapsel. Es klingt, als hätte jemand mehrmals hintereinander den Deckel einer riesigen Tonne zugeschlagen.