»Dreh
doch mal den Ton ab, ich werde davon noch wahnsinnig«, sagt Mike und greift sich an die Schläfen. Er hat Kopfschmerzen, und er hat viel zu wenig geschlafen nach der langen Fahrt.
Sarah reagiert und drückt einen Knopf an dem Gerät, das die Vitaldaten des Bewusstlosen aufzeichnet. Das Piepsen hört auf.
»Danke«, sagt Mike.
Andy liegt im Aufenthaltsraum auf einer Matratze, die sie mit drei Kisten auf etwa 1,20 Meter Höhe gebracht haben. Er hat eine Infusionsnadel im Arm. Sarah hat als verantwortliche Ärztin entschieden, dass er ernährt werden muss. Mit Mike und Sarah stehen noch drei weitere Menschen um das Bett herum: Ewa, die Chefin der Mars-für-Alle-Crew, Theo, der fast zu ihrem Schatten geworden ist, und Gabriella, die ebenfalls Ärztin ist.
»Könnt ihr uns sagen, was ihr gefunden habt?«, fragt Ewa.
Sarah tauscht mit Gabriella Blicke. »Fang du an«, sagt sie dann. Auf Mike macht das den Eindruck, als wären sich die beiden Ärztinnen nicht ganz einig geworden. Ihn hatten sie bei der Untersuchung nach draußen geschickt.
»Es gibt eigentlich nicht viel zu sagen«, erklärt Gabriella. »Andy geht es so weit gut. Er scheint keine organischen Schäden davongetragen zu haben. Sein Herz schlägt regelmäßig und mit voller Leistung; es gibt keinen organischen Grund, warum er nicht gleich aufstehen sollte.«
»Und warum bleibt er dann liegen?«, fragt Mike.
»Wir können nicht in seinen Kopf sehen. Unsere Vermutung ist, dass er durch eine längere Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff Schädigungen bestimmter Areale erlitten hat. Wir haben allerdings keinen Tomographen hier, mit dem wir das überprüfen könnten. Möglicherweise kann sein Gehirn die Schäden reparieren beziehungsweise die Funktion der beschädigten Gebiete auf unbeschädigte Bereiche übertragen. Wir wissen, dass das möglich ist, aber wir können nicht sagen, wie lange es dauert.«
»Und es ist auch nicht sicher?«
»Nein, Ewa, wir können nicht wissen, was sich gerade dort abspielt.« Gabriella zeigt auf Andys Stirn.
»Hört er uns, kann er uns sehen?«
»Unsere Messungen zeigen Aktivität in vielen Bereichen, das ist gut, er ist also weder hirntot noch ist die Aktivität auf das Stammhirn begrenzt. Es lässt sich allerdings keine Reaktion auf Reize von außen feststellen. Vielleicht ist ihre Weiterleitung blockiert«, erklärt Gabriella.
»Er sitzt also vielleicht lebendig in seinem eigenen Kopf und die ganze Außenwelt ist verschwunden?«, fragt Ewa. Mike wundert sich über ihr Lächeln; sicher zwingt sie sich dazu.
»Das können wir nicht ausschließen, aber es kann ebensogut sein, dass er gerade in seiner ganz eigenen Welt lebt, wie in einem Traum. Wir wissen es einfach nicht.«
»Ja«, sagt Sarah. »Wir müssen ihm Zeit lassen. Es gibt eine Chance, dass er zurückkommt.«
»Und wie hoch ist die?«, fragt Ewa.
»Statistiken helfen uns hier nicht weiter. Es ist ein individuelles Schicksal, und ich muss klar sagen: Wir wissen es nicht.«
»Kann die Erde nicht helfen?«
»Die haben wohl gerade ihre eigenen Probleme, Ewa. Angeblich gab es gestern in den USA weitläufige Stromausfälle. Sie haben die Daten an Experten weitergegeben, aber die wissen anscheinend auch nicht mehr als wir. Wäre Andy jetzt auf der Erde, könnten wir ganz genau ermitteln, in welchen Bereichen seines Gehirns es noch welche Aktivität gibt, aber das würde uns bei der Frage nach seiner Zukunft auch nicht weiterbringen.«
»Und was ist mit der Vergangenheit? Wie kam es dazu?«, fragt Ewa.
Ihr Gespräch wird auch in die Endeavour übertragen, wo sich vorübergehend die restlichen Mitglieder der MfA-Expedition aufhalten. Sie brauchen das Schiff in nächster Zeit sowieso nicht. Vor dem nächsten Start müssen sie erst wieder genug Methan als Treibstoff herstellen. Mike dreht sich zur Kamera.
»Theo und ich haben Andys Ausrüstung genauestens untersucht«, erklärt er dann. »Obwohl der Anzug technisch völlig veraltet ist, befindet er sich doch in einem sehr guten Zustand. Andys Zusammenbruch wurde jedenfalls eindeutig nicht durch einen physischen Defekt am Anschluss verursacht.«
Mike legt eine rhetorische Pause ein und wartet auf das Stichwort.
»Sondern?«, liefert Ewa den Anlass, auf den er gewartet hat.
»Durch einen Software-Fehler. Das Problem steckt in der Anzeige des Sauerstoffbehälters. Wir haben es ausprobiert. Der Behälter zeigt bereits dann eine komplette Füllung an, wenn er nur zu einem Viertel voll ist. Ihr könnt euch selbst ausrechnen, was es bedeutet, wenn sich jemand mit einem scheinbar noch für eine Stunde ausreichenden Vorrat an Atemluft zu einem kleinen Spaziergang aufmacht. Andy hatte großes Glück, er hat es gerade noch in die Schleuse geschafft. Er muss wirklich mit allerletzter Kraft hineingekrochen sein.«
»Wenn er es noch geschafft hat, warum ist er dann in diesem Zustand?«, fragt Ewa.
»Das haben wir uns auch gefragt. Wenn der Anzug keinen Sauerstoff mehr hatte, hätte er darin ersticken müssen, egal ob er sich in der Schleuse befindet oder nicht. Es ist, als ziehe man sich eine Plastiktüte über den Kopf. Andy hat es aber in letzter Sekunde geschafft, den Anschluss des Sauerstoffbehälters aus dem Anzug zu reißen. Vielleicht ist das auch beim Einsteigen in die Schleuse passiert. Ich kann mir vorstellen, dass er sich die letzten Meter auf allen Vieren geschleppt hat. Der abgerissene Schlauch hat ihm das Leben gerettet. Darüber ist aus der Schleuse gerade so viel Atemluft in seinen Helm geströmt, dass er nicht erstickt ist.«
Mike ist nicht sicher, ob Andy damit wirklich Glück hatte. Ein Happy End scheint ihm gerade sehr unwahrscheinlich.
»Da hatte er Glück im Unglück«, sagt Gabriella.
»Dann hast du nicht richtig zugehört«, antwortet Theo, und er hört sich wütend an. »Entschuldige, ich glaube, Mike hat die näheren Umstände noch gar nicht komplett berichtet. Dieser Software-Fehler ist nur in Andys Anzug zu finden. Alle Anzüge wurden jedoch vor dem Abflug auf denselben Software-Stand gebracht. Das bedeutet nicht, dass diese Software fehlerfrei sein muss. Aber wenn wir einen Fehler gefunden haben, dann muss dieser auf allen Anzügen vorhanden sein oder …«
»Oder?«, fragt Ewa.
»Oder es handelt sich um einen gezielten Anschlag. Ich werde herausfinden, wer dafür verantwortlich ist, und ich verspreche diesem Menschen, dass er dafür büßen wird«, sagt Theo. Dann dreht er sich um und verlässt den Raum.
»Sharon hat das Wort«,
sagt Mike in seiner Funktion als Commander der NASA-Basis.
»Danke. Wir müssen über die Zukunft sprechen«, sagt Sharon. Sie spricht zu einer kleinen Gruppe direkt vor ihr und zu elf anderen in der Endeavour, die per Kamera zusehen. »Dabei geht es mir vor allem um die Modalitäten unseres Zusammenlebens und eure sowie unsere Pläne für die kommende Zeit.«
Es ist natürlich nicht das erste Mal, dass sie solche Gespräche führen. Mike hat heute den ganzen Tag lang nichts anderes getan, dabei hätte er sich viel lieber hingelegt. Aber jetzt wollen sie zu einer offiziellen Lösung kommen.
»Zunächst bedanke ich mich in unser aller Namen für die Gastfreundschaft und Hilfe der NASA und ihrer Partner«, beginnt Ewa. »Ohne euch wären wir verloren gewesen. Ziel der Mars-für-Alle-Initiative war es immer, eine unabhängige Siedlung auf diesem Planeten aufzubauen, ich nenne sie absichtlich nicht Kolonie, denn eine solche sollte es nie sein. Wir haben zwar noch keinen kompletten Überblick, aber nach meiner Einschätzung gibt es keinen Anlass, dieses Ziel aufzugeben. Wir werden allerdings zeitweise Hilfe brauchen, vor allem, weil wir unseren Maschinenpark verloren haben. Deshalb scheint es mir auch sinnvoll, nicht den ursprünglich vorgesehenen Siedlungsort auf der anderen Seite des Planeten zu wählen, sondern in nicht allzu großem Abstand zu euch zu bleiben, vielleicht etwas weiter in Richtung Norden, näher an den riesigen Eisvorräten.«
»Wir werden euch mit unseren Geräten unterstützen. Mission Control hat dazu schon seine Zustimmung erteilt«, sagt Sharon.
Mike weiß, dass das nicht stimmt. Aber sie haben sich zu viert darauf geeinigt, sich über diese Anweisung hinwegzusetzen.
»Das bedeutet, dass wir den Ausbau unserer Basis nicht wie vorgesehen fortsetzen können. Wir würden jedoch zumindest das Gewächshaus gern fertigstellen. Das dürfte etwa noch acht Tage maschinelle Arbeit brauchen«, sagt Mike.
Eigenes, frisches Gemüse! Mike freut sich schon darauf. Mit den extra gezüchteten schnellwachsenden Sorten dürfte es in fünf Wochen eine erste Mahlzeit geben.
»Dann würden wir in der Zwischenzeit weiterhin gern in der Endeavour eure Gastfreundschaft in Anspruch nehmen«, sagt Ewa. »Außerdem wäre es gut, wenn wir einen offenen Zwei-Mann-Rover ausleihen könnten, um damit erste Erkundungsfahrten nach Norden zu unternehmen.«
»Gern«, antwortet Sharon. Mike ist verblüfft, wie reibungslos alles abläuft. Das ist der Vorteil, wenn man keine politischen Vorgaben beachten muss.
»Was sind eure Pläne mit dem Patienten?«, fragt Sharon.
»Ich glaube, dass er in der Basis am besten versorgt werden kann«, meint Ewa. »Ich verstehe aber, wenn ihr das als Belastung empfindet. Zur Betreuung würde ich deshalb gern Gabriella hierlassen. Wir befinden uns ja in direkter Nähe, sodass wir auf ihre ärztliche Kompetenz so lange verzichten können.«
»Das ist nachvollziehbar«, antwortet Sharon. »Gibt es denn noch etwas, was wir klären müssen?«
»Mir fällt nichts weiter ein«, sagt Ewa.
»Alles Friede, Freude, Eierkuchen?«, fragt Mike. »Gibt es denn gar nichts, worüber wir uns ein bisschen streiten könnten? Solche überaus friedvollen Gespräche lassen mich befürchten, dass vielleicht etwas ungesagt bleibt.«
»Tut mir leid, Mike, aber ich kann gerade keine Probleme erkennen«, sagt Ewa. »Aber sie werden bestimmt auftauchen, und dann reden wir wieder miteinander.«
Mike zuckt mit den Achseln. Das klingt ihm alles viel zu harmonisch. Es ist doch gar nicht möglich, dass unter insgesamt neunzehn Menschen keine Konflikte brodeln. Nun, Andy kann er abziehen, bleiben achtzehn, die mit Eifersucht, Neid, Trübsal oder Heimweh zu kämpfen haben müssten. Nichts davon kam jetzt zur Sprache. Aber vielleicht hängt das auch mit der Natur solcher offiziellen Termine zusammen. Er nimmt sich vor, öfter in der Endeavour nach dem Rechten zu sehen. Dass er dort Ewa trifft, bedeutet zusätzliche Motivation für ihn. Aber vielleicht entspringt die Konfliktarmut auch der Tatsache, dass die beiden Crews so verschiedene Perspektiven haben, denkt Mike. Die einen wollen für immer hierbleiben, die anderen sind nur für ein paar Monate zu Gast und treten dann die Rückreise an.